Herbstzeitlose ist eine Pflanzenart, ähnelt dem Krokus, kommt aber erst spät im Herbst ans Licht. Ihre Blätter treiben unter der Erde aus und kommen dann erst hervor. Zwar ist die Pflanze giftig, aber als Medizin kann sie Heilwirkung haben. Mit dem Bielefelder Tanztheater, seinem Choreografen Rainer Behr und dem gleichnamigen Stück kommt dieser Festivalname in den Leipziger Herbst. Rohheit, Gewalt, Zärtlichkeit und Mitgefühl auf der Bahn des Lebens gehen über den Boden der Peterskirche.
So wird die euro-scene Leipzig in ihrem 22. Jahrgang am 6. November beginnen. Wie hier schon gewohnt, wird umgeräumt, unter den neogotischen Gotteshaus-Himmel schiebt sich für den Eröffnungsabend ein Bühnenbild mit Altenpflege, beobachtet vom Christusportrait eines Renaissancemalers. Romeo Castelucci kommt mit seiner Societas Raffafaello Sanzio aus Cesena wieder einmal nach Leipzig. Mit dem Stück “Über das Konzept des Angesichts von Gottes Sohn” (“Sul concetto di volto nel figlio di Dio”).
Kein Leipziger Herbst ohne euro-scene
Sie hat ihre Freunde, die immer wiederkommen, die euro-scene Leipzig. In der Stadt haben sich von Anfang an Fans gefunden. Generationswechsel haben sich vollzogen. Von Beginn an geben Freistaat und Stadtverwaltung beachtliche Teile der Steuergelder für die euro-scene heraus. Punktuell hilft die Wirtschaft.
Aus der Zukunft grüßt das Jubiläum 1.000 Jahre Leipzig, im Jahr 2015. Wo ist er heute, der Ort der Weltoffenheit? Der Begegnung? Des Austauschs? Der Diskussion? Wo ist das hin? Ist es abhanden gekommen, wann und warum?
Welches Stück oder alle? Wo gehen wir hin?
Herbstzeitlose – die Metapher von der Pflanze zu den Menschen auf und vor der Bühne zeigt sich mannigfaltig. Das Kind sorgt für den Vater, der wieder zum Kind wird. (Eröffnung in der Peterskirche), Setzung und Überschreitung von Grenzen in zwei Tanzsoli aus Frankreich (LOFFT), 26 Frauen mehrerer Generationen und verschiedener Typen (“Tu mówi chór” – Hier spricht der Chor) aus Warschau kommt in die Schaubühne Lindenfels. In “Miranda” lieben sich zwei Menschen, erschaffen sich und zerstören einander (OKT aus Vilnius im Theater der Jungen Welt), eine Roma-Familie versucht im Nachkriegs-Kosovo wieder Fuß zu fassen (Quendra Multimedia, Prishtina im LOFFT), die Heil- und Giftpflanze wird mit zwei Schauspielern und drei Puppen “Jenseits von Gut und Böse” mit Kopp/Nauer/Vittinghoff aus Bern erlebbar (Theater fact).
Ein kleines Wesen versucht die Welt zu meistern – in einem geheimnisvollen Käfig. Menschen und Marionetten sind in “Dejanje brez besed” (Handlung ohne Worte) gefangen (Ab 8 Jahre, Kellertheater, Oper Leipzig). Die großen Wunder des Lebens: die ersten und letzten Momente beschreibt Familie Flöz, Berlin im Maskentheater “Infinita” (Peterskirche). Gefühl zwischen Sehnsucht und Ahnung des Fegefeuers bringen zwei Performances des “Plumes dans la tete” aus Treviso. Anne Teresa De Keersmaker bringt mit “En Atendant” aus Brüssel eine Reise ins 14. Jahrhundert (Centraltheater). Laut Festival-Programmheft ist eine Reihe von Produktionen für Zuschauer ab 12 Jahren geeignet.
Haushaltsloch
Für 2012 liegt der Festival-Haushalts-Etat bei knapp 663.000 Euro. Von der Stadt bekommt das Festival 2013 275.000 Euro, das sind 75.000 Euro mehr als sonst. Das passt zu den Ansprüchen der Stadtverwaltung, Maßstäbe von Metropolregionen anzulegen, Vergleiche Leipzigs mit Bremen und Nürnberg.
Damit zeichnet sich hoffentlich eine Trendwende ab, dass man nach Schließung der zur Oper gehörenden Ballettschule und der Einstellung der Musical-Ausbildung an der Musikhochschule bestehende Institutionen erhalten will..
Finanziell stehen der euro-scene Leipzig Probleme bevor. BMW hatte seine, von Anfang an befristete, Förderung schon um Jahre verlängert. In diesem Jahr ist das BMW Werk Leipzig letztmalig Hauptpartner der euro-scene Leipzig und hat das Festival elf Jahre mit 200.000 Euro jährlich unterstützt. Damit brechen der euro-scene Leipzig ab 2013 rund ein Drittel seines Gesamtetats weg. Die Stadt Leipzig hat ihren Beitrag ab 2013 zwar um 75.000 Euro aufgestockt und damit den Erhalt des Festivals prinzipiell gerettet. Trotzdem fehlen noch 125.000 Euro und es werden gravierende Einschränkungen erfolgen müssen, wenn sich keine Sponsoren finden. Festivaldirektorin Ann-Elisabeth Wolff hat in 50 Unternehmen vorgesprochen – das Ergebnis war, wie sie sagte, in Zahlen gesprochen, Null.
Sponsoring war keine Einbahnstraße
Die Mittel kamen bisher von der Stadt, vom Land, von BMW, internationalen Institutionen, aus eigenen Einnahmen und von kleineren Sponsoren. BMW beendet seine Förderung, die von Beginn an zeitlich befristet war und schon verlängert wurde. Eine Einbahnstraße war das nicht, denn die euro-scene nahm das Leipziger Werk auch als Festivalort ein und lieferte Specials in die Fabrik im Leipziger Norden. Zwar trug das Festival-Automobil auf euro-scene-Hellgrün schwarze Schriftzüge, warb aber auch für seine Herstellerfirma.
Um im kommenden Jahr das Festival veranstalten zu können, wird neu kalkuliert. Arbeitszeiten seien verkürzt und Gehälter gesenkt worden, verkündete die Festivalleitung.
Globalisierung und europäische Dimensionen – da wo das moderne win-win förmlich auf der Bühne steht, und es auch noch Spaß machen könnte, Gelder wieder zu sehen – da wird offenbar gemauert.
Rettungsschirm erbeten
Leipzigs euro-scene wird von einem Verein getragen, der vielleicht in der Öffentlichkeit das Jahr über zu wenig als Verein in Erscheinung tritt. Womöglich könnte da mehr passieren, in Kooperation mit dem Knut-Geißler-Manöver-Theater-Festival oder dem Figurentheaterfestival.
Ressentiments scheint es in den Stadttheater-Intendanzen gegeben zu haben, die zwar ihre Häuser mehr oder auch weniger freiwillig vermieteten, aber wohl vergessen haben, dass es internationale Gastspiele in Musik- und Sprechtheater früher öfters gab. Nicht nur Vermietungen an internationale Tournee-Produktionen mit Aufführungsserien. Damals war noch nicht die Rede von einer Bewerbung als Kulturhauptstadt und den Eintrag der Musikstadt Leipzig mit der “Notenspur” in die UNESCO-Liste des Weltkulturerbes. Internationalität braucht auf den Leipziger Bühnen einen Rettungsschirm.
In Leipzig treiben viele Büros Marketing, etliche reihen sich zwischen Burgplatz, Schillerstraße und Augustusplatz. Sie müssen sich fragen lassen, wie sie zur euro-scene stehen.
Leipziger Theaterenthusiasten werden wieder an der Abendkasse abstimmen. Und hoffentlich mit freundlicheren Ergebnissen, als in statistisch hochgerechneten Umfragen. Da schätzen die Leipziger an ihrer Stadt das Kultur- und Kunstangebot. Und eine andere Frage lautete, wo man ein Einsparpotenzial sehe: Da wurden Kunst und Kultur gleichfalls genannt. Ein statistisches Phänomen? Hat schon jemand gefragt, wo die Leipziger denn wirklich hingehen, bzw. was sie daran hindert?
Erstmals Publikumspreis
Konkret fragt nun die euro-scene ihr Publikum: “Was ist Ihr Lieblingsstück?” Und so wird es 2012 erstmals einen Publikumspreis geben. Wie üblich ist der Wettbewerb um das “Beste deutsche Tanzsolo” aller zwei Jahre vorgesehen – für 2013 steht er wieder im Plan.
Tickets kosten zwischen 15,00 Euro und 25,00 Euro, der Festivalpass 113,00 Euro und ermäßigt 98,00 EUR, außerdem gibt es Pakete mit drei oder fünf Karten oder für das Kinderstück eine Familienkarte.
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