Ein Bayreuther Teeladen wirbt per Anzeige: "Der Fliegen-tee Holländer". Gelebtes Standortmarketing im 101. Jahr der Festspiele. - "Ich bin 1981 geboren", sagte Jan-Philipp Gloger, der Regisseur der Neuinszenierung des "Fliegenden Holländer", am Premierentag zur Pressekonferenz "und ich möchte etwas zeigen aus meiner Zeit". Seine Ansichten, zeigt sich später, sind einfach strukturiert.

Fazit des Abends: Niemand wird erschreckt oder verschreckt, allerdings auch nicht überrascht. Die Darsteller haben Platz auf der Bühne, auch wenn ihnen öfters Kisten im Weg stehen oder erklettert werden müssen. Weder Beleuchtungs-Orgien noch Videowände lenken das Publikum ab. Reizüberflutung findet nicht statt. Wer sich für die Metaebene der Regie-Konzeption interessiert, kann sich am Aufführungstag in “inszenierungsbezogenen Einführungsvorträgen” die Einfälle der Regie erklären lassen.

Anders als beim Vorjahres-“Tannhäuser” in der Wartburg als Bunker, von Sebastian Baumgarten inszeniert, bleibt der Vorhang während der Ouvertüre zu. Dirigent Christian Thielemann zeigt schnell an, dass die Zeit romantisch-griesgrämiger Träumereien vorbei ist, “operette” sich, wer kann! Kurz und gekonnt präsentiert er den Sturm und lässt drumrum die Seefahrer nebst Braut in spe fröhlich auf dem sogenannten Ententeich gondeln. Aber rein musikalisch!

Packende Senta-Solistin

Adrianne Pieczonka singt und spielt ihre Senta selbstbewusst und mit kräftiger Stimme. Wenn auch der Regisseur angeblich diesen Holländer, und damit den Abend, nicht als Sentas Kopfgeburt zeigen wollte. Sie ist die Chefin der Szene, sobald sie mitmachen darf. So wären Adrianne-Senta und Dirigent Thielemann das Paar des Abends. Den Holländer liebt sie ja sowieso.

Franz.-Josef Selig gibt als Daland mächtige Töne vor. Samuel Youn gebührt alle Achtung, er war als Notfall-Ersatz nach Bayreuth geladen, sprang ein paar Tage vor der Premiere in die Endproben ein. Er wird sich gewiss als deutschsingender Holländer asiatischer Herkunft noch hinaufarbeiten. Dazu gibt es Chöre von gewohnt Bayreuther-Personalstärke. Eine ganze Hafenstadt scheint zu singen!

Unternehmer von heute

Lieber Herr Gloger, Herrn Daland und den Herrn aus Holland als heutige Unternehmer zeigen zu wollen, kann man sich ja zum Beispiel so vorstellen: Ein Reeder A. verscherbelt eine gut eingeführte Reederei an den größeren Reeder C. Alle sind glücklich. Und vor einer Insel liegt ein Schiff einer Tochter-Reederei von C auf der Seite… Fantasie beiseite. Zu sehn gibt’s so was nicht. Dort lümmelt Daland im Ruderboot und der Holländer kommt dazu, zieht aus dem Koffer-Trolley ein paar Geldbündel, und das ist dann der Kapitalismus!

Krach in Leipzig, Konzept für Bayreuth?

Als 2008 an der Oper Leipzig der “Fliegende Holländer” in einer Art Bühnenbild-Großstadtdschungel aus Miniaturhochhäusern und Schlachthof-Videos herauskam, machte das Premierenpublikum schon während der Vorstellung solchen Krawall, dass es den Orchestermusikern schwindlich geworden sein soll. Mit juristischem Nachspiel gab es eine Altersempfehlung “P 16”. Doch nach einer Hand voll Vorstellungen verlor die Opernintendanz ihr Selbstbewusstsein, und die Inszenierung verschwand kommentarlos.

Man witzelte an der Pleiße: “Das wäre ja vielleicht ein Konzept für Bayreuth?!” – Und so ähnlich, wenn auch mit anderem Regisseur, kam es nun auch.

Im Festspiel-Almanach hatte Regisseur Gloger, sonst in Mainz tätig, dem Bühnenbildner Christof Hetzer bescheinigt: “Deine Räume sind Gefühlsräume, die Aggregatzustände abbilden, ohne dass du eine historische Eben dazwischenschaltest.” – Schauen wir es uns an.
“Gefühlsräume?”

Erster Akt, spiegelglatter Boden, der kaum zur Geltung kommt, weil es anfangs finster, und er im zweiten und dritten Teil überbaut ist. Im Schlussapplaus, unterm schwebenden Vorhang werden plötzlich Lichtreflexionen sichtbar. Blanker Zufall. Hinten bühnenhohe Wände mit Lichtläufen in Röhren und Leitungen, Digital-Zahlwerke, Geflimmer. Vorn links ein Ruderboot, der Steuermann im Bug. Ein Kahn wie in Willy Deckers sonst an Ideen sparsamen “Tristan-und-Isolde”-Inszenierung an der Oper Leipzig.

Zweiter Akt mit hereingefahrenem bühnenbreitem Wagen, darauf uniform-hellblau gekleidet die Arbeiterinnen. Nein, nicht an Spinnrädern, sondern beim Fertigen, Kontrollieren, und Verpacken von Ventilatoren. Hier den sturmerfahrenen wie sturmgeängstigten Kapitänen ausgerechnet eine Ventilatorenfabrik entgegenzusetzen, ist vermutlich am Regie-Kneipen-Stammtisch ausgebrütet worden. Für eine Wagner-Kabarett-Parodie wäre es ein Brüller ….

Zu den Papp-Kartonagen schuf sich dann das Internet eine Pointe: Ein “Holländer-Artikel” in der Neuen Musik-Zeitung wurde mit Werbung einer Fabrik für Wellverpackungen dekoriert.

Regie-Ideen von gestern

Dürfen Regisseure und Szenografen anstandslos klauen, nachahmen, abkupfern, guttenbergen?

Amerikanische Filmemacher sprachen einst davon, man sende sich sogenannte “Grüße” zu. Spiegelfußboden – als Gruß zu Herheims “Parsifal”, der Orchester und Saal spiegelte? Sind die gleichkostümierten hellblauen Fabrikarbeiterinnen ein Gruß in Hans Neuenfels’ Ratten der Bayreuther “Lohengrin”-Inszenierung?

Wenn das große Reinemachen gezeigt wird, schwingt man die großen Kehraus-Besen wie in Sebastian Baumgartens “Tannhäuser”. (Wer nach dem “Holländer”-Besuch TV-Bilder der olympischen Abschlussveranstaltung sah, erblickte in London gar einen brasilianischen Straßenkehrer. So klein ist die Welt.)

Begegnen sich Senta und der Holländer, dreht sich der Fabrikboden. Ein Gruß zu Dieter Dorns früherem Bayreuther “Holländer”, in dem sich die ganz Bude von Familie Daland links anhob, vertikal hinauf und wieder hinunter drehte? (Der Holländer hatte vorher seinen Hut auf dem Stuhl abgelegt, und da blieb er auch liegen).

Statt eines Holländer-Porträtgemäldes gibt’s ein Holzmännlein, grob ausgeschnitten. So groß, wie vielleicht Norbert Balkenhols junger Wagner für das künftige Leipziger Denkmal … Luftballons in Herzform jubeln dem Idol entgegen wie auch Holzflügelchen für Senta. Und die sind wie ihr Holländer-Bild, die Kulissen rundum und die Sternschnuppen von oben allesamt rot beschmiert.
Wenn die Kisten zusammengestapelt werden, gibt es Kletterpartien für die Sänger. Wie dereinst im Leipziger “Holländer” auf Miniaturhochhäusern. Bei der Hafen-Party tragen die Chordamen jeweils separate Kleidungs-Modelle in Schwarzweiß, welches Wunder. Sektkelche werden gereicht, geworfen und klappern mit Plastikgeräuschen zu Boden. Nur das sonst so beliebte Konfetti von oben fehlt noch.

Vier Schlüsse offerierte die Regie. – Sind es die? Senta rammt sich mehrfach die Kartonfabrik-Schere in den Leib, flüchtet zum Holländer auf den Kistenstapel, der dann noch blutrot verwundet ist. Vorhang zu. Doch er geht wieder auf: Man sieht das neue Fabrik-Produkt: “Senta-Holländer-Plastiken”.

Nach der gesehenen Repertoire-Aufführung bekamen die Wagner-Werktätigen ihren Applaus. Und Senta einen riesigen. Und Christian Thielemann hielt sich wieder am Vorhang fest, reichte auch diesmal der Souffleuse die Hand, tastete dann nach dem Portal, als sei er noch unterwegs zwischen Notenlinien und Gleichgewicht. Das Regieteam ward nicht gesehen.

Illusionen anderswo

Eigentlich hatte der Bühnenbildner eine Halfpipe auf die Bühne bauen und eine Telefonzelle aufstellen wollen. Doch das passte vermutlich nicht in die “Gefühlsräume”. (In Leipzig stand so was: eine Duschkabine!) Es hätte sogar eine zweite Regiekonzeption, einen Plan B gegeben, sagte der Regisseur in einem Interview. Kann er ja noch woanders probieren.

Illusionen sind Sache von Kinofilmen geworden. Dort treiben gerade nicht nur Mythen und Außerirdische ihre Spiele, sondern auch ein lebendig gewordener Teddybär mit seinem Besitzer treiben in einem Spiel-Animationsfilm die Zuschauer generationsübergreifend in die Kinos. Aber Fantasy zu erleben, und mit eigener Fantasie Eingreifen in die Weltveränderung, funktioniert woanders, zu Hause, außerhalb von Theatern.

“Dort finden sich nur schützenswerte Minoritäten ein”, sagte der Schauspieler Klaus-Maria Brandauer in einem TV-Porträt. Aufführungen geerbter künstlerischer Werke obliegen dem jeweiligen Präsentator und seinem Künstlerteam. Es steht ihnen frei, den Künsten eventuell sogar ihre eigene Geschichte einzuräumen. Es steht ihnen in Bayreuth frei, Richard Wagner mit einer neuen Idee zu beglücken. Otto Niemeyer-Holstein, der längst tote Maler, meinte einst: “Es ist alles erlaubt, wenn es der künstlerischen Idee dient.”

Frank Castorf wird 2012 in Bayreuth seinen “RING” zaubern, Jonathan Meese einen “Parsifal” zeigen. Zwischendurch kommt mit “Tristan und Isolde” Katharina Wagner ins Festspielhaus, die gerade auf einem anderen Kontinent einen kurzgefassten “Ring des Nibelungen” auf die Bühne bringt. “Man setzt nun auf bekannte Namen”, sagte der “Parsifal”-Regisseur Herheim im Interview, “die man der Konsumentengemeinschaft präsentiert.”

Wir sind Wagner

Um den Posten des späteren Festspielleiters will sich Christian Thielemann nicht bewerben, wie er in einem Zeitungs-Interview betonte. 2015 ist der Chefsessel vakant. Ihm genüge es, mit seiner neuen Position in Dresden noch zwischen Berlin und Salzburg zu pendeln, aber der Sommer sei für Bayreuth reserviert.
Leipzig: Oper und Höfe am Brühl

Bayreuther Veranstaltungstermine zum 200. Richard-Wagner-Geburtstagsjahr 2013 liegen schon vor. Dass dann auch das neue Haus-Wahnfried-Museum geöffnet wäre, bleibt eine Hoffnung. Disponiert sind die Aufführungen der Jugendwerke Wagners in Kooperation mit der Oper Leipzig – in beiden Städten.

Richards Geburtshaus ist wieder zu sehen! An Leipzigs Brühl zeigt schon eine neue Glasfassade in grober Skizze das einstige Häuschen. Man kann träumen: “Hier gehöre es auch wieder hin!” Zunächst wird hinter der Fassade ein gewaltiger Shopping-Tempel im Herbst seine Pforten öffnen. Mag sein, dass es dann ein Mal auch Blechbläserklänge gibt, so wie zum Einruf ins Bayreuther Festspielhaus. Und im Elektronik-Markt finden wir womöglich Wagner auf DVD und CD …

Einen “Ring des Nibelungen” zu stemmen, ist ein kühnes Projekt der Oper Leipzig. Die zu spät aufwacht und nun noch warten könnte, bis der Festjahres-Krawall vorbei ist. Im benachbarten Halle/Saale fehlt nur noch die “Götterdämmerung”, im nahen Dessau wird der “RING” rückwärts erzählt, in Chemnitz und Dresden können die Inszenierungen aus dem Magazin geholt werden …

Verbote inszenieren?

Bevor die Bayreuther Aufführungen losgehen, werden nun immer Piktogramme auf den grau-braunen Hauptvorhang projiziert: Keine Fotos, keine Filme, keine Handys. So was gehört, wenn es denn sein muss, eigentlich unikat inszeniert. Hinterm Festspielhaus haben sich die Parkplätze verändert. Früher wurde auf Schotter und mit Hilfe von Ordnern diszipliniert eingeparkt. Markierte Parkordnung auf Asphalt bedeutete nun hundert Parkplätze weniger, sagt einer der Parkplatzposten.

“Wir sind Wagner”, wirbt Bayreuth, und “Da steckt Wagner drin!” Schöne Fahnen für’s Geschäft nächstes Jahr! Neben der Festspiel-Gastronomie gibt es noch andere, kleine, feine Offerten. Nicht ohne Dramatik. Im “Bürgerreuth”-Gartenanlagenkiosk, mit Luftbad und Kneipp-Becken hinter der Hecke, ist nur zur ersten Pause geöffnet. Weiter unten, Mohren-Bräu, was mal für mehrere Generationen der kleine-Leute-Wagnerianer-Treff namens “Kropf” und “Kropfs Biergärtla” war, ist erst ab 17:00 Uhr auf. Da herrscht man auch mal die Leute auf Speisekartennachfrage an: “Eigentlich Ruhetag! Wir haben nur für Euch überhaupt geöffnet.” Irgendwann muss ja der Geschäftsstress auch ein Ende haben!

Der Metzgermeister-Hotelier ein paar Dörfer weiter resümiert die Resonanz der beherbergten Festspielgäste: “Dieses Jahr war schon sehr lustig! Man geht mit gespaltenem Kopf hin, man weiß schon etwas, und hofft dann, dass es doch nicht so kommt.” Vielleicht sagt er das jedes Jahr so. Übernachtet man in einer kleinen Pension, 20 Kilometer vor Bayreuth gelegen, erfährt man, dass dort “Leipzig” mit einem “B” geschrieben wird.

Szenenfotos zu dieser, anderen Bayreuther Inszenierung, Namen und Termine von Richard-Wagner-Werken weltweit:
www.richard-wagner-werkstatt.com

Szenenfotos zu dieser und anderen Bayreuther Inszenierungen, Namen und Termine von Richard-Wagner-Werken weltweit:
www.richard-wagner-werkstatt.com

Mehr Wagner hören:
Wagners Vision. Das Bayreuther Vermächtnis. 50 CD-Set. Repräsentative historische Aufnahmen aus Bayreuth seit 1904.

Mehr Wagner lesen:
Victor Henle: Richard Wagners Wörter – Lexikon. Archaismen, Gegenstände, Menschliches, Orte, Protagonisten. Keyser Verlag, Berlin – München.

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