Hamlet ist der berühmteste Däne. Zum Welttheater gemacht durch den Engländer Shakespeare. Hamlet muss sein. Hamlet kennen alle. Wirklich? Man mache eine Umfrage nach den Figuren, dem Grundvorgang und dem Ausgang des Stücks ... Na klar, alles Wissen steht abrufbar im Internet, und für kluges Zitieren gibt es einen "Lektüreschlüssel". Das ist das Sein!

Aber der Vers 6 besagt erst einmal : “Die Zeit ist aus den Fugen.” Auf der Hinterbühne des Leipziger Centraltheaters ist der Spielraum überschaubar, und die Akteure trachten ihn lauthals zu erobern. Es sieht wie bei einer fahrenden Schauspieltruppe aus, Schminktische stehen bereit, Kostüm-Mengen sind in große Plastik-Säcke gestopft, in denen sonst Baggeraushub, ja, auch Mutterboden, abtransportiert wird. Doch nein, das Theater auf dem Theater findet so nicht statt.

Kunstvoll-befremdlich kriechen Darsteller aus den Textilien-Säcken und es geht ohne eindeutigen Auftakt irgendwie los. Sechs Darsteller arbeiten sich an diesem improvisierten “Hamlet” ab, als ob sich eine freie Gruppe im Sommerurlaub ein Szenenstudium verbogen hat. Da kommt dann noch ein bissl Video dazu, und Klangteppich aus den Boxen. Dunkgel-grau-schwarze Kleidung reicht, in der Shakespearschen-Theaterszene trägt das Publikum wallende Kragen und bunte Roben. Da werden die Theaterschneider gefeiert haben!

Um es vorwegzunehmen: diese Reduktion von allem optisch-opulentem Theaterzauber braucht am Ende auch drei Stunden! Man ahnt förmlich Shakespeares himmlisches Lachen.
Es gilt nicht das geschriebene Wort, zumindest nicht das Shakespeares, egal aus welcher Übersetzung. Regisseur Sascha Hawemann zeichnet im Centraltheater seinen neuen “Hamlet”. Freilich darf jeder Regisseur die Maßstäbe eines Stückes neu setzen. Und sich dann befragen lassen, ob er beim Thema geblieben ist. In Sascha Hawemanns “Hamlet, Vers 6” kommt – wie bei Shakespeare – einfach immer nur wieder irgendwas dazwischen. Ein Aufrührer ist dieser Hamlet nicht, der um seinen Vater trauert. Sondern ein von den bedachten Eltern sorgsam verzogener Volltrottel, der mühsam begreift, dass es Plan war, wie sein Onkel zu Klein-Hammis Mutti Gertrud kommt. Weinerlich und nackt wird er später in ihrem Schoß Trost suchen.

Hamlets Vaters Grab ist immer anwesend, Erde zu Erde, Staub zu Staub stiebt dauernd durch die Gegend. Schwarzen Totengräber-Galgenhumor gibt’s hier keinen. Auf der Hinterbühne wird nicht etwa Kammertheater geboten, als Intimität mit den Zuschaueraugen, eine Art Alternative zur großen Rampe, sondern volle Pulle gearbeitet, um nicht zu sagen spielt. Es wird viel gebrüllt, meistens dann, wenn es kommunikativ gar nicht nötig wäre. Was aber weiß der Regisseur von den natürlichen Gegebenheiten und gesunden Stimmen?

Hamlet, bis auf seinen Einstieg mit dem Hass auf alle, die seines Vaters Tod so schnell vergessen konnten, kann später kaum zusammenhängend reden, reißt sich die Kleider vom Leib, wenn er sich von Mutter trösten lässt.
Protagonist, Titel- oder Leitfigur ist hier nicht Hamlet – sondern Claudius, der Mörder und Ursupator. Er weiß, die Zeit war aus den Fugen. Nun schafft er Ordnung. Er setzt um 19:30 Uhr das Zeichen, dass hier noch gar nichts beginnt. Er wird später den Aufbruch ausrufen, wenn seine Macht längst unbegrenzt ist.

Handlung ist hier mehr Behandlung von allerlei Dingen und Requisiten und den anderen Figuren. Rosenkranz und Güldenstern sind liebevoll in Ringelpullover gekleidet, damit sie sich von den Doppelrollen abheben. (Fern ist die Version zu ahnen, in der “Rosi und Gül” das ganze Drama erzählten.) Leider misstraut der Regisseur der Schauspielkunst. Wenn es auf der Bühne zwischen Personen knistern könnte, ertönt austauschbare Musik, teils mit Geräuschteppich aus den Boxen.

Klar, wird irgendwann auch noch etwas mit Videotechnik auf die Wand verdoppelt. Links außen flimmern schwarzweiße Bilder von “Hamlet”-Inszenierungen in der Sowjetunion über den Fernseher, pardon den Telewisor.
Als moralische Anstalt und damit jeder Bescheid weiß, setzt sich ein Darsteller die kluge Dramaturgenbrille auf und predigt die Moral der Bearbeitung des Stücks. Für alle, die die Karteikarte nicht schon in der Kassenhalle abgegriffen haben. Zwar könnte das ein Ende sein, doch es geht noch eine halbe Stunde weiter. “Das ist der Hamlet von Beckett!”, heißt es zum Darsteller unterm Kostümstapel.

Gekürzt und doch drei Stunden lang

Aber “Hamlet” gekürzt, gestrafft und mit Effekten beladen, dauert bei Sascha Hawemann auch seine drei Stunden. Entweder ist Langeweile ein Anzeichen dafür, dass etwas nicht Kunst ist. Meint Brecht. Oder: Wenn es langweilig war, muss es Kunst gewesen sein. So heute zu hören.

Bearbeitungen alter Stücke machen sowieso Sinn, weil sich die Parodisten für ihre Versionen dann Tantiemen auszahlen lassen.

Hamlet rennt am Ende mit Beinschlaufen an den Waden über die Bühne, bis er hinaufgezogen wird in den Bühnenhimmel des Leipziger Centraltheaters. Liebevoll lassen ihn erstens die Kollegen dann wieder herunter und zweitens laufen. Bei dieser Repertoirevorstellung zumindest. Viel Applaus vom jugendlichen Publikum. Einige aus der “Generation Bierflasche” holten schon in der ersten Dunkelheit ihre Nuckelpullen aus den Rucksäcken.
“Hamlet” geht auch kurz, laut Christian Eckl, Jahrgang 1963, nur: “Verschwörungen, die aufgeklärt / muss folgen Strafe auf dem Fuße, / wer zögernd Rache hier verwehrt, gibt bald sein Leben selbst zur Buße.”
Endlich wieder “Hamlet”, vor 11 Jahren war die letzte Leipziger Premiere. Eine Woche nach dem 11. September, Hamlet-Darsteller Sylvester Groth war so sehr seiner Kunst verhaftet, dass er in einem TV-Interview partout keinen Bezug von Stück, Rolle und Darsteller zum New Yorker Ereignis ziehen konnte. Michael-Sylvester Groth, ein Leipziger Kind, früh schon radiowerktätig im Kindersprecherensemble im Funkhaus Springerstraße, ein blasser, aber text- und wortgewaltiger Hamlet, schon etwas angejahrt, spielte einen Hamlet wie hängengeblieben in den Strukturen seiner Zeit. Zu Wolfgang Engels Intendantenzeit gab es diese Version im Betonbunker mit Kostümkleiderstange, an der sich die Darsteller bedienen. Nun hängen die Klamotten auch wieder an einzelhandelsüblichen Stangen bereit.

Noch vor 1989 gab es eine Inszenierung von Karl Georg Kayser, mit der das Schauspielhaus Anfang der 90er durch den Westen tourte, dort vielleicht mehr bejubelt als zu Hause, da die Leipziger gerade andere Probleme hatten und kapitalistische Lebenskunst studierten.

Zwischendurch gab es in Leipzig im Theater der Jungen Welt eine Marion-Firlus-Inszenierung mit vielen Darstellern und auf großer Spielfläche, und noch einen “Hamlet weiblich” im Theater fact, der stringent und auf dem Schachbrett die Geschichte klar legte. Keine zwei Stunden lang, durchweg unter Hochspannung, teils mit Slapstick: Ophelia als verkleideter Hamlet. Und manches Damenherz schwelgt noch von Friedhelm Eberles “Hamlet” in den 1970ern…
Leipziger Theatergängern erscheinen Parallelwelten. Sind es Grüße an vergangene Inszenierungen, kann man dem Regisseur diese Art von Tradition überhaupt zurechnen: Erde auf der Bühne gab es zur Genüge, eine ganze “Hermannsschlacht” lang, unter und in einer Badewanne spielten schon Baal und Ekart, und der jetzige Hamlet sieht dem einstigen Baal-Darsteller Matthias Brenner sehr ähnlich! Überhaupt agieren Figuren, wenn sie schon mal mit den Kollegen spielen, wie in der gekünstelten Realität von Konstanze Lauterbach. Oder haben sich die Artefakte der Regie-Ideen nur eingeholt? Aller 15 bis 20 Jahre soll das angeblich der Fall sein.

Einst wurden Bühnenkünstler gerügt, weil sie Hamlet im Frack auftreten ließen, der zu Shakespeares Zeiten noch nicht erfunden war. Zum Glück ist das vorbei. “Würdest Du heute Schauspieler werden wollen?”, fragte eine Dame im Publikum ihren Nachbarn. Er schüttelte den Kopf.
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