Henrik Ibsens "Gespenster" handelt vom Zerfall einer Familie. Aber auch von Dingen, die nicht tot zu kriegen sind, die die Menschen tief in sich verbuddelt haben. Von Verdrängtem, fast Vergessenem, Überholtem. Robert Borgmann erzählt die Ibsen'sche Novelle auf der Hinterbühne des Centraltheaters als spannenden Gothic-Thriller. Das Premieren-Publikum spendete reichlich Applaus.

“Ich muss raus in die Freiheit”, sagt Protagonistin Helene Alving zu Pastor Manders. Das ungleiche Paar trifft sich in Alvings guter Stube. Hier steht ein Sofa, dort sein Sessel, in der Ecke ein Ofen und auf dem Boden breitet sich ein Perserteppich aus.

Der spießbürgerliche Schein trügt. Die Figuren sind innerlich so zerkratzt wie die schäbigen Fenster. Helene’s Gatte ist jüngst verstorben, sie hat zu seinen Ehren soeben ein Kinderasyl errichten lassen. Die Freiheit, das ist für die leichenblasse Frau im schwarzen viktorianischem Outfit alles fernab des heimischen Herds. Pastor Landers – stockkonservativ, geschäftstüchtig, alkoholkrank – scheint hinsichtlich des Asyls dagegen seine ganz eigenen Pläne zu verfolgen. Das emanzipierte Betragen Helenes scheint ihm ganz und gar gegen den Strich zu gehen.

Daran ändert auch die Heimkehr ihres Osvald nichts. Der Künstler lebte in Rom und Paris, bis ihm die Ärzte eine tödliche Diagnose stellten. Kaum im Elternhaus angekommen, verguckt er sich in Regine. Eine Liebschaft, die Helene um jeden Preis verhindern muss. Schließlich sind beide – ohne es zu ahnen – Geschwister. Werden ihr der Pastor und Regines Stiefvater, Tischler Engstrand, helfen?Irgendwie ist nichts so, wie es anfangs scheint. Robert Borgmann bedient sich in seiner Inszenierung eines genialen Kniffs. Er legt gleich mit dem zweiten Akt los. Also ab dem Moment, an dem die Konflikte eskalieren. Aus dem aufklärerischen Drama wird auf diese Weise ein fesselnder Psychothriller.

Den setzt der Regisseur in einem finsteren Gothic-Ambiente in Szene. Die Figuren sind alle leichenblass geschminkt. Abgesehen von Osvald könnten sie in ihren pechschwarzen Kostümen allesamt zu früh angereiste WGT-Besucher sein. Nur der verloren geglaubte Sohn darf weiß tragen. Vielleicht weil er der einzige Lichtblick in einem Nebel voller Wirrungen und dörflicher Intrigen ist?

Retten kann er freilich nichts, erweist er sich doch mithin als das größte Problem. Ein Anfall noch, und er fristet den Rest seines Lebens als Schwachsinniger vor sich hin. “Ich habe nie ein ausschweifendes Leben geführt”, entschuldigt er bei seiner Mutter für seinen furchtbaren Zustand, um sogleich über Regines Schönheit zu sinnieren. Bei der Aussicht auf Inzest in der Familie kein Wunder, dass die gute Frau – hervorragend gespielt von Janine Kreß – überall Gespenster sieht. Regine erträgt ihr Los, bei Alvings das Tischmädchen zu spielen, gelassen – bis sie erfährt, dass sie das Resultat einer Affäre des Verstorbenen sei. Plötzlich wird die Frau garstig. Schauspielerin Linda Pöppel fährt förmlich aus ihrer Haut, als sie Helene im dritten Akt wiederholt ankeift: “Wo ist mein Baum?” Hier geht es längst nicht mehr um die Sache (ein verkommenes Bäumchen im Wohnzimmer), sondern ums Prinzip.

Unterhaltsam auch Hagen Oechel, der Tischler Engstrand spielt. Als ihm während des zweiten Akts im Wortduell mit Pastor Manders (Thomas Lawinky) der angeklebte Bart abfällt, verlässt er verdattert kurz seine Rolle und treibt Späße mit seinem Gegenüber. Ein herrlicher, wenn auch ungeplanter Gag. Marek Harloff liefert die mithin beste Leistung des Abends ab. Wenn er sich als Osvald auf der psychologischen Ebene mit Mutter Helene bekriegt, zieht er das gesamte Publikum in seinen Bann.

Rund zweieinhalb Stunden dauert der Abend, der den Ibsen-Text – abgesehen von seiner Reihenfolge – ohne größere Aussparungen wiedergibt. Nach der Pause nimmt das Publikum im großen Saal Platz, schaut nun mit Distanz auf das Geschehen. Auch das ist man von Borgmann schon gewohnt. Durch die vergitterten Wohnzimmerscheiben erfährt der Zuschauer, wie sich der Konflikt, der eben eskaliert ist, langsam an die Figuren heranschleicht, blitzartig über sie herfällt. Eine spannende Analyse, die ohne das vorher Gesehene nicht möglich wäre.


Weitere Vorstellungen am 10. und 22. März sowie am 14. und 20. April jeweils um 19.30 Uhr in der Hinterbühne des Centraltheaters. Karten gibt es für 18,60 und 13,10 Euro (ermäßigt)

Centraltheater Online:

www.centraltheater-leipzig.de

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