Vom 26. September bis 2. Oktober 2022 nutzten gleich mehrere exzellente Solisten und Musikensembles aus Mitteldeutschland die Gelegenheit, unter Leitung von Michael Schönheit im Merseburger Dom ein Werk einzuspielen, das selten genug auf den Spielplänen steht: Franz Liszts Oratorium „Christus“, das im Wesentlichen 1855 bei einem Romaufenthalt von Franz Liszt (1811–1886) im Kloster Madonna del Rosario entstand. Es atmet den Geist seiner Zeit. Und der Zeit gemäß sollte es auch eingespielt werden.

Weshalb für diese Aufnahme ganz bewusst der Merseburger Dom ausgewählt wurde, den Liszt mehrfach besuchte, und in dem auch die Ladegast-Orgel zur Verfügung steht, die Liszt ebenfalls noch kannte und schätzte. Sodass man mit dieser Doppel-CD einen Klangeindruck bekommen kann, wie sich das Oratorium bei seiner Uraufführung im Jahre 1873 tatsächlich angehört haben könnte.

Wozu auch der Einsatz historischer Instrumente gehört, die in diesem Fall die Merseburger Hofmusik eingebracht hat. An der Orgel ist Denny Wilke zu erleben. Für die großen, aufwühlenden Chöre sorgen der Philharmonische Chor Dresden und das Collegium Vocale Leipzig – allein schon an der Besetzung merkt man: Das ist ein großes Werk, in das man eintauchen kann wie in einen Film.

Wobei die Assoziation mit großen Filmmusiken gar nicht so abwegig ist – ganz abgesehen von der Vorliebe vieler Regisseure des 20. Jahrhunderts für die dramatische Musikführung im späten Jahrhundert zuvor.

Das auch eine Zeit war, in der sich das Musikerleben in Europa hörbar dramatisierte. Und damit auch die Auffassung davon, wie eben auch religiöse Themen in Musik zu setzen waren. Die Musik der Romantik hatte dazu die nötigen Vorarbeiten geleistet, auf denen auch Liszt aufbauen konnte, dem in seinem „Christus“-Oratorium im Grunde gelingt, die historische Klangtraditionen der Kirche (es gibt faszinierende Variationen der Gregorianik) mit einem Gefühl für moderne Dramatik zu verbinden. Oder wie Michael Schönheit Liszts Komposition beschreibt: „Zugleich dramatisch und heilig, prachtentfaltend und einfach“.

Ein Menschenschicksal

Denn Liszt erzählt hier ja die wichtigsten Stationen der Christus-Geschichte von der Weihnachtsgeschichte über den Einzug in Jerusalem bis zur Auferstehung. Ein Menschenschicksal, wie es die Zuhörer des 19. Jahrhunderts ja alle in- und auswendig kannten. Und wie es auch heutige Konzertbesucher in groben Zügen noch kennen und wiedererkennen.

Nur macht Liszts musikalische Verarbeitung eben auch deutlich, dass sich der Blick des Menschen im 19. Jahrhundert auf die Lebens- und Leidensgeschichte Christi gegenüber etwa Johann Sebastian Bach schon deutlich verändert hatte. Es ist ein wesentlich irdischerer Christus, der hier sein Schicksal auf sich nimmt – selbstgewählt, wie es dem Verständnis des 19. Jahrhunderts entspricht: ein Herausforderer, der sich vor den Folgen seiner Entscheidungen nicht fürchtet.

Und so strahlen auch die Solistinnen und Solisten in Liszts Arrangement ganz und gar nicht mehr die Demut früherer Jahrhunderte aus – auch wenn sie mitleiden mit ihrem Helden, dessen Mut sie selbst ermutigt. Mit Susanne Bernhard, Kathrin Göring, Hugo Mallet und Tobias Berndt wurden vier Sängerinnen und Sänger gefunden, die diese herausfordernden Soli darbieten, als gelte es die Welt in die Arme zu nehmen.

Tiefste Trauer trifft auf glockenhelle Zuversicht. Hörbar wird, wie Liszt selbst hin- und hergerissen gewesen sein muss zwischen den passagenweise natürlich zutiefst traurigen und schmerzvollen Ereignissen und seinem Wunsch, sich trotzdem nicht überwältigen zu lassen. Mitten aus der Trauer drängt das Zuversichtliche, wird aus dem „Halleluja“ ein herausforderndes Behaupten: Das ist nicht das Ende. Wir lassen uns nicht niederdrücken.

Die Feier des Menschseins

Und wer sich hineinhört in diese über zweieinhalb Stunden Christus-Geschichte, der hat sowieso schon miterlebt, dass das ganze Leben Christi voller Dramatik ist, Höhen und Tiefen.

Jene Dramatik, die Michael Schönheit meint und welche die Zuhörer ganz und gar nicht auf das große Finale warten, sondern auch schon in der erzählten Christus-Geschichte immer wieder mitfiebern lässt, wenn sich die Ereignisse zuspitzen und der Chor zu einem mitreißenden Hosianna anstimmt.

Auf einmal ist das keine ferne Geschichte mehr aus einem mythischen Heiligen Land, sondern unser Leben hier und jetzt. Ist dieser suchende, zagende, triumphierende Christus auf seinem Lebensweg einer wie wir – eingebettet in den Chor derer, die ihn tragen und begleiten und nie wirklich allein lassen.

Vielleicht die allergrößte Sehnsucht unserer von Wettbewerb und Ellenbogen besessenen Welt: Dass all das, was wir tun und uns wagen, nicht unbemerkt bleibt. Dass es immer eine Gemeinschaft gibt, die uns trägt und versteht. Das Aufgehobensein des suchenden Menschen in einer oft genug gnadenlosen Welt.

Nur eine Interpretation? Vielleicht. Aber vielleicht dem tatsächlich nah, wie Liszt im Kloster zu Rom sich dieser bekanntesten aller Geschichten tatsächlich annäherte und sich dabei selber mitreißen ließ, das ganze Leben mit seinen dramatischen Turbulenzen hineinkomponierte und damit möglicherweise selbst die Erwartungen seiner Zeit sprengt.

Denn dieses Oratorium ist eigentlich die pure Feier des Menschseins. Von der umwerfenden Fülle dieser Chöre ganz zu schweigen, der Klangraum des Merseburger Doms tut sein Übriges dazu. Wer danach noch traurig ist, ist es auf ganz andere, fast enthusiastische Weise.

Franz Liszt „Christus“, Oratorium für Soli, Chor, Orchester und Orgel, Rondeau Production, Leipzig 2024, CD ROP626061, EAN code 4037408062602.

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