Das Beste an der Leipziger Band 100 Kilo Herz ist die Trompete von Flecki. Und sind die Texte. Und die Wut in diesem Punkrock aus Leipzig. 100 Kilo Herz kann laut sein. Und Rodi kann ganz schön wütend sein, wenn er singt. Und trotzdem erinnert Fleckis Trompete daran, dass die Lieder auf der neuen Scheibe, die 100 Kilo Herz 2022 und 2023 in Neuss aufgenommen hat, auch zutiefst melancholisch sind. Wahrscheinlich genau das, was man eine richtige Leipziger Mischung nennen darf.
Weil Leipzig eben auch genau das ist: Eine Stadt, in der man sich selbst dann, wenn man sich zu Hause fühlt, fremd fühlen kann. Als müsste man gleich morgen den Rucksack packen, um sich endlich auf den Weg nach Hause zu machen.
Was ja nur zu logisch ist in so einer Stadt, in der junge Leute in den verschiedensten Stationen ihres Lebens landen und versuchen, irgendetwas aus ihrem Leben zu machen. Hier ist man nicht „verwurzelt“, schwadroniert nicht von Heimat und verwechselt das gar mit provinzieller Engstirnigkeit. Hier spürt man, dass sich die Dinge permanent verändern und Unsicherheit zum Leben gehört.
Und dieses Leben kann einen heftig beuteln und niederschlagen. Im Grunde könnte man die Widmungen im Booklet (das eigentlich eine eigene Lyrikmappe ist), so zusammenfassen: „Zurück nach Hause“ ist allen Menschen gewidmet, die das Gefühl nicht losgeworden sind, dass das noch nicht alles war.
Du und die anderen
Dabei ist jeder einzelne Song von 100 Kilo Herz ganz besonderen Menschen gewidmet – jenen Menschen, von denen er auch singt. Oder genauer: die er anspricht. Denn das sind keine Lieder irgendwie über Großstadtmenschen. Und auch keine dieser beliebigen Songs über das ach so verletzliche Feeling der im Großstadtleben Gestrandeten. Jeder Song pickt sich im Grunde einen anderen dieser oft nur zu fremden Mitmenschen heraus und singt ihn an, spricht ihn mit Du an und ist letztlich einfühlsamer Versuch, den Anderen aus seiner Einsamkeit zu holen.
Was natürlich nur klappt, wenn Texter und Sänger dieselben Gefühle kennen. So wie es zum Beispiel gleich in „Licht aus“ losgeht mit „Der Tag war schon beschissen / Und die Nacht reißt das auch nicht mehr raus …“ Der Schnaps aber auch nicht. Denn den anderen dazu zu ermuntern, es doch noch einmal zu versuchen, kann man nur, wenn man auch sein Knockout akzeptiert.
Das auch jene erwischen kann, die sich Tag und Nacht für andere aufreiben, in Schichten verschleißen: „Du bist seit 17 Stunden wach / Dank Kippen und Kaffee …“
Die Lieder schildern kein Milieu, sondern einen Kosmos. Einen, in dem sich das Publikum wiedererkennen darf. Kinder, die durch die Familienhölle gegangen sind, wütende Kinder, die, die sich mit dem Lügen und Angstmachen nicht abfinden wollen, Menschen, die diskriminiert und behindert werden, oder auch all die, die sich im „Fressen und Funktionieren“ das Leben wegsaufen. Was dann schon fast wie eine wütende Anklage klingt, die es wohl auch ist: „Und das nennt ihr dann Leben / Dieses Atmen, Fressen und Funktionieren …“
Gar nichts ist gut
Man merkt schon: Die Band will niemanden bedudeln. Sie rührt an etwas, was scheinbar nicht mehr gefragt ist, weil es im Katalog kein Preisschild hat: unbedingte Menschlichkeit, Mitgefühl, Verständnis füreinander und gerade für die, die sich jeden Tag für die anderen bemühen, abrackern, und doch weder Lob noch Dank bekommen. So eine kleine Erinnerung an die Frühzeit der Corona-Pandemie wird wach mit dieser lächerlichen Geste, als die Leute auf die Balkone gingen und für die Pflegekräfte klatschten, die in der Pandemie die Hauptlast zu tragen hatten. Dieser Unverschämtheit.
Denn an den Arbeitsbedingungen der Pflegekräfte hat sich auch über drei Jahre später nichts geändert.
Und sie sind nicht die einzigen, die sich in einem Lied wie „Spiegel“ wiedererkennen dürften: „Du kümmerst dich jeden Tag / Um die anderen / Aber nie um dich selbst / Nie um dich …“
Sie sind überall um uns herum und sorgen dafür, dass die Dinge funktionieren, dass es den Kindern gut geht, den Schülern, den alten Menschen, den Patienten … die ihr Lächeln seit Jahren tragen, ihre Trauer aber nicht zeigen. „Alles ist gut.“
Gar nichts ist gut. Partnerschaften scheitern. Sogar hier. Man begegnet sich, schreibt den Namen der anderen in sein Herz – und dann schmeißen wir mit Steinen das Fenster unseres Zuhauses ein. In der großen Stadt merkt man viel schmerzlicher, wenn etwas kaputtgeht und das Feuer verglüht. So wie in „Lichter an“. Nur dass es hier die Lichter deranderen sind. Ein Lied, das 100 Kilo Herz allen gewidmet hat, „die zur falschen Zeit am falschen Ort gelandet sind“. Womit der Kreis sich rundet.
Verloren im Weltall?
Denn wer einmal aufgebrochen ist und hier gestrandet, der kann nicht wirklich mehr zurück. Der muss auch lernen, dass es ihn manchmal aus der Bahn wirft und manchmal aussetzt mitten in eine Stimmung, als hätte es einen auf einen völlig fremden Planeten verschlagen. Aber das Zuhause, das hier im Titel der Platte steht, ist eben nicht mehr der Ort, von dem man vor Urzeiten einmal aufgebrochen ist. Dieses Zuhause muss man sich selbst suchen. Also wieder aufstehen, die steifen Glieder strecken, den Rucksack schnappen und es noch einmal versuchen. Denn das ist Leben. Nicht aufgeben. Oder mit 100 Kilo Herz: „Ihr findet euren Platz.“
Und das dann mit rockiger Wucht gesungen. Da dürfte manch Nachbar empört mit dem Besen an die Zimmerdecke klopfen. Aber vielleicht ist es besser, einfach mal herunterzugehen und sich bekannt zu machen. Man weiß nie wirklich, wer in so einer Stadt wirklich der Typ ist, bei dem man merkt, dass er einen wenigstens so nimmt, wie man ist. Es wird sehr persönlich in jedem Lied.
Auch wenn 100 Kilo Herz etwas anderes noch betont: „Das aber, was folgt, ist keine 90-minütige Zerstreuung, sondern ungeschönte Gesellschaftskritik und die Auseinandersetzung mit dem Selbst. 12 Songs in gewohnt punkiger, rockiger Manier, untersetzt mit Saxophon und Trompete, erzählen von ganz offensichtlichen sozialen Schwachstellen und den Themen unter der Oberfläche.“
Kleine Bilanz
„Zurück nach Hause“ heißt die inzwischen dritte Platte der Leipziger Band, die seit 2016 Punkrock mit klassischen Blasinstrumenten paart. Während das erste Album von 100 Kilo Herz, „Weit weg von zu Hause“, Geschichten erzählte vom Aufwachsen auf dem Dorf, von Sehnsucht, vom Kampf gegen bestehende Strukturen, führte die zweite Platte „Stadt, Land, Flucht“ in die große Stadt, wurde politischer. Mit „Zurück nach Hause“ schließt sich beides zusammen, sowohl der Blick in die Vergangenheit, ins Innere als auch ins Weltliche. Wo ist jemandes Zuhause und was bedeutet das?
„Für mich hat das Album eine klare Zweiteilung“, erzählt Sänger Rodi. „Am Anfang stehen die politischen Themen, es geht um den Pflegenotstand, um Themen wie häusliche Gewalt.“
Der Titel „Keine Zeit für Angst“, zu welchem die Band Nicholas Müller von Jupiter Jones mit ins Boot geholt hat, orientiert sich an aktuellen Ereignissen, beschreibt die Wut über das neuerliche Erstarken der rechten Szene in Deutschland. Fassungslosigkeit über rechte Parolen in Parlamenten und scheinbar ‚normale Bürger/-innen‘, die auf der Straße den Zusammenschluss mit Nazis tolerieren. Der Song ist eine Kampfansage an herrschende Zustände und verlangt Mut und Empörung, um sich dem entgegenzustellen.
Record Release am 16. September
„Zurück nach Hause“ erscheint am 1. September 2023 unter dem Berliner Label Bakraufarfita Records, mit dem die Band auch ihre vergangenen EPs und Platten veröffentlicht hat. Das Album wurde von Michael Czernicki in den Rock Or Die Studios in Neuss (NRW) aufgenommen, produziert, gemixt und gemastert. Czernicki hat bereits Bands wie die Antilopen Gang, die Rogers und weitere auf seiner Agenda.
Und wie könnte es anders sein, als dass die Record-Release-Show am 16. September auf der Parkbühne in Leipzig, der Wahlheimat der sechs Musiker, stattfindet. Mit dem neuen Album im Gepäck touren 100 Kilo Herz anschließend bis Anfang Dezember durch Deutschland und die Schweiz.
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