Das Bachfest 2023 ist vollgestopft mit ganz besonderen Annäherungen an die Musik von Johann Sebastian Bach, der vor 300 Jahren sein Amt als Thomaskantor in Leipzig antrat. Ein Moment, der auch für Bach noch eine völlig offene Zukunft bedeutete. Er wusste ja nicht, ob er in Leipzig wirklich so lange ausdauern würde und Werke schreiben würde, die ihn bis heute weltberühmt machen. Weshalb das Fest diesmal auch „Bach for future“ heißt. Aber wo kommt Judas auf einmal her, der am 17. Juni seinen großen Auftritt hat?
Den bringt einer mit ins Programm, den die Leipziger schon aus der Zeit kennen, als das ganze Bachfest in den Lockdown geschickt wurde und nur noch Online-Übertagungen möglich waren. Da präsentierte Benedikt Kristjánsson in der Thomaskirche die gesamte Johannes-Passionquasi als Ein-Mann-Version. Für die einen zum Entsetzen – für andere zum Fasziniertsein schön.
Und Benedikt Kristjánsson geht weiterhin kreativ mit Bachs Musik um.
Judas einmal anders sehen
„Als ich meine erste Bach Matthäuspassion gesungen habe, fiel es mir schwer, das Rezitativ über den Tod von Judas zu gestalten. Nicht dass es unbedingt gesangstechnisch schwieriger als die anderen Rezitative war, sondern wahrscheinlich, weil ich die Interpretationen von vielen anderen Evangelisten im Ohr hatte, und ganz ohne darüber nachzudenken in deren Fußstapfengetreten bin“, erzählt Benedikt Kristjánsson.
„Den Judas als Verräter, Feigling, Bösewicht und einen Mann, der einen grässlichen Tod verdient hat, darzustellen. Das wollte ich aber nicht tun. Ich habe dann versucht, für dieses Rezitativ eine andere Interpretation anzubieten. Dadurch kam es zu vielen Auseinandersetzungen mit Dirigenten. Das Thema hat mich immer weiter beschäftigt, schicksalhaft kam es auf mich zu. So kam auch das Buch Judas von Amos Oz in meine Hände. Und dort fand ich Texte, die mich weiterhin inspiriert haben. Weil Judas in der Passionsgeschichte eben keine eigene Stimme hat, und man die Geschichte nie von seiner Perspektive hört, fand ich es interessant eine solche Geschichte zu machen. Ich hoffe, dass man sich seine eigene Meinung bildet, wie man diese Musik-Zusammenstellung versteht. Mit diesem Programm setze ich die Musik von Johann Sebastian Bach in einen anderen Kontext. Und somit versuche ich eine neue Geschichte von Judas zu erzählen.“
Benedikt Kristjánsson hat seine sehr eigene Sicht auf die biblische Gestalt, die sich zumindest im christlichen Teil der Welt seit Jahrhunderten als Erzbösewicht ins kollektive Gedächtnis eingeprägt hat: Judas, der ehemalige Apostel Jesu, der seinen Herrn für Geld verraten hat. Die Evangelisten verbreiten das Narrativ vom dämonischen Verräter, dessen Reue zu spät kommt und dem deshalb verdientermaßen nur noch der Suizid als Ausweg bleibt.
Man ahnt, dass eine differenzierte Betrachtung angemessen ist – nicht nur, was die verheerenden Folgen der sich durch die Ideengeschichte des Christentums ziehenden Gleichsetzung von Judas und Judentum angeht, die zu einer Quelle des Antisemitismus wurde. In vielen Interpretationen wird Judas nicht mehr nur als die explizit negative Figur gesehen, die für den Tod Jesu verantwortlich ist, sondern als einer, der seinen Teil zum unvermeidlichen Weg der Opferung des Messias am Kreuz und damit zum Kernstück der christlichen Lehre beigetragen hat.
Bach anders sehen
Eine eigene Herangehensweise hat Benedikt Kristjánsson auch an einen der größten Stars der europäischen Musikgeschichte: Johann Sebastian Bach. In seinen zahlreichen geistlichen Werken scheint Bach sehr nah am Bibeltext zu sein. Kristjánsson sieht aber noch eine Bedeutungsebene dahinter, die er in seinen Assoziationen zu ausgewählten Stücken aus Bach-Kantaten beschreibt: Judas erfährt nach Verzweiflung und Selbsthass seine Form der Erlösung, die in der Musik ihren Spiegel findet.
Mit assoziativen Anmerkungen lässt er uns an seinen Gedanken zu den dreizehn Rezitativen und Arien teilhaben, die er aus dem Werk Bachs ausgewählt hat und die sein Bild von Judas umreißen:
1. Aria: Meine Seele wartet auf den Herrn: Das Warten. Ich verstehe diese Arie als den Zustand von Judas nach dem Verrat, bevor er sich das Leben nimmt. Er weiß, dass er etwas Böses getan hat, und bereut es, aber weiß nicht, ob Jesus oder Gott ihm vergeben wird.
2. Recitativo: Ach, ich bin ein Kind der Sünden: Der Text hier sagt eigentlich alles –„Ach, ich bin ein Kind der Sünden“. Judas schaut nach innen mit Selbsthass.
3. Aria: Falscher Heuchler. Ebenbild: Judas singt über sich selbst, in gleicher Stimmung wie vorher.
Am Samstag, 17. Juni, um 23 Uhr spielt das Ensemble Continuum zusammen mit Benedikt Kristjánsson „Judas“ auf dem Bachfest Leipzig. Genauer: im Paulinum – Aula und Universitätskirche der Uni Leipzig.
CD „Judas“ am 7. Juli
Benedikt Kristjánsson und Continuum sind bekannt für ihre unkonventionellen und originellen Konzertkonzepte. Zusammen machten sie bereits Furore mit der „Johannespassion à trois“. Die Bilder gingen um die Welt als sie am Karfreitag 2020, während des ersten Lockdowns, in der leeren Thomaskirche die Johannes-Passion von Bach in einer Version für Tenor, Schlagwerk und Cembalo erklang. Das Konzert wurde damals im Livestream via ARTE Concert und dem MDR übertragen.
Und das ambitionierte Projekt, in dem Judas im Bach-Kanon quasi erstmals eine eigene Stimme bekommt, ist auch schon für eine CD-Aufnahme genutzt worden. Enthalte ist darauf auch die 13-minütige Arie – und somit eine der längsten Arie der Welt. Offiziell erscheint die CD „Judas“ am 7. Juli.
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