Lange Haare, Kutten und laute Musik sind noch immer ein Markenzeichen Leipzigs: besonders dann, wenn die Musiker von Blindgänger die Bühne betreten. Im vergangenen Jahr veröffentlichte die Truppe um Frontmann Richard Gamnitzer ein neues Album, das nun darauf wartet, der großen weiten Welt vorgestellt zu werden. Aber erst einmal ist Leipzig an der Reihe. Die LZ bat zum Gespräch mit „El Rich“, wie der bärtige Hüne auch genannt wird.
Vor fünfzehn Jahren begann Blindgänger in den soziokulturellen Zentren Leipzigs und auf dem Courage Zeigen Festival als Siegerband. Wenn Du heute auf die Zeit zurückblickst, was denkst Du darüber?
Wir waren zu faul! Aber das ist im Nachgang auch nicht schlimm, man lernt ja daraus. Man darf ja auch nicht vergessen, dass unsere drei Ur-Mitglieder Mehmel (Git.), Matze (Git.) und ich mit dieser Band groß geworden sind. Das sind quasi meine Brüder. Genauso auch Mukki (Drums) und Ronny (Bass). Diese Band ist meine zweite Familie.
Da nimmst du halt auch die ganze Packung mit. Höhen, Tiefen, Trennungen, neue Liebe, alte Liebe. Ich bin jetzt 32 und bin mein halbes Leben Teil von Blindgänger. Eine größere Ehre gibt es für mich eigentlich nicht und ich bin dafür unendlich dankbar.
2020 hat auch bei Euch ein Loch gerissen, trotz Eurer Veröffentlichung von „Alles beginnt von vorn“. Beginnt ihr mit Blindgänger tatsächlich jetzt eine neue Phase – oder ist alles beim alten?
Ja, wir haben mitten in der Pandemie am 2. Oktober 2020 unser aktuelles Album „Alles beginnt von vorn“ veröffentlicht und konnten coronabedingt leider keine Release-Party feiern. Wir haben also kurzerhand einen Live-Stream aus dem Bandhaus Leipzig mit anschließender streng limitierter Aftershowparty in der Kulturlounge gemacht. Das Bandhaus hat mit seinen Livestreams wirklich großartige Arbeit geleistet und während der Pandemie die Subkulturen intensiv gefördert, während alles im erzwungenen Dornröschenschlaf verharrte.
Wir haben die Zeit in der Pandemie aber trotzdem so gut genutzt, wie es eben ging. Unser großes Ziel ist immer noch, zu jedem Song des neuen Albums ein Video rauszubringen. Das ist sehr ambitioniert, macht einen Haufen Arbeit, aber wir wollen und müssen ja die neue Platte im Gespräch halten. Dafür sind normalerweise Gigs da aber na ja…. Vor kurzem kam auch das Video zu „Der schwarze Fleck“ raus.
Apropos! In der Kulturlounge haben wir am 10. September unseren ersten Gig nach sage und schreibe anderthalb Jahren. Weitere Gigs folgen im Oktober und November … falls Corona da mitmacht.
Euer neues Album habt ihr von Dennis Koehne aufnehmen und mischen lassen. Er ist kein unbeschriebenes Blatt, hat schon mit Sodom, den Farmer Boys und den Idiots zusammengearbeitet. Wie war es mit ihm?
Dennis Koehne hat aus unserem Album wirklich das Maximum rausgeholt. Wir haben dieses Mal keine Kompromisse gemacht und sind endlich mit unserem Sound richtig zufrieden. Ich denke, dass Dennis uns genau das Soundgewand gegeben hat, was Blindgänger eigentlich immer haben wollten. Die Produktion ist auch allgemein sehr metallastig.
Auch wenn hier und da noch ein paar einzelne Crossover-Anteile oder Punk-Wurzeln rauszuhören sind, spürt man deutlich, dass diese Band gewachsen, ja vielleicht sogar erwachsen geworden ist und wir uns denke ich endgültig aus der Punk-/Deutschrock-Schiene freigeschwommen haben.
Was könnt ihr zum Song „Festung Europa“ erzählen?
Es ist tatsächlich der älteste Song auf der Platte. Ich war im Sommer 2015 am Bahnhof in Budapest und dort campierten hunderte Flüchtlinge unter teils desaströsen Bedingungen. Ich hab mit einigen dort gesprochen und erstmal verstanden, welch unfassbare Strapazen die Leute auf sich genommen haben, um aus verschiedenen Kriegsgebieten hierher nach Europa aufzubrechen.
Dann kommen die hier trotz aller Widrigkeiten an und werden von Pegida und Co. „begrüßt“. Die Arroganz einiger Leute hier, denen es im Wesentlichen an nichts fehlt und die nie Krieg erlebt haben, ist nicht nachzuvollziehen. Das Thema musste einfach in einen Song gepackt werden und wir spielen ihn seit seiner Entstehung auf jedem Konzert. Und wir werden ihn spielen, solange es nötig ist.
Wer oder was ist „Zum Scheitern verurteilt“, ein weiterer Song des Albums?
Wir alle, wenn wir nicht den Kopf aus dem Arsch ziehen! Im Wesentlichen geht es bei „Zum Scheitern verurteilt“ um die großen und kleinen Lippenbekenntnisse im Leben und Betrug an anderen und sich selbst. Viele Menschen führen sich wie die großen Moralapostel auf, aber schaffen es nicht einmal, vor der eigenen Haustür zu kehren.
Das passiert tagtäglich in der Politik aber auch im privaten Bereich und hat meiner Meinung nach mit ein paar anderen Faktoren zu unserer aktuellen gesellschaftlichen Spaltung geführt. Das dürfen wir als Gesellschaft nicht vergeigen, sonst sind wir zum Scheitern verurteilt.
Habt ihr schon ein „White Line Fever“ – schmiedet ihr schon Pläne für 2022?
(Lacht) Unser Leben ist inzwischen, glaube ich, nicht mehr skandalös genug, um ein „White Line Fever“ zu schreiben. Aber das mit dem Buch hebe ich mir mal für meine alten Tage auf. Aber tatsächlich packt uns wirklich die Sehnsucht nach der Straße und den Klubs. Für 2022 planen wir wieder reichlich Konzerte.
Wir müssen ja nach der langen Durststrecke einiges nachholen und unsere Platte promoten. Vielleicht wird es auch eine kleine Tour geben, mal sehen wie die Termine zusammenfallen. Eine EP ist für 2022 auch in Planung aber auch da wird noch etwas Zeit ins Land gehen.
Ich habe Euch immer als Rock ‘n’ Roll Band der Marke Motörhead gesehen – neutral, geradeaus und ehrlich. Liege ich richtig?
Motörhead sind nach wie vor auch immer noch unsere großen Helden, keine Frage! Geradeaus und ehrlich sind wir definitiv. Neutral? – Na ja ….. ich finde schon, dass eine Band sich positionieren sollte. Das tun wir und das schmeckt nicht immer jedem.
Wenn Leute sich wie Arschlöcher verhalten, sollten sie auch damit klarkommen, dass sie den Spiegel vorgehalten bekommen. Es läuft so viel grundlegend verkehrt, da kann ich nicht wirklich neutral bleiben. Und das waren Motörhead meines Erachtens auch nicht. Lies dir mal Lemmys Texte durch, der Mann macht seinen Standpunkt sehr oft sehr deutlich.
Kategorisierungen gab es schon ’ne Menge. Von Deutschrock über Punk ’n’ Roll über Metalpunk über Blindrock! Wir spielen Metal! Fertig!
Was bedeutet für Euch Rock ’n’ Roll in diesen musikalisch doch sehr glatten Zeiten von Miley Cyrus, Billie Eilish und Lady Gaga?
Auf die Gefahr hin, von allen Seiten Schelte zu bekommen würde ich schon sagen, dass Lady Gaga mehr Rock ’n’ Roll ist, als es die meisten Leute wahrhaben wollen. Aber ich weiß, worauf Du hinauswillst. Ich mag generell Musik, die aneckt, die eine Position hat und die auch nicht jedem gefallen will. Musik sollte authentisch sein und ich denke, das haben wir bisher geliefert.
Seit einigen Jahren klappt ein alter Trend wieder auf – die gute alte Schallplatte. Viele alteingesessene Gruppen, bzw. ihre Plattenfirmen, veröffentlichen ihre alten Platten in allen Farben, Ausführungen und Preisen. Ist für Euch dieses Medium, inklusive der Musikkassette, denkbar oder bleibt ihr bei CD und Streamingdiensten?
Wir haben da schon einige Male drüber nachgedacht, mussten aber feststellen, dass die Vinyl-Produktion ziemlich kostspielig ist. Zumindest in unseren kleinen Auflagen. Dann kam noch unsere Albumproduktion hinzu, die nicht gerade umsonst war und zu allem Überfluss Corona. Dann rechnet man wieder und merkt, dass das trotz erheblicher Eigeninvestitionen einfach nicht drin ist.
Das Thema wird wieder aufkommen und ich bin ziemlich sicher, dass es eines schönen Tages mal ’ne gepflegte LP von uns geben wird. Tapes dann gerne auch! Vorerst bleiben wir auf allen Streamingdiensten, möchten aber an dieser Stelle ganz ausdrücklich betonen, direkt beim Künstler zu kaufen.
Also direkt auf dem Konzert oder per privater Anfrage oder, wie in unserem Fall, via Bandcamp. Da kommt das Geld nämlich auch dort an, wo es hingehört – bei denen, die es produziert haben. Ich weiß, Spotify ist bequem im Alltag, aber wenn mir für zehn Euro im Monat die gesamte Welt der Musik offensteht, dann muss ich das als Konsument dringend hinterfragen.
Musik und mehr von Blindgänger unter blindgaenger.bandcamp.com
„Bock auf Rock ’n’ Roll: Für Blindgänger beginnt ‚alles von vorn‘“ erschien erstmals am 30. Juli 2021 in der aktuellen Printausgabe der Leipziger Zeitung (LZ). Unsere Nummer 93 der LZ finden Sie neben Großmärkten und Presseshops unter anderem bei diesen Szenehändlern.
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