Dem Bach-Archiv Leipzig gelang jetzt der Ankauf eines ganz besonderen Sammlerstücks: Eines Exemplars der ersten Bach-Gesamtausgabe – erschienen in Leipzig zwischen 1851 und 1900 – aus dem Besitz des Komponisten Gustav Mahler. Vier der Bände enthalten umfangreiche Eintragungen von Mahlers Hand. Eingelegt sind handschriftliche Notenbögen mit Mahlers Bearbeitung der Gavotte aus der Bachschen Ouvertüre BWV 1068.
Die 59 Bände umfassende Ausgabe befand sich zuvor im Privatbesitz in London. Ermöglicht wurde der Ankauf durch Mittel der B.H. Breslauer Foundation, der Kulturstiftung der Länder sowie mit Unterstützung zahlreicher privater Spenderinnen und Spender.
Am 10. November 1909 dirigierte Gustav Mahler im Rahmen einer von ihm in New York etablierten Serie von „Historical Concerts“ erstmals seine „Bach-Suite“. Er bearbeitete hierfür Teile der zweiten und dritten Orchestersuite Johann Sebastian Bachs und setzte sie zu einem sinfonischen Werk zusammen. Wann Mahler begann, sich intensiv mit dem Werk Bachs zu beschäftigen, bleibt zu erforschen. Vermutlich hat er bereits in seinen Leipziger Jahren (1886–1888) die seit 1851 im Leipziger Verlag Breitkopf & Härtel sukzessive erscheinende Bach-Gesamtausgabe subskribiert und die bis dahin erschienenen Bände erworben.
Diese erste Bach-Gesamtausgabe wurde 1850 auf Betreiben von namhaften Leipziger und internationalen Musikern ins Leben gerufen und von der zu diesem Zweck gegründeten Bach-Gesellschaft editorisch betreut. Die einst durch Felix Mendelssohn Bartholdy etablierte Leipziger Bach-Pflege blühte zu dieser Zeit und die Orchestersuiten Bachs hatten einen festen Platz im Repertoire des Gewandhausorchesters, das der junge Gustav Mahler als Kapellmeister des Stadttheaters Leipzig regelmäßig dirigierte.
Nach Mahlers Leipziger Zeit fand die Bach-Gesamtausgabe einen würdevollen Platz in seinem Komponierhäuschen in Maiernigg am Wörthersee (nach Auskunft seiner Frau Alma waren in diesem kleinen Häuschen neben einem Flügel und den Gesamtausgaben von Goethe und Kant „an Noten nur Bach“ vorzufinden – also die hier beschriebenen Bände). 59 von insgesamt 61 erschienen Bänden hinterließ er seinen Erben – es fehlen lediglich Band IV (Matthäus-Passion) sowie der erst nach Mahlers Tod erschienene Nachtragsband.
Vier der Bände (Weihnachts-Oratorium, Kunst der Fuge, Orchestersuiten, Violinsonaten) enthalten zum Teil umfangreiche handschriftliche Eintragungen. Diese dokumentieren Gustav Mahlers analytisches und künstlerisches Verständnis von Bachs Musik, geben wertvolle Einblicke in seine Interpretationen und beleuchten zahlreiche Aspekte seiner Aufführungspraxis. Von besonderem Wert ist Mahlers Bearbeitung der Gavotte aus der dritten Orchestersuite, die dem betreffenden Band als Autograph beiliegt.
Die Provenienz der Bände lässt sich lückenlos verfolgen: Nach Gustav Mahlers Tod erbte seine Witwe Alma Mahler-Werfel die Bach-Gesamtausgabe. Nach deren Tod im Jahr 1964 gingen sie in den Besitz von Mahlers Tochter Anna Mahler (bis 1988) und später in den seiner Enkeltochter Marina Fistoulari-Mahler über. Bei einer Auktion des Hauses Sotheby’s ersteigerte am 29. Mai 1992 schließlich ein Londoner Privatsammler die Ausgabe.
Mit dem Ankauf des beschriebenen Exemplars der Bach-Gesamtausgabe durch das Bach-Archiv Leipzig ist dieses singuläre Quellenmaterial zur Bach-Rezeption von Gustav Mahler für die musikwissenschaftliche Forschung erstmals und zudem dauerhaft öffentlich zugänglich.
Prof. Dr. Dr. h. c. Peter Wollny, Direktor des Bach-Archivs Leipzig: „Bisher befanden sich die Bände stets in Privatbesitz und standen für eine wissenschaftliche Auswertung noch nie zur Verfügung. Das Potenzial für neue Erkenntnisse und eine revidierte Bewertung von Mahlers Bach-Interpretationen erscheint sehr hoch. Ich bin allen Förderern für die großzügige Unterstützung dieses bedeutenden Ankaufs dankbar.“
Geplant ist, die Bände im Rahmen einer Sonderausstellung im Bach-Museum Leipzig öffentlich zu zeigen.
Dazu Prof. Dr. Markus Hilgert, Generalsekretär der Kulturstiftung der Länder: „Gustav Mahlers Gesamtausgabe der Werke Bachs ermöglicht es, nachzuvollziehen, wie Mahler Bach verstanden hat und wie er dessen Werke interpretierte und aufführte. Mit dem Ankauf für das Bach-Archiv Leipzig kehrt die Ausgabe zurück an Bachs Hauptwirkungsort und kann dort einem breiten Publikum präsentiert werden. Bislang befand sich die Ausgabe ausschließlich in Privatbesitz – nun kann sie erstmalig umfassend untersucht und Forscherinnen und Forschern weltweit zugänglich gemacht werden. Ich freue mich auf viele neue Erkenntnisse über Mahlers Sicht auf Bach und die Bach-Rezeption des beginnenden 20. Jahrhunderts.“
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