In den ruhigeren Tagen am Ende des Jahres gibt es auch endlich einmal Gelegenheit, in so einiges Liegengebliebene hineinzuhรถren. So schneite uns im Oktober zum Beispiel die CD โIn A Hot Distant Landโ ins Haus, die vierte CD von Ido Spak, der sich selbst The Jazz Traveller nennt. Was man im doppelten Sinne genau so verstehen kann.
โWelch ein passender Name fรผr den Komponisten und Pianisten mit der Wahlheimat Lรผneburgโ, schreibt seine Marketing-Agentur dazu. โIdo Spak, 1979 in Israel geboren und seitdem immer unterwegs, nimmt seine Hรถrer mit auf eine Reise durch verschiedene Kontinente und Kulturen. Seine Kompositionen verbinden die ethnische Musik des Nahen Ostens mit der klassischen Musik Europas und dem Jazz der USA. Diese spannende und anspruchsvolle Mischung platziert Ido Spak in der zeitgenรถssischen Avantgarde Deutschlands, nein der Welt! Seine Lebensstationen und Reisen der letzten 20 Jahre erscheinen als Momente in den Klรคngen seiner Werke.โ
Alles so schรถn komprimiert formuliert, dass man nicht wirklich sieht, was Ido Spak fรผr ein Reisender ist, der sein Leben als richtige Jazz-Reise versteht. Eine, die vor 30 Jahren in Israel begann, als er noch mit der Gitarre versuchte, seinen Weg zu finden. Aber das war nicht sein Instrument, das war das Klavier, das ihn fortan begleitete, als er aufbrach und seinen Lebensmittelpunkt komplett erst zum Musikstudium in die Niederlande verlegte.
Dem folgten drei Jahre in England, von denen er die meiste Zeit in Canterbury an einem Klavier der Universitรคt von Canterbury verbrachte. Danach wechselte er nach Berlin, wo er dann in einer Gruppe zusammen mit anderen Isrealis und Iranern musizierte und mit ihnen รถfter auf Tournee ging.
Und letztlich ging er geradezu in die beschauliche Provinz nach Lรผneburg, was aber nicht bedeutete, dass er nun den Kontakt zur Welt verlor. Im Gegenteil. Davon erzรคhlt auch die CD โIn A Hot Distant Landโ, mit der er im Grunde in den Nahen Osten zurรผckkehrt. Davon erzรคhlt nicht nur das Cover mit dem Wรผstenmotiv und Ido Spak am Klavier. Oder der โLove song from the Desertโ, in dem Wรผste ja zum Doppelmotiv wird als realer Ort und als Ort des Verlassenseins. Vielleicht auch als Ort der zunehmenden Verwรผstung, die wir mit dem Klimawandel erleben.
Dazu gehรถrt auch das Musikstรผck โTales of Bloodโ, das dann als โIn A Hot Distant Landโ der CD ihren Titel gab. Es handelt, erklรคrt Spak selbst, vom Bรผrgerkrieg in Syrien, der im Grunde das ganze Album รผberschattet, durchweht, zum Klirren bringt.
Denn man vergisst ja mit all den schmetternden Kriegsnachrichten in den Medien, dass es auch in diesem jรผngsten Krieg in Nahost nicht um Gut und Bรถse geht, um die richtige Ideologie oder die richtige Partei, sondern um Lรคnder, in denen die Menschen zuvor in Frieden leben konnten, an denen sie mit allen Wurzeln hรคngen, wo sie ihr Auskommen hatten, ihre Nachbarn, ihre Stรคdte und Kultur.
Erst wenn ihnen von auรen Farben und Label aufgeklebt werden, werden sie zur Verfรผgungsmasse von Staatsregierungen, Militรคrs, Terrororganisationen, Politikstrategien.
Wir sehen schon seit langem vรถllig falsch auf diese immer neuen Konflikte in Nahost, zu denen uns politische Kommentatoren immerfort einreden, welche Partei die richtige sei und wer hier der Bรถse. So sehen wir unsere Mitschuld nicht, denn jene โrichtigen Parteienโ, die sich so gern als Friedensboten verstellen, verfolgen in Nahost seit Jahrzehnten ihre eigenen Interessen, oft mit fatalen Folgen, blutigen Verwerfungen, destabilisierten Lรคndern, aufkommenden Extremisten.
Und daran hat sich auch nichts geรคndert, seit die Truppen des ach so friedliebenden Westens wieder abgezogen sind. Echte Friedensinitiativen kann man mit der Lupe suchen. Wirkliches Verstรคndnis fรผr das Leid der ganz normalen Bevรถlkerung wird man erst recht nicht finden. Eher einen vรถllig irre werdenden Bundesinnenminister, der im neuen Jahr wieder Menschen nach Syrien abschieben will. Ist das noch hartherzig oder schon kaltschnรคuzig?
Man kann mit Ido Spak durchaus eintauchen in das von Sorgen, Freuden, Hoffnung und Geduld geprรคgte Leben in diesem Desert Land am Fuร des โMount of Bad Adviceโ (Berg der schlechten Ratschlรคge). Aus der Perspektive der Ausgebombten, von ihrem Land Vertriebenen, zur Flucht Gezwungenen erscheint das Gezeter in den politischen Olympen nur noch wie ein fernes, immerfort bedrohliches Grollen, ein Rangeln blinder Gรถtter um ein Zipfelchen Macht, Aufmerksamkeit, Stolz, Ehre und was der gekrรคnkten Gefรผhle innerlich leerer Mรคnner mehr sind, denen in der Regel vรถllig egal ist, wie die Menschen leben, in deren Leben sie Krieg, Bรผrgerkrieg und Zerstรถrung tragen. Oder auch nur eiskalte Profitinteressen.
Mรคnner, die vรถllig unfรคhig sind, Lรคnder zum Blรผhen zu bringen. Die in den Kategorien von Geheimdiensten, Armeen, Bombern und Terrorkommandos denken. Und die auch deutschen Rรผstungsfirmen fette Gewinne verschaffen.
Ido Spak erzรคhlt das Leid aus der Perspektive des mitfรผhlenden Kรผnstlers, der Menschen nicht deshalb verachtet, weil sie aus dem โFeindeslandโ kommen. Er teilt ihre Perspektive auf das immer gefรคhrdete Leben, ihre Sehnsucht nach Liebe und ihre Verzweiflung, wenn die Mรคnner nur noch besessen sind von Rache.
Und wer jetzt die โWรผstenbewohnerโ vor Augen hat, der hat Tomaten vor den Augen, denn all die smarten Staatsmรคnner in ihren Businessanzรผgen, die da auf internationaler Ebene mitmischen, sind genauso nur von Rache besessen, auch wenn sie von Freiheit, Demokratie und โunseren Wertenโ reden.
Wenn wir Glรผck haben, wird es einmal eine Zeit geben, in der unser ach so fortschrittliches Jahrhundert als Zeit der Rache und des blinden Zorns bezeichnet wird. Und in dem die ach so friedlichen Europรคer nicht besser wegkommen als die anderen. Denn wir haben die Menschenliebe den Wรผtenden und Rachefordernden รผberlassen. Die ganze Abschiebe- und Abschottungspolitik erzรคhlt davon.
Auch das steckt in Ido Spaks Interpretationen am Klavier, die ganz von allein in eine nachdenkliche, fast traumhafte Stimmung entfรผhren.
Es ist eigentlich sogar das richtige Album fรผr diesen Jahresausklang, das am Ende ja sogar noch in einen โDance For Hopeโ mรผndet. Hoffnung in diesem Fall nicht von moralpredigenden Kanzeln verkรผndet (und niemals eingelรถst), sondern jene Hoffnung, die jeder im Herzen trรคgt, wenn er sich morgens seufzend aus dem Bett erhebt, das Frรผhstรผck vorbereitet, die Familie weckt und das Tagwerk vorbereitet, das getan werden muss, damit das Leben weitergeht und alle das Nรถtige bekommen, was sie brauchen. Ohne die รผberbordenden Wรผnsche der Wohlstandsgesellschaften im Norden, die schon nicht mehr wissen, was sie noch alles haben wollen fรผr ihr ganzes Geld.
Wรคhrend die vielen anderen nur gerade so รผber die Runden kommen, froh sind, das Nรถtigste auf dem Markt kaufen zu kรถnnen oder auf ihren staubigen Feldern ernten zu kรถnnen.
Was nicht heiรt, dass nicht auch viele Menschen bei uns diese Stimmungen kennen, dieses kleine Glรผck des einfachen Daseins, wenn einem mal niemand das Haus abfackelt, den Lebensunterhalt wegnimmt oder die Kinder. Wenn einfach dem einen ganz unaufregenden Tag noch ein weiterer folgt und die Nรคchsten nicht verschwinden oder krank werden und sterben.
Corona kommt thematisch nicht vor auf der CD, aber diese Stimmung des Nachdenkens im Lockdown ist mit darin, dieses Horchen auf die leisen Tรถne, die immer erst dann wieder hรถrbar werden, wenn die aggressiven Motorengerรคusche verstummen. Die meisten Menschen merken gar nicht mehr, wie viel Lรคrm sie stรคndig veranstalten und wie dieser rรถhrende Lรคrm die Vielfalt der Welt geradezu verschรผttet.
Aber man ahnt, warum sie so lรคrmen und mit einer vรถllig รผberdrehten Geschรคftigkeit vortรคuschen, sie wรผrden leben. Denn wer immerfort derart alles รผbertรถnt, der muss nicht auf die leisen Stimmen in seinem Inneren hรถren โ das Rumoren der Gefรผhle, der Fragen nach dem, was wirklich wichtig ist.
Der sieht die ganze Schuldigkeit immer bei anderen, lรคuft herum mit lauter unbezahlbaren Rechnungen und lรคrmt von โFreiheitโ, wo er selbst nicht frei ist, nur der Getriebene einer Lebensart, die nicht mehr weiร, was sie mit sich selbst anfangen soll.
Das jedenfalls klingt mit, wenn Ido Spak mit dem kleinen um sich versammelten Orchester genau diese Stimmung der Nachdenklichkeit erzeugt, die man in einer Wรผste auf jeden Fall hat, wenn einen nichts mehr ablenkt von der Wahrnehmung, jetzt wirklich einmal ganz allein da zu sein und sich dem groรen Unfassbaren gegenรผber zu sehen, das grรถรer ist als die Eitelkeit all der Mรคnner, die unsere Nachrichten mit ihrer brรผllenden Selbstgerechtigkeit erfรผllen. Eigentlich Zeit, dass alle einfach mal abschalten und sich einlassen auf das Gewimmel der eigenen Gedanken, das Ausgesetztsein ins eigene Leben, das natรผrlich zuweilen seltsam, ungreifbar und verwirrend ist.
Aber gerade da spรผren wir uns eigentlich erst wieder. Gern auch ratlos, schutzlos in gewisser Weise. Aber auch nah an einer ernsthaften Selbstverstรคndlichkeit, die keine Lust (mehr) darauf hat, immerfort irgendjemandes Partei ergreifen zu mรผssen oder verstehen zu wollen, warum andere derart brachial auf ihrem โRechtโ bestehen, ohne Rรผcksicht, welche Wรผsten sie damit erzeugen. Wie lรคcherlich viele dieser Rechte sind, die Rechthabereien erst recht. Dabei geht es wirklich nur darum, jeden Tag loszugehen auf der Suche nach Wasser, nach einer Handvoll Reis, nach einem Brot, damit die Kinder satt werden und es sich lohnt, sich auf jeden kommenden Tag zu freuen.
Oder auf 2021, wenn Ido Spak all die Konzerte nachholen kann, die 2020 wegen Corona abgesagt werden mussten.
Ido Spak โIn a Hot Distant Landโ
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