Wenn man heutzutage an Kindergärten vorbeiläuft, hört man die Kinder sehr selten singen. Was schon verwundert. Gehört das nicht mehr zum frühen Bildungsprogramm für die Kleinen? Und wenn man mal was hört, sind das seltsam glanzlose Lieder, die irgendwie von modernen Pädagogen zusammengeklöppelt wurden. Die alten Kinderlieder aber, die einst alle singen konnten, sind verschwunden. Warum eigentlich? Nur weil die Tiere, die darin vorkamen, aus der Welt der Kinder verschwunden sind?
Daran, dass diese Lieder nicht kindgerecht gewesen sein sollten, kann es nicht liegen. Daran, dass noch alte schwarze Pädagogik drinstecken könnte, auch nicht. Dazu hatten Engelbert Humperdinck und Adelheid Wette ein zu gutes Gespür für die Kinder. Sind die Lieder den großen Pädagogen unserer Zeit zu albern geworden? Zu „niedlich“? Zu unpolitisch?
Wer kann das sagen?
Thomas Fritzsch jedenfalls kennt sie alle noch. L-IZ-Leser/-innen kennen ihn als leidenschaftlichen Gambenspieler und Wiederentdecker der großen Gamben-Kompositionen vor allem des 18. Jahrhunderts, als es in Europa noch wesentlich geruhsamer zuging, leiser, so, dass man sich auch noch selbst verstand, wenn man zu Hause gemeinsam sang. Das war auch zum Ende des 19. Jahrhunderts noch weitgehend so, jener Zeit, als Engelbert Humperdinck mit seinem Märchenspiel „Hänsel und Gretel“ (1893) einen überwältigenden Erfolg feierte.
Und wenig später feierte er noch einen Erfolg, der heute so kaum noch vorstellbar ist: mit der Veröffentlichung des „Deutschen Kinder-Liederbuches“ 1903 im Verlag von Friedrich Andreas Perthes in Gotha. Es enthielt 72 Lieder, darunter viele beliebte Volkslieder, aber auch Lieder von Mozart, Schumann, Hiller und Weber.
Etliche dieser Lieder sind heute noch den meisten Erwachsenen präsent – vom „Jäger in Kurpfalz“ über „Bienchen summ“ und „Vogelhochzeit“ bis zu „Suse liebe Suse“. Gut möglich, dass man den Kindern heute erst einiges erklären muss zu diesen Liedern – sie wachsen ja in einer Welt auf, in der es diese Nähe zu Natur und Tieren nicht mehr gibt. Aber ist das ein Grund, diese Lieder deswegen einfach zu vergessen?
Thomas Fritzsch jedenfalls war happy, als er ein Exemplar von Humperdincks Liederbuch im Antiquariat fand. Und weil er seine Übungsstunden an der Gambe mit dem Behüten der kleinen Lea-Sophie verband, hatte er von Anfang an eine aufmerksame Zuhörerin, die sich besonders freute, wenn er die alten Kinderlieder intonierte. Daraus entstand bei Thomas Fritzsch dann irgendwann der Wunsch, die Kinderlieder mit Gambe auf CD aufzunehmen – nicht nur für Lea-Sophie und ihren Bruder Georg Caspar, sondern für alle Kinder.
Aber er wollte nicht nur eine Farbe auf der CD. „Damit Kinderlieder so bunt wie Bilder werden, braucht man Klangfarben“, schreibt er. „Jedes Instrument besitzt einzigartige und besondere Klangfarben.“
Also bat er auch noch Masako Art dazu, die die Harfe spielt, und Margit Übelacker, die das Hackbett virtuos spielen kann. Seinen Freund Klaus Mertens gewann er als Sänger für die Aufnahmen, und um auch viele junge Stimmen auf die CD zu bekommen, hat er auch noch den Knabenchor Hannover eingeladen. Natürlich steht auch Jörg Breiding als Leiter des Knabenchores mit auf dem Cover.
Das Ergebnis ist – wie zu erwarten – das Gegenteil der zumeist schrillen und poppigen „Kinder“-CDs, die es heute zu kaufen gibt. Kein elektronisches Geklimper mit eingespielten künstlichem Jauchzen und falscher Aufregung, die den Kinder suggerieren, jetzt müsste sofort und gleich etwas Tolles passieren. Wenn unsere Kinder heute so überdreht sind, liegt das auch an diesem Schrott.
Die Welt, in der Humperdinck lebte, war eine andere. Und die Welt, in der die meisten dieser Lieder entstanden, erst recht. Es waren Lieder aus dem richtigen Leben, wenn auch einfach, fröhlich und kindgerecht. Und mit den drei Instrumenten Harfe, Gambe und Hackbrett wird sowieso eine Klangwelt erzeugt, die zu einer stilleren, aufmerksameren und naturverbundeneren Zeit gehört, in der Kinder noch Blumen pflückten, Vogelstimmen kannten, Ziegen und Gänse hüteten und sich mit Oma ärgerten, wenn der Fuchs in den Hühnerstall eingebrochen war.
Und weil es alles sehr bildhafte und lebendige Lieder sind, regen sie heute auch noch oder wieder die Phantasie der kleinen Zuhörer an. Vielleicht fragen sie auch nach: Wie sieht ein Hase aus? Eine Mühle? Ein Storch? Eine Schwalbe?
Der ganze Jahresreigen steckt darin, auch wenn von den 72 Liedern aus Humperdincks Sammlung tatsächlich nur 43 auf die silberne Scheibe gepasst haben. Das 44. Lied wäre schon durchs Loch in der Mitte der Scheibe gefallen, schreibt Fritzsch, der die CD nicht nur den Kindern ans Herz legt, sondern auch den Eltern. Den Eltern auch deshalb, weil er ein Herzensanliegen thematisieren möchte: Die Bereitschaft, Kinder zu adoptieren und Menschen, die Pflegekinder aufnehmen, mit anderen Augen anzuschauen.
Denn in unserer Gesellschaft gibt es auch eine stille Verachtung für Pflegekinder und auch Pflegeeltern. Ganz so, als könnten einige Mitmenschen nicht mehr sehen, welch ein Akt der Fürsorge und Menschenliebe es ist, Kinder zu adoptieren. Für Fritzsch und seine Frau war eine solche Adoption ein wunderbares Geschenk.
Kinder spüren sehr wohl, wenn sie von Herzen angenommen werden. Und manchmal läuft das auch über Musik – z. B. wenn Vater mit der Gambe am Bettchen sitzt und Kinderlieder singt. Wahrscheinlich werden viele Lieder auf dieser CD heute auch für junge Eltern eine echte Entdeckung sein. Man kann mitsingen oder nachsingen, die Kleinen dazu animieren, ihre liebsten Lieder auswendig zu lernen. Und vielleicht greifen auch Erzieherinnen in der Kita irgendwann beherzt ins Regal, schmeißen die albernen Produktionen im „Kids Style“ raus und lernen mit den Kleinen wieder die alten, so unverwüstlich schönen und einfachen Lieder.
Die Kleinen machen unter Garantie mit, gerade in den Liedern, wo diverse Tiere für allerlei Spaß sorgen. Denn das fällt natürlich auf: dass unser Kinderlieder-Schatz eigentlich keine traurigen und wehmütigen Töne kennt. Dafür viel Freude am Übermut und am Fröhlichsein. Wir sind gar nicht so ein verbocktes und vergrimmtes Volk, wie wir immer tun. Aber dass wir so tun, liegt wohl auch daran, dass wir die Freude am beherzten Fröhlichsein nach der Kindheit allesamt verlernt haben.
Es ist mal wieder Zeit zum Wiederentdecken.
Engelbert Humperdinck, Adelheid Wette „Deutsches Kinder-Liederbuch“, mit Klaus Mertens, Thomas Fritzsch, Margit Übelacker, Masako Art, Jörg Breiding, Knabenchor Hannover, Rondeau Production, Leipzig 2020, Bestellnummer: CD ROP6202, EAN Code: 4037408062022.
The 19th-Century Viol: Die Musik der Viola da Gamba im Zeitalter der Schumann, Mendelssohn und E.T. A. Hoffmann
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