Der Tag passte gleich doppelt. Am 8. März erschien offiziell die gemeinsame Einspielung von amarcord und Calmus Ensemble mit dem einprägsamen Titel „Leipziger Disputation“. Das sind zwar zwei (fast) reine Männer-Ensembles, aber Calmus holt sich schon traditionell immer wieder eindrucksvolle Frauenstimmen dazu, so wie in diesem Fall die beiden Sopranistinnen Anna Kellnhofer und Isabel Schickedanz. Ohne die beiden wäre ein Brumel gar nicht singbar.
Nicht weil Brumel mit Frauenstimme geplant hätte. Bei ihm waren das noch helle Knabenstimmen. Der Thomanerchor könnte also, wenn er fleißig übt, durchaus ebenfalls diese ganz besondere „Erdbebenmesse“ singen, die wahrscheinlich bei jenem legendären Eröffnungsgottesdienst der Leipziger Disputation am 27. Juni 1519 in der Thomaskirche erklang. Dass es wahrscheinlich diese Messe war, hat Musikwissenschaftler und Bacharchiv-Geschäftsführer Michael Maul mit einigen sehr stichfesten Indizien untermauert.
Georg Rhau hat an der Universität Leipzig studiert und war seit August 1518 auch Thomaskantor – bis 1520, da musste er Leipzig wegen seiner Nähe zur Reformation verlassen, ging nach Eisleben, Hildburghausen und 1522 nach Wittenberg, wo er eine Buchdruckerei gründete, wo er vor allem Musikdrucke herausbrachte. Darunter auch Werke von Antoine Brumel.
Und da ein zeitgenössischer Chronist berichtet, Rhau habe eine zwölfstimmige Messe aufführen lassen, liegt es nahe, Brumels Messe „Et ecce terrae motus“ als heißen Kandidaten für diese Messe anzunehmen. So viele zwölfstimmige Chorwerke gab es damals noch nicht, betont Maul. Nach der Entdeckung der Zweistimmigkeit in der Gregorianik hatte man gerade erst die herrlichen Möglichkeiten der Vier- und der Sechsstimmigkeit entdeckt. Die Kirchenmusik blühte auf.
Und das nicht ganz zufällig. Die Reformation war ein Ereignis mit ganz langem Anlauf – mit Buchdruck, der Blüte der Renaissance-Malerei, der internationalen Bewegung des Humanismus … Was übrigens auch der Fehler der Organisatoren des Reformations-Jubiläums 2017 war. Sie haben nicht begriffen, dass Luthers Thesenanschlag kein innerkirchliches Ereignis war. Eben gerade weil sich die damalige katholische Kirche anmaßte, alle Aspekte des Lebens bestimmen zu wollen.
Dass sie dazu die Menschen mit Höllenbildern in Angst und Schrecken versetzte, erinnert auch so ein bisschen an die Gegenwart: Die Schwarzmaler sind längst schon wieder unterwegs und verwandeln unsere gesellschaftliche Debatte in einen Höllentanz. Sie halten es nicht aus, frei zu sein, aufrecht zu gehen und auszuhalten, dass die Welt offen ist, komplex und in Bewegung.
Aber was läute ich hier den Weckruf für die Kirchen? Das tun andere schon seit Jahrzehnten und werden nicht erhört.
Und so kann man nur empfehlen, am 16. Juni um 17 Uhr in die Thomaskirche zu gehen. Da steht die von Calmus und amarcord gesungene Messe „Et ecce terrae motus“ auf dem Programm des Bachfestes. Noch gibt es Karten.
Es gibt dort auch einige Zugaben, die auf der 2018 von beiden Ensembles eingespielten CD nicht enthalten sind, Zugaben, die dann wirklich auch die Disputation zwischen Luther und Eck in der damaligen Pleißenburg ein wenig erlebbar machen.
Deswegen ist der Titel der CD ein wenig irreführend, denn die ist ganz und gar keine Inszenierung der damaligen, mehrwöchigen Disputation, bei der sich die Kontrahenten lateinisch stritten – Luther und seine Mitstreiter Karlstadt und Melanchthon sehr auf die Schrift gestützt, bemüht, logisch und klar zu überzeugen. Aber selbst das kennt man ja aus heutigen Zeiten, dass einige Leute ihre Wissenschaft eher als Handlangerdienst für die Mächtigen verstehen – der katholische Kontrahent von Eck tat alles, um Luther dahin zu kriegen, dass der seine Nähe zu Jan Hus eingestehen musste.
Eine echte Falle, der Luther aber nicht entgehen konnte, weil er seine Argumente natürlich genauso wie Jan Hus logisch auf dem Wortlaut der Bibel aufbaute – während ja die Päpste schon drei Jahrhunderte zuvor dem gemeinen Volk das Lesen der Bibel verboten hatten. Sie wussten ganz genau, dass ihre Art Theologie mit dem Wortlaut der Bibel nicht mehr viel zu tun hatte.
Deshalb hatten alle Reformationsbemühungen, die sich auf die Bibel beriefen, seit dem 14. Jahrhundert so eine Sprengkraft und wandten der Papst und die katholischen Herrscher auch blanke Militärgewalt auf, um jede ketzerische Bewegung im Blut zu ersticken. Aber 1519 war die Zeit reif. Auch wenn Luther noch nicht wissen konnte, wie stark seine Verbündeten sein würden. Er setzte auf die Überzeugungskraft der Worte.
Und er setzte auf ein Zeitgefühl, wie es die ganze Renaissance durchdrang: Das Höllenbild der Kirche wurde als finster, vorgestrig und falsch empfunden. Alles lechzte nach einer helleren, offeneren, freudvolleren Zeit. Und genau das hört man schon in den Kompositionen von Antoine Brumel, der 1519 schon tot war – aber er hatte in dieser Zeit einen Ruf wie der heute viel bekanntere Josquin des Préz. Ihre Musik verkörpert in ihrer Klangfülle das Gegenstück zu den großartigen Malereien Raffaels und Michelangelos. Und es waren die Fürstenhöfe, die diese Musik förderten, die aber eben auch oft Träger des Humanismus waren.
Was man heute kaum noch weiß, weil auch die meisten Kunsthistoriker Spezialisten mit Scheuklappen sind. Sie versuchen, geniale Maler wie da Vinci allein aus ihrem Genius zu erklären, zu einzigartigen Universalgenies zu machen – und lassen den ganzen Hintergrund einer Zeit, in der die Welt entdeckt wurde und das wissenschaftliche Denken endlich Raum gewann, einfach weg. Bei den Kirchenhistorikern ist es genauso. Sie sehen die Luthers als einsame Kämpfer gegen andere Theologen, merken bestenfalls noch ihre erstaunliche Nähe zu Dürer und Cranach an, merken aber nicht, dass das alles zusammengehört, dass das frühe 16. Jahrhundert die Zeit einer geistigen Revolution war.
Und was da genau passierte, ist auf dieser CD zu hören, denn die beiden begnadeten Sängerensembles – bereichert durch die glockenhellen Stimmen von Anna Kellnhofer und Isabel Schicketanz – haben Brumels großartige Oster-Komposition, die eigentlich die Auferstehung des Gekreuzigten aus seinem Grab schildert und die darauf folgende Erschütterung der Welt, mit Kompositionen gemischt, die aus der Zeit davor stammen.
Man begegnet also dem vollen Kontrast der umso wehmütiger und bedrückter klingenden Gregorianik zur neuen, vielstimmigen Chorkomposition. Und natürlich hat sich nicht nur Brumel auf die Scheibe verirrt, auch Josquin des Préz ist mit „De profundis“ vertreten und mit Johann Walter kommt dann auch noch ein direkt der Reformation verbundener Komponist zu Gehör. Man springt hörend eigentlich hin und her zwischen der regelrecht jubelnden Musik des 16. Jahrhunderts, in der sich keiner mehr in Trauergewänder kleidet, nicht einmal dann, wenn er wie Luther „Aus tiefer Not“ aufschreit zu Gott.
Denn jetzt steht niemand mehr zwischen dem gläubigen Reformator und Gott, keiner, der erst mal alle Höllenqualen aufzählt und dann Ablöse verlangt von den höllischen Strafen. Jetzt steht der Mensch in seinem irdischen Leid direkt der Macht gegenüber, die er über allem walten sieht. Und er muss sein Haupt nicht mehr verhüllen, er kann sich von Angesicht zu Angesicht hervorwagen, mit seiner Freude, seinem Leid, seiner Betrübnis und seiner Dankbarkeit.
Falls Georg Rhau tatsächlich die „Erdbebenmesse“ aufgeführt haben sollte, könnte man auch vermuten, wie sauer und angenagt die erzkonservativen Professoren der Uni Leipzig waren, als sie da mit den Gästen aus Wittenberg zusammen in der Kirche saßen und diesen Jubel hören mussten. Und dass sie auch deshalb ihren Fürsprecher anfeuerten, diesem Luther die Grenzen zu zeigen.
Warum fällt mit da gerade der Begriff „alte weiße Männer“ ein?
Weil es wohl auch stimmt, weil auch damals alte, vergnatzte Männer, die wollten, dass alles bei Alten bleibt und niemand es wagt, den engen Stall zu verlassen, alles taten, um diesen Aufbruch der Jugend mit allen Mitteln zu verhindern. Sie zürnten, wüteten, wetterten, schüchterten ein. So etwas Ähnliches, was heute in den „social media“ wütet, wurde damals als boshafte Kampfschrift in Massen gedruckt. Und zwar mit heftigen Emotionen von beiden Seiten. Denn die einen verteidigten die alte, starr geregelte Duckmäuserei ihrer Kirche, die anderen aber riefen: Raus ins Freie! Wir dürfen leben! Man denke nur an Luthers berühmtes Turmerlebnis.
Das steckt auch in dieser Musik, auch wenn Brumels „Erdbebenmesse“ schon lange vor Luther entstanden war. Da hatte der begnadete Komponist in Stimmen gesetzt, was eigentlich längst vielstimmig nach einem offeneren, freudigeren Leben schrie.
Das ist alles wieder (oder immer noch) gegenwärtig, denn augenscheinlich lösen sich auch die Generationen der alten, verknöcherten, sturen und boshaften Männer ab, die stets alle Register ziehen, um den Jungen und Andersdenkenden die Welt abzuschneiden und die Lust am Leben zu nehmen. Und das nur, weil sie selbst zu feige sind, ihren kleinen Stall zu verlassen, weil sie Angst vor den Schatten vor ihrer Höhle haben.
Man interpretiert die „Leipziger Disputation“ gern als den Bruch, der fortan dazu führte, dass die alte christliche Kirche zerbrach. Aber sie zerbrach nicht, weil Luther so beharrlich auf die Bibel verwies, sondern weil alte Männer nicht bereit waren, den ganzen Laden auszulüften und zu reformieren. Die katholische Kirche holte ein paar Reformationen dann im Lauf der Jahrhunderte nach – und ist heute noch nicht fertig damit. Nichts ist beharrender als alte Männerhierarchien.
Da könnte man wieder auf die Frauen zu sprechen kommen, die diese Einspielungen so voller Jubel machen. Das war ja bei Luther schon da, der nicht nur die Musik als Zwiegespräch mit Gott verstand, sondern auch die Frau neben sich liebte als Gleichgestellte und Lebensbereichernde. Die Emanzipation kann genauso auf 500 Jahre Geschichte zurückschauen wie der reformatorische Impuls, der die europäische Welt heller und offener werden ließ. Und dabei natürlich Dinge in Bewegung brachte, die die alten weißen Männer bis heute in empörte Verzweiflung stürzen, die immer wieder glauben, ihnen gehörte das alles und sie müssten verhindern, dass die Jungen anfangen, die Dinge zu verändern. Dafür gibt es dann Daumenschrauben und Scheiterhaufen. In immer neuen Varianten.
Man vergisst diese alten Säcke nur zu leicht, wenn man sich in diese Musik versenkt, denn schon bald ist man aufgelöst in Freude, Erwartung, Jubel und so einem schönen Gefühl, wie herrlich es sein kann, ein Mensch auf dieser Erde sein zu dürfen.
Calmus Ensemble/amarcord „Leipziger Disputation“, Carus 2019
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