Das Piano-Trio gehört zu den gängigsten Formationen jener höchst heterogenen Musikform, die wir der Einfachheit halber immer noch Jazz nennen. Wer sich in diesem Format Gehör verschaffen will, muss sich folglich etwas Besonderes einfallen lassen. Einer von denen, die das können, ist Johannes Bigge. Das Besondere im Besonderen des in Leipzig lebenden Pianisten besteht darin, dass es bei ihm gar nicht besonders, sondern ganz leicht, logisch und selbstverständlich klingt.
1989 in Berlin geboren, wuchs Bigge in einem musikalischen Elternhaus zunächst mit klassischer Musik auf, wurde aber gleichzeitig von der emotionalen Direktheit des Pop geprägt. Bereits mit 16 Jahren entdeckte er das Klavier-Trio als adäquate Ausdrucksform, der er bis heute treu geblieben ist.
Im Lauf seiner bisherigen Karriere, auf der ihm unter anderem Richie Beirach und Michael Wollny zur Seite standen, öffnete er sich nach allen Seiten und warf gleichzeitig immer mehr Ballast ab, um sein eigenes Idiom voll zur Entfaltung zu bringen. 2010 gründete er sein aktuelles Trio, dem seit Anbeginn die unglaublich dynamische Bassistin Athina Kontou angehört. Der trommelnde Tausendsassa Moritz Baumgärtner komplettierte die Formation vier Jahre später.
„Imago“ ist nach „Pegasus“ das zweite Album in dieser Besetzung. Die Musik wirkt vom ersten Ton an wie ein kollektiver Befreiungsschlag. Bigge leugnet keines seiner Vorbilder, die gleichermaßen in Jazz, Klassik und Pop zu finden sind, und doch musizieren die drei Visionäre dermaßen intuitiv und musikantisch, als hätte es noch nie zuvor die Aufnahme eines anderen Piano-Trios gegeben. Es geht dabei weder um Erwartungshaltungen noch um die Ausfüllung vorgeprägter Formen.
Im Gegenteil, jeder Song ist eine neue Entdeckungsreise. Die Kompositionen stammen zwar ausschließlich aus der Feder des Pianisten, aber in seiner Grundbeschaffenheit gleicht das Trio einem gleichseitigen Dreieck, bekanntlich eine der belastbarsten geometrischen Formen überhaupt. Die Länge der Seiten und der Schwerpunkt werden jedoch in jedem Song neu verhandelt.
Die Gleichseitigkeit dieses Dreiecks lässt sich auch mühelos auf die drei Komponenten Jazz, Pop und Klassik übertragen, die der Musik zu gleichen Teilen innewohnen. Wobei es hier nicht um Fusion oder oberflächliche Crossover-Konzepte geht, sondern um eine Art spiritueller Durchdringung der den besagten drei Basisgenres zugrunde liegenden Haltungen.
„Ich versuche die Emotionen, die im Pop stecken, in den Jazz zu übertragen“, erläutert Bigge, „denn die fehlen mir im Jazz oft. Die Besetzung, die Improvisation und unser Umgang mit verschiedenen Parametern und Formen kommen natürlich vom Jazz. Allerdings ist es uns wichtig, dass die Improvisationen immer eine Funktion innerhalb des Stücks haben und so klingen, als wären sie Teil der Komposition. Als Komponist aus Leipzig bin ich natürlich auch von der strukturellen Klarheit eines J.S. Bach geprägt. Am Ende wollen wir Komplexität immer mit Zugänglichkeit zusammenbringen.“
Auffällig ist auf Anhieb die Kürze und Prägnanz der Stücke. Dem Geist der spontanen Improvisation verpflichtet, ist Bigge jedoch voll und ganz Komponist. Er wägt alle Aspekte eines Musikstückes ab und weiß genau, wie viel von was ein Stück braucht. Was gesagt werden soll, wird gesagt, und fertig. Zugleich stecken die Tracks voller Dynamik, Emotion teils gegenläufiger Bewegung sowie überraschenden Stimmungs- und Tempowechseln.
Trotz provokanter Asymmetrie konzentriert sich Bigge immer aufs Wesentliche. Geschickt spielt er mit Widersprüchen. So sind seine Kompositionen gleichermaßen komplex und einfach, inbrünstig und sachlich, verstiegen und leicht zugänglich, klar strukturiert und doch voller verschlüsselter Bilder. Man muss dieses Album nur ein einziges Mal hören, und schon bleibt aus der Vielzahl der Motive jede Menge Abrufbares im inneren Player des Hörers hängen. Von welchem Jazz-Piano-Album könnte man das schon vorbehaltlos sagen?
Der Begriff Imago suggeriert gleichermaßen Bild und Einheit. Das Johannes Bigge Trio ist immer und in jedem spielerischen Moment im Bilde. Da spielt es kaum eine Rolle, welche Parts improvisiert oder komponiert sind, denn die jeweiligen Bilder sind extrem flexibel. Für Bigge selbst hat Imago noch eine weitere Bedeutung.
„Ich hatte über Insekten gelesen, das letzte Stadium ihrer Metamorphose nach Larve und Puppe wird Imago genannt, sozusagen das fertige ,Bild der Art‘. Das Stück ,Imago‘ mit seiner Idylle am Anfang, die mehrmals abrupt durchbrochen wird und sich dann zu etwas ganz anderem hin entwickelt, trägt diese Metamorphose, das Durchstoßen der Verpuppung und Erscheinen des Imago in sich.“
Auch diese Lesart macht Sinn, denn im Grunde geht es bei den Songs um verschiedene Zustände von Komposition, von denen das, was landläufig als Improvisation verstanden wird, lediglich der spontanste ist. Was zählt, ist das Ergebnis. Vollkommenheit als Ausdruck von Vergänglichkeit. „Auf das Album als Ganzes übertragen“, so Bigge, „haben sowohl wir als Band als auch die Musik seit dem letzten Album eine Metamorphose erlebt.“
Konzerttipp: 12. Januar, 20 Uhr im Mediencampus Villa Ida
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