Mit der Premiere des „Lohengrin“ sind am Mittwoch die diesjährigen Bayreuther Festspiele eröffnet worden. Rund 1.900 Premierengäste verfolgten die Neuinszenierung von Regisseur Yuval Sharon im restlos ausverkauften Festspielhaus. Das Bühnenbild von Neo Rauch und Rosa Loy war mit Spannung erwartet worden. Fans des Leipziger Künstlerpaares wurden nicht enttäuscht. Das Publikum reagierte gewohnt differenziert. Während Solisten und Dirigent Christian Thielemann mit Beifallsstürmen bedacht wurden, musste sich das Inszenierungsteam auch Buhs gefallen lassen.
Ursprünglich sollte sich Alvis Hermanis dem „Lohengrin“ widmen. Der konservative Lette warf Ende 2016 überraschend das Handtuch. Grund war die negative Berichterstattung über seine öffentlich artikulierte Kritik an der deutschen Flüchtlingspolitik. Rauch und Loy hatten zu dem Zeitpunkt ihr Konzept längst in weiten Zügen entwickelt, sodass Ersatzregisseur Sharon bei weitem nicht die künstlerischen Freiheiten genoss, derer sich ein Regisseur für gewöhnlich erfreut. Das Resultat der vergleichsweise kurzen Zusammenarbeit ist eine wundersame Phantasiewelt, die sich ästhetischer Versatzstücken des Mittelalters und der Romantik bedient, spürbar aber auch durch zeitgenössische Fantasy-Epen wie beispielsweise „Game of Thrones“ beeinflusst worden ist.
Wichtigstes Bühnenelement ist ein breiter Rundbogen, den das Künstlerpaar in den Theaterwerkstätten der Dresdner Semperoper mit Bäumen, Wolken und Lichtstrahlen bepinselt hat. Davor steht eine Transformatorstation in Delfter Kachelblau. Für die Künstler – so ist im Programmheft zu lesen – ein Bruch in der Lineatur rationaler Abläufe, aus denen das Geheimnisvolle in die Wahrnehmung trete. Zugleich böte die Konstellation mannigfaltige assoziative Anknüpfungspunkte.
Fünfeinhalb Stunden lang entführen die Künstler das Publikum in die mystische Märchenwelt, die der Fantasie von Gothics, Steampunks und Neoromantikern entsprungen zu sein scheint. Die Ouvertüre sei blau, von opiatischer, narkotischer Wirkung, soll einst Nietzsche ausgerufen haben. Im Programmheft ist nachzulesen, dass das Ausstatter-Duo in Unkenntnis des Zitats in einem Prozess des Ausprobierens und Experimentierens zu derselben Erkenntnis gelangt sei.
Das Regie-Team fokussiert sich inszenatorisch in die märchenhafte Komponente des Lohengrin-Stoffs, die sich als roter Faden durch den Abend zieht. Ihr assoziativer Anknüpfungspunkt ist dabei die Stärke (engl. Power) der Musik. Rauch und Loy schlagen mit dem Umschaltwerk die Brücke zum modernen Fortschritt und dessen Wurzeln in der Romantik. Ein Jahr nach der Uraufführung der Oper 1851 in Weimar entdeckte Anyos Jedlik die Stromerzeugung ohne Einsatz eines Permanentmagneten. Werner von Siemens brachte die Technik 1866 zur Serienreife.
In Bayreuth setzt jene Technik die Handlung in Fahrt. Elsa von Brabant (Anja Harteros), durch Friedrich des Brudermords angeklagt, erleidet auf dem Scheiterhaufen einen schweren Stromschlag, weil ihr besungener Ritter nicht erscheint. Erst als sie schon leblos am Boden liegt, tauchen Schwan und Titelheld auf. Der Kampf zwischen Lohengrin (Piotr Beczala) und Friedrich von Telramund (Tomasz Konieczny) wird spektakulär in der Luft ausgetragen. Der Protagonist stutzt dabei seinem Gegenspieler im wahrsten Wortsinn die Flügel. Er schlägt ihm mit seinem Schwert in Form eines Blitzes einen der Insektenflügel vom Rücken, mit denen die Macher alle männlichen Hauptfiguren ausgestattet haben. Friedrich ist bekanntermaßen ein schlechter Verlierer. Angestachelt von der hinterlistigen Hexe Ortrud (Waltraud Meier) bläst der Geschlagene zur Vergeltung. Welches humorvolle Ende sich Sharon, Rauch und Loy für den „Schützer von Brabant“ ausgedacht haben, sei an dieser Stelle nicht verraten.
Während die Inszenierung trotz des innovativen Bühnenkonzepts mit vielen Hinguckern und Wow-Momenten, der humorigen Einwürfe des Regie-Teams und einem Hang zur Werktreue, wie man ihn in Bayreuth in den letzten Jahren nicht erlebt hat, beim Premierenpublikum auf geteiltes Echo stieß, waren sich in Sachen Musik so ziemlich alle einig. Christian Thielemann, der jetzt den gesamten Bayreuth-Kanon dirigiert hat, begeisterte die Wagnerianer mit einem einfühlsamen Dirigat, das den Solisten den Vortritt ließ.
Dass die Sängerinnen und Sänger jederzeit bestens zu verstehen gewesen sind, war nicht allein der besonderen Akustik des Festspielhauses geschuldet, sondern auch Thielemann, der zwischen Orchester und Sängern eine bewundernswerte Balance kreierte, wie man sie in Wagner-Opern selten erlebt. Lautstärke kann jeder, doch der Schlüssel zum Lohengrin liegt in den stillen, verzaubernden Momenten des Werks. Thielemann versteht es, das Publikum aus der Interpretation heraus zu berühren, indem er die ganz besonderen Augenblicke auskostet. Wenn beispielsweise Piotr Beczala zur Gralserzählung ansetzt, gibt ihm der Maestro den Raum, welchen er benötigt, um die Wirkung der Arie voll zur Geltung zu bringen.
Der polnische Tenor zählt zu den großen Entdeckungen dieser Festspiele. Beczala, der erst gut drei Wochen vor der Premiere zur Produktion hinzugestoßen war, gab einen völlig anderen Lohengrin als zuletzt Klaus Florian Vogt. Breiter in der Stimmlage, dramatisch im Ausdruck und dennoch zart im Schmelz. Dieser Stil kam beim Bayreuther Publikum an. Mit Anja Harteros hatte der Sänger eine fulminante Rollenpartnerin an seiner Seite. Der Dialog zwischen Elsa und Lohengrin am Anfang des dritten Akts gehörte zu den ganz großen Augenblicken der Premiere, weil beide Solisten ihre Partien mit allerhöchster Emotionalität und Dramatik vortragen. Gleichwohl waren Beczala im Schlussakt leichte Anstrengungen anzumerken.
Hügel-Rückkehrerin Waltraud Meier interpretierte Ortrud durchweg mit diabolischen Schärfen. Tomasz Konieczny sang den Friedrich mit einer eisigen Gefühlskälte, die einem die Nackenhaare kräuseln ließen. Ab dem ersten Ton ist klar, wer der Bösewicht ist. Georg Zeppenfeld verlieh König Heinrich mit seinem angenehm warmen Bass einen väterlichen Anstrich. Für begeisternde Reaktionen sorgte außerdem der Festspielchor, den Chordirektor Eberhard Friedrich exzellent auf die anspruchsvollen Aufgaben vorbereitet hatte. Alles in allem bewegte sich der Premierenabend musikalisch auf allerhöchstem Niveau.
In Sachen Wagner sind die Bayreuther Festspiele – zumindest musikalisch – das Maß der Dinge. Die Inszenierung hat ihre visuellen Reize, die Assoziationsketten sind nachvollziehbar, ihre szenische Umsetzung eine Augenweide. Eines steht fest. Der Brückenschlag zwischen bildender Kunst und Richard Wagners Musiktheater ist jedenfalls gelungen. Die technische Umsetzung des Bühnenkonzepts entspricht dem state of the art. Dass die ungewöhnliche Symbiose aus Oper und „Neuer Leipziger Schule“ nicht jeden Geschmack trifft, war erwartbar. Zur Erinnerung: Hans Neuenfels’ Ratten-Lohengrin war bei der Premiere beim Publikum durchgefallen. Später war die Inszenierung Kult.
Die Premiere kann bei BR Klassik nachgehört werden. Eine Aufzeichnung ist am Samstag (28.07.) ab 20:15 Uhr auf 3sat zu sehen.
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