Alle Jahre wieder spielt das Gewandhausorchester zum Jahresausklang Beethovens 9. Sinfonie. In diesem Jahr wurde Alan Gilbert die Ehre zuteil, die drei ausverkauften Abende zu dirigieren. Der künftige Chefdirigent des NDR Elbphilharmonie Orchesters erntete am Freitagabend für seinen konservativen Blick auf den populären Klassiker Standing Ovations.
Mit rund 63 Minuten geriet der Abend etwas kürzer als im Vorjahr unter Andris Nelsons. Allerdings ließ Gilberts Dirigat lange Zeit die Dynamik und Begeisterung vermissen, die der designierte Gewandhauskapellmeister dem Werk einhauchte.
Gilbert gab den Musikern zu Beginn des Kopfsatzes und im Schlusssatz ein zügiges Tempo vor. War der Beginn von markanten Betonungen geprägt, verlor sich im zweiten und dritten Satz hörbar die Dynamik. Der bekannte Streichergesang im zweiten erklang schleppend, der dritte Satz beinahe durchgehend einschläfernd. Keine Spuren von dem rasanten Tempo eines Riccardo Chailly oder der Befreiung der Töne von ihren formalistischen Zwängen wie unter Nelsons. Gilbert fühlte sich hörbar der konservativen Interpretationsweise aus der Mitte des 20. Jahrhunderts verpflichtet, was bei weitem kein Makel, aber angesichts des musealen Charakters nicht jedermanns Geschmack ist.
Umso überraschender Gilberts lebendige Deutung des Schlusssatzes. Die Musik erwachte hier aus ihrer lethargischen Stimmung. Die Melodien der ersten drei Sätze, die der vierte im ersten Teil aufgreift, erklangen wesentlich lebendiger als zuvor. Gilbert führte das Orchester in jenem zügigen Tempo durch das lange orchestrale Vorspiel hin zum wunderbaren Schlusschor, das man heutzutage aus anderen Aufführungen gewohnt ist.
Gewandhauschor, GewandhausKinderchor und MDR Rundfunkchor meisterten die nicht einfachen Aufgaben, vor die sie Beethovens Partitur und Gilberts schnelles Dirigat stellt, wie in jedem Jahr mit Bravour. Die Sängerinnen und Sänger tragen die Chöre sogar komplett auswendig vor. Für die Soli hatte das Gewandhaus in diesem Jahr mit Genia Kühmeier, Gerhild Romberger, Klaus Florian Vogt und John Relyea vier herausragende Kenner des Fachs verpflichtet.
Unter ihnen stach Opernstar Vogt besonders hervor. Der Wagner-Spezialist bewies mit seiner charakteristisch zarten und jederzeit dominanten Tenorstimme seine herausragenden Qualitäten als Konzertsänger. Das Gewandhaus darf den 47-Jährigen, der zuletzt 2003 im Großen Concert zum Jahreswechsel zu hören war, gerne häufiger zu Konzerten und Liederabenden einladen. Das Publikum goutierte die Aufführung mit anhaltendem Beifall, der aber nicht ganz so frenetisch ausfiel wie bei den Aufführungen in den Jahren zuvor unter Nelsons und Altkapellmeister Herbert Blomstedt.
Kritikwürdig ist und bleibt die Preispolitik des Gewandhauses. Beethovens Neunte ist mit Kartenpreisen bis zu 180 Euro ein Luxusspektakel, das sich viele Leipzigerinnen und Leipziger schlicht nicht leisten können. Zwar wird das Konzert auch in diesem Jahr am Silvesterabend wieder live im MDR übertragen. Eine TV-Ausstrahlung kann das Live-Erlebnis im Konzertsaal jedoch nicht ersetzen. Insofern bleibt das Gewandhausorchester aufgefordert, Möglichkeiten zu finden, Beethovens wunderbare Musik auch sozial benachteiligten Leipzigerinnen und Leipzigern zugänglich zu machen.
Möglichkeiten wären die Schaffung eines Sozialkontingents zu reduzierten Ticketpreisen oder die Öffnung der Generalprobe für Erwerbslose, Ermäßigungsberechtigte und Geringverdiener.
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