Die Mode. Dieses eilige Frauenzimmer, diese vergessliche, närrische Mamsell. Die kannten auch schon die Bürger des frühen 18. Jahrhunderts. Das kannte zwar weder Eisenbahn noch Fernseher noch Radiocharts. Aber es kannte auch schon eine Beschleunigung der Dinge. Eine, nach der das 17. Jahrhundert geradezu gemütlich wirkte. Barock eben. Und schon zu Telemanns Zeit galt die Viola da Gamba als Instrument einer vergangenen Epoche.

Deswegen war es umso verblüffender, dass Georg Philipp Telemann, den die Leipziger gern als Thomaskantor bekommen hätten, tatsächlich noch für die Gambe komponierte und seine Kompositionen auch noch im Jahr 1735 im Eigenverlag veröffentlichte, gewidmet dem Hamburger Kaufmann und Bankier Pierre Chaunel, einem eifrigen Förderer der Musik. Doch diese ihm gewidmeten „12 Fantaisies pour la Basse de Violle“ waren lange verschollen. Und so war es ein riesiger Glücksfall, dass in der Sammlung der Eleonore von Grothaus auf Schloss Ledenburg, wo auch schon die frühen Kompositionen von Carl Friedrich Abel auftauchten, alle zwölf Gamben-Kompositionen von Telemann gefunden wurden. Fritzsch nennt sie „das Bernstein-Zimmer der solistischen Gambenmusik“ und bedankt sich logischerweise auch in diesem Fall bei Francois-Pierre Goy, der diese herrlichen Fundstücke in der Ledenburg-Sammlung aufspürte, die sich heute im Niedersächsischen Landesarchiv befindet.

So wird dem Gamben-Virtuosen auch in diesem Fall möglich, ein verschollen geglaubtes Stück Musik wieder hörbar zu machen. Um die zwölf Stücke einzuspielen, ist er diesmal in die Klosterkirche Zscheiplitz gefahren. Die liegt im Unstruttal, unweit von Freyburg. Ein „einzigartiger Raum der Entfaltung“, stellt der Musiker fest, der sich natürlich auch inhaltlich mit den Stücken auseinandergesetzt hat, mit diesen „Phantasien“, einem Topos, den man eigentlich eher 100 Jahre später in der Musik der Romantik verortet. Noch so eine „Mode“ in der Musik. Bis heute sind ja die Immer-Neuen geradezu versessen, immer kühnere Moden aus dem Boden zu stampfen. Möglichst im Jahreswechsel, damit gar niemand mehr zum Innehalten, Verschnaufen und Vertiefen kommt.

Deswegen passt das, was Thomas Fritzsch macht, eigentlich sehr gut in unsere besinnungslos gewordene Zeit. Auch deshalb, weil er mit der Viola da Gamba ein Instrument pflegt, das ab der Mitte des 18. Jahrhunderts begann, „unmodern“ zu werden, abgelöst von einer ganzen Reihe modernerer, auch einfacher zu spielender Instrumente. Aber Instrumente erleben ja nicht nur ihren Aufschwung, weil sie technisch moderner sind, sondern weil sie auch den Ton der Zeit besser treffen – heller, schneller, deutlicher sind, mehr Artistik ermöglichen. Tempo und Fortissimo hieß es auch schon zu Telemanns Zeit. Und so ging der Komponist auch mit der Gambenmusik um, entlockte dem eigentlich auf Besinnlichkeit gestimmten Instrument erstaunlich neue Töne.

Diese Stücke mag die musikliebende Eleonore von Grothaus durchaus auch in den stillen Abenden auf Schloss Ledenburg gespielt haben. Aber hier deutet sich schon etwas an, was sich erst im Verlauf des 18. Jahrhunderts so langsam zur romantischen Kammermusik des 19. Jahrhunderts hin entwickeln würde. Nur dass da dann nicht mehr die barocke Gambe für den Grundton sorgen würde, sondern Piano und Violine. Und trotzdem hat Telemann sich noch einmal der Gambe gewidmet und in diesen zwölf Kompositionen alle Spielmöglichkeiten ausgereizt, die das Instrument bietet. Man hört die so herrlich innige Kammersonatenform, bei der man unwillkürlich die stille Landschaft einer Zeit vor Augen hat, in der es schlichtweg keinen Lärm gab, und niemand Häuser lärmdämmen musste, um drinnen noch sein eigenes Wort zu verstehen. Wo man sich im großen Raum am Feuer traf und sich in diesen Klängen selbst wiederfand: erdschwer, und wenn beschwingt, dann immer mit dem ganzen Körper. Nicht nur Herzflattern und nervöses Fingerspiel.

Das Verspielte, das Konzertante, das deutete sich zu Telemanns Zeiten erst an. Insbesondere mit Anregungen aus Frankreich, wo damals der Ton und das Tempo der Zeit vorgegeben wurden. Die Widmung an den hugenottischen Kaufmann ist nicht ganz zufällig. Frankreich war das Mode-Vorbild der Zeit. In der Literatur, in der Oper, im Theater, in der Musik. Bei der Kleidermode und der Architektur ist das ja bekannt. Der alte, spanisch dunkle Barockstil wurde durch den neuen, leichteren französischen Barockstil abgelöst, der schon schelmisch zum Rokoko hinüberschielte.

Aber Rokoko hört man hier noch nicht, auch keinen französischen Ton. Eher das fast sinnliche Spiel mit polnischen und mährischen Liedklängen. Telemann nutzte die Gelegenheit wirklich, aus dem strengen Kanon auszubrechen, ihn fast verspielt zu überschreiten und der Gambe dabei Emotionen zu entlocken, die man ihr eigentlich nicht zugetraut hätte. Womit er natürlich seine Meisterschaft zeigt. Möglich, so vermutet Thomas Fritzsch, dass Telemann selbst ein Meister auf dem Instrument war. Zumindest wusste er genau, was man der Gambe entlocken konnte und wo sie Spielweisen ermöglichte, die schon deutlich über ihre Zeit hinauswiesen, eben in diese neue, sichtlich eiligere und verspieltere Zeit verwiesen, in der das Ausprobieren geradezu zum Grundanspruch des Kunstmachens wurde.

Es war auch eine Zeit, die sich im gesellschaftlichen Diskurs nicht ohne Grund Aufklärung nannte – und das durchaus auch so meinte: Mehr Licht! Es war die Zeit, in der die Städte mit ersten Stadtbeleuchtungen illuminiert wurden, die ersten  bürgerlichen Orchester entstanden und die Kaffeehausmusik in Mode kam. Die Art der Geselligkeit änderte sich deutlich. Und so hört man in diesen Stücken genau das: Wie sehr das alles zusammenklingt und sich gegenseitig beeinflusst, wie aus dem noch sehr nachdenklich gestimmten Ton und Tempo des 17. Jahrhunderts in den ersten Jahrzehnten des 18. Jahrhunderts schon ein anderes Tempo wurde und damit ein anderer Ton, auf den die europäischen Gesellschaften sich einstellten.

Dieselbe Beschleunigung kann man auch in den Militärmärschen der Zeit ablesen. Aber ganz bestimmt hätte sich auch ein Telemann, der ja nun wirklich an der Spitze der musikalischen Entwicklung seiner Zeit stand, schon 100 Jahre später höchst unwohl gefühlt. Auch wenn er genau diese Zeit vorwegnahm, wenn er – wie Fritzsch schreibt – „sein Füllhorn musikalischer Ideen“ ausgießt und diese so gemütliche Gambe zu verspielten Tönen reizt, die so gar nicht zu ihr zu passen scheinen. Und doch gelingt es. Und man ahnt, dass man auch auf Schloss Ledenburg mit einigen dieser zwölf Phantasien so richtig Spaß hatte.

Das klingt, jetzt, als wäre die Gambe nun wirklich Vorgeschichte. Aber das ist sie nicht. Gerade diese Musik erinnert daran, dass wir schon längst und viel zu oft in einem völlig überzogenen Tempo leben und Wesentliches (und darunter auch uns selbst) oft nicht mehr spüren und wahrnehmen. Mancher schon längst so außer sich, dass er aus der wilden Hatz, die schon längst auch keinen Raum mehr lässt, die Dinge wirklich zu begreifen und sie zu durchdenken, gar nicht mehr aussteigen kann und Entzugserscheinungen bekommt, wenn er nicht auf sein Smartphone starren und Informationen saugen kann, die so banal, fragmentiert und oberflächlich sind, dass nur noch ein Rauschen entsteht, ein einziges Gekreisch um Aufmerksamkeit.

Knopf aus.

Stille.

Kopfschütteln.

Und einfach die CD einlegen und richtig merken beim Abtauchen, wie die ratternde Maschine immer langsamer wird und am Ende das Gefühl immer stärker wird, dass wir uns erst im gebremsten Zustand wieder ähnlich sind. Geerdet auf eine zutiefst sinnliche Weise. Da ist man nicht nur Fritzsch und Telemann dankbar, sondern auch dieser musikliebenden Eleonore von Grothaus, die die Noten bewahrt hat, als andere Leute schon verzückt waren vom Stakkato der nächsten und übernächsten Mode und alles entsorgten, was man nun auf einmal für antiquiert hielt.

Man schmeiße also lieber nicht gleich alles weg, wenn die Dummköpfe es einem einreden wollen. Denn das Jetzt begreifen wir nur, wenn wir unser Gewordensein begreifen. Auch wenn wir mit diesen Telemannstücken eigentlich das meisterhaft zusammengefasste Resultat eines vergangenen Zeitalters hören. Aber nichts ist wirklich vergangen. Aber das merkt man meist erst, wenn man sich mit wachen Sinnen einmal ausklinkt aus dem Modetaumel der Zeit. Dies hier ist eine sehr sinnliche Gelegenheit dazu.

Georg Philipp Telemann „12 Fantaisies pour la Basse de Violle“, Coviello Classics 2016

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