Wer vor Wochen und Monaten eine Karte für den Abend gekauft hatte, wird zumindest ein bisschen enttäuscht gewesen sein. Nach Riccardo Chaillys kurzfristiger Absage übernahm Markus Stenz das Dirigat von Mahlers 10. Sinfonie.
Der Einspringer genießt bei Weitem nicht das Renomée des Weltstars Chailly. Stenz ist seit 2012 Chefdirigent des Radio Filharmonisch Orkest (RFO) in Hilversum und ab der Spielzeit 2015/2016 Erster Gastdirigent des Baltimore Symphony Orchestra. Im Gewandhaus stand der 50-Jährige zuletzt 2009 am Pult.
Dass Mahlers Zehnte überhaupt aufgeführt werden kann, hat die Musikwelt Deryck Cooke zu verdanken. Der englische Musikwissenschaftler erstellte Anfang der Sechziger eine Aufführungsfassung der nur fragmentarisch vorliegenden Sinfonie. Gustav Mahler (1860 – 1911) begann das Spätwerk im Sommer 1910. Zu jener Zeit erfuhr der Österreicher von einer Affäre seiner Gattin Alma mit dem jungen Walter Gropius.
Die Lebenskrise, ausgelöst durch einen falsch adressierten Liebesbrief, trieb den Komponisten tief in die Verzweifelung. Das Manuskript der unvollendeten Sinfonie überlieferte der Nachwelt anhand einer Fülle intimer Eintragungen die Gewissheit, dass Mahler sich seinerzeit in der schwersten Krise seines Lebens befunden haben muss. Das Spätwerk blieb der Nachwelt viele Jahre verborgen. Erst in den 1920er Jahren veröffentlichte Alma Mahler in wirtschaftlicher Not große Teile der Sinfonie als Faksimilie. Durchsetzen konnte sich das Werk erst im Zuge der Mahler-Renaissance in den Sechziger Jahren, als mehrere Rekonstruktionen des Gesamtwerks erschienen.
Viele namhafte Dirigenten – unter ihnen der große Kurt Masur – weigerten sich hartnäckig, diese Bearbeitungen ins Repertoire aufzunehmen. Deryck Cookes Version der Symphonie war deshalb erst 2001 (unter Leitung von Daniel Harding) im Großen Concert zu hören.
Von Markus Stenz’ Dirigat bleibt vor allem der erste der fünf Sätze, das Adagio, das Mahler noch zu Lebzeiten vollenden konnte, im Gedächtnis. Die Bratschen arbeiten gemächlichen Schrittes, aus der Tiefe des Saals, in das Werk. Die Violinen und Bläser stimmen nach wenigen Takten mit butterweichen Tönen in die harmonische Melodie ein. Zum Träumen schön. Mächtige Streicher tragen Mahlers wallenden Klangteppich mit einer pathetischen Wucht, die im zweiten, dramatischeren Teil des Satzes ihren Kulminationspunkt findet. Konzertmeister Sebastian Breuninger trumpft mit tänzelnden Soli auf.
Im Finale des Satzes kreieren die leise vor sich hin atmenden ersten Violinen einen knisternden Spannungsbogen, den Stenz von einem plärrenden Streichertutti jäh abwürgen lässt. Die markerschütternden Dissonanzen, mit denen Mahler das Adagio ausklingen lässt, hinterlassen Fragezeichen, auf die die leise einsetzende, zarte Harfe keine Antworten weiß.
Nach kurzer Verschnaufpause jagt Stenz das Orchester im Schweinsgalopp durch das erste Scherzo. Die Musik erklingt taktweise explosiv, geradezu lebensbejahend. Die Vergänglichkeitsmotivik, die das Adagio geprägt hat, scheint vergessen. Keine Spur von der Finsternis, die den ersten Satz umgeben hat. Der vierminütige Mittelsatz, das Purgatorio, besticht durch zwitschernde Soli von Flöte und Oboe. Blech und tiefe Bässe sorgen in den Schlusstakten für schmetternde Dissonanzen.
Das zweite Scherzo dirigiert Stenz betont dynamisch. Der Dirigent lässt der Ungestümheit von Mahlers Musik freien Lauf. Die dumpfen Schläge der großen Trommel lassen dem Zuhörer das Blut in den Adern gefrieren. Dass Schlagwerker Wolfram Holl das Trommelfell im wahrsten Wortsinn zum Platzen bringt und die letzten Schläge auf dem Resonanzfell ausführen muss, ist eine amüsante Randnotiz wert. Der verstörend klingende Schlusssatz findet mit versöhnlichen Harfenklängen ein gutes Ende. Die Zuhörer sind von Stenz’ handwerklich solider Interpretation begeistert und spenden anhaltenden Beifall.
Das Konzert wird am Sonntag, 11 Uhr, wiederholt. Ein Mitschnitt ist am 12. Februar um 20:03 Uhr bei Deutschlandradio Kultur zu hören.
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