Wenn der Thomanerchor mit dem Gewandhausorchester die Johannes-Passion aufführt, ist die Thomaskirche restlos ausverkauft. Jedes Jahr an Gründonnerstag und Karfreitag quälen sich Kulturbeflissene stundenlang auf den harten Holzbänken, um Bachs Passionen an historischer Stätte zu hören. Interimskantor Gotthold Schwarz traf gestern mit einer lebendigen Interpretation den Nerv des Publikums.
Die unterkühlte Akustik ist nicht mit dem wohltuenden Raumklang des Gewandhauses vergleichbar. Der Blick auf Musiker und Chor ist von den allermeisten Plätzen stark eingeschränkt bis gar nicht vorhanden. Trotzdem zieht das wiederkehrende Konzert-Ritual im Jahr 2015 wieder tausende Bachfans in seinen Bann.
Interimskantor Gotthold Schwarz präsentiert den Zuhörern eine lebendige Johannes-Passion. Die Chor-Passagen entfalten unter Leitung des langjährigen Kirchenmusikers eine zügellose Explosivität. Die jungen Thomaner tragen die schnellen, mehrstimmigen Juden- und Hohepriester-Chöre mit technischer Perfektion vor.
Unter den Solisten sticht Daniel Johannsen hervor. Der Tenor erweist sich in der Evangelisten-Partie als vielseitiger Geschichtenerzähler, der stets den passenden Unterton auf Lager hat. Daniel Ochoa verleiht Jesus eine gehörige Portion Bassschwärze. Sopranistin Elisabeth Breuer, die kurzfristig für die erkrankte Gesine Adler eingesprungen ist, besticht mit belebend vorgetragenen Arien. Ihre Interpretation des Bach’schen “Zerfließe, mein Herze” trifft den Zuhörer direkt ins Mark.
Gotthold Schwarz stellt mit der Aufführung wieder einmal seine Qualitäten als versierter Chorleiter unter Beweis. Das Publikum ist angetan. Manche Zuhörer lassen sich zu stürmischem Applaus hinreißen, obwohl sich dies nach einer Passion eigentlich nicht geziemt. Jedoch wird das Engagement des Kirchenmusikers an der Spitze der Thomaner nur von kurzer Dauer sein. Das aufwendige Findungsverfahren für einen Nachfolger des langjährigen Thomaskantors Georg Christoph Biller ist bereits angelaufen.
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