Magdeburg, Potsdam, Bremen, Weimar - es ist, als würde Dagmar Manzel einen großen Bogen um Leipzig machen. In Dresden hat sie gesungen im Mai, in Stralsund, sogar in Duisburg. Nur in Leipzig nicht. Und die Scheibe liegt nun seit Monaten herum in der Redaktion. Was machen wir damit, wenn die Dagmar nicht kommt?
In Potsdam, Bremen und Magdeburg will sie dieses Jahr noch singen. Dann ist dieses Jahr rum. Aber dann stehen im nächsten auch nur Pforzheim, Weimar und Eltville auf ihrem Reisekalender. Eigentlich dachte ich mal – früher – so vor paar Tagen noch: Leipzig ist der Nabel der Welt. Hier kommen sie alle her. In die Arena zum Beispiel, wenn das Gewandhaus von einer Schlagerrevue belegt ist. Aber denkste. Der Nabel der Welt muss anderswo sein. Und jetzt kann ich nur sehen, dass ich mir ein Ticket für anderswo kaufe. Damit ich sie mal sehe, richtig, vorn auf der Bühne mit Michael Abramovich am Klavier. Menschenskind. Das war jetzt kein Seufzer. So heißt ihre CD. Im Januar rausgekommen, seitdem hier bei uns im Wartefach. Immer in der Hoffnung, dass vielleicht eines dieser Leipziger Häuser meldet: “Jetzt kommt sie. Wir haben noch einen Termin frei geräumt in unserem Kalender.”
Am 18. Oktober zum Beispiel. Das wäre Friedrich Hollaenders Geburtstag. Oder am 18. Januar. Das wäre sein Todestag. Friedrich Hollaender – den wird man noch kennen, wenn die ganzen Schlagerbarden, die heute die Leipziger Kalender blockieren, vergessen sind. Da bin ich mal sicher. Und das wird nicht nur an all den Filmen liegen, in denen seine Lieder gesungen werden. Angefangen beim “Blauen Engel”, in dem Marlene Dietrich dieses unsterblich schöne Lied singt: “Ich bin von Kopf bis Fuß …”
“Leo, du schwärmst”, tadelt mich meine allerliebste Bäckerin.
Na und? Mir geht es schon lange so: Lebendig waren wir alle nur 15 kurze Jahre lang. Und da war ich noch gar nicht dabei. Und das bedauere ich ein bisschen. Manchmal. In stillen Stunden, wenn der Mond durchs Fenster scheint und einer sein Grammophon ankurbelt. Was natürlich nicht passiert. Und wohl auch damals in Berlin nur so war, wenn Trude Hesterberg in der “Wilden Bühne” auf die Bühne kam und Hollaenders Lieder sang. Ein Traum. Während die Weimarer Republik sich auf den Straßen die Köpfe blutig schlug, träumten ein paar Leute vom richtigen Leben. Und sie träumten so schön, dass das heute noch nachwirkt. Als hätte das meinereiner mal selbst geträumt. Irgendwann. Kürzlich, als ich jung war und meiner Allerliebsten ein Sträußlein Veilchen durch die Tür hielt: “Magst du mich oder lieber die Veilchen?”
Die Frage hat sie bis heute nicht beantwortet. Die Veilchen hat sie trotzdem genommen.
So ein Gefühl ist das. Bei Kästner findet man das. Und bei Tucholsky. Und bei Ringelnatz. Alle in dem großen traurigen Träumerkreis um Friedrich Hollaender. Und alle so schreckliche sentimentale Wahrheitssucher. Auch über dieses ewig Zwischenmenschliche, das sich nicht aufdröseln lässt. Deshalb wird es ja so gern verklärt. Die Liebe, das Verliebtsein, das Vernarrtsein, die Leidenschaft und die Sehnsucht, all diese scheußlichen Krankheiten, an denen man sich immer wieder ansteckt und denkt, es sei Paradies und Hölle auf einmal. Und hinterher ist man nicht klüger. Und nur die Frauen haben was gelernt. Über sich und über uns. Oder sie tun wenigstens so.
“Stimmt schon, Leo”, sagt meine heimliche Leserin.
“Was stimmt von beidem?”
“Beides natürlich.”Wahrscheinlich ist es das, was Dagmar Manzel an Hollaenders Liedern so gefällt. “Unvergleichlich heiter melancholisch”, schreibt sie in dem Booklet für die CD. Wer also keins der Konzerte erwischt, kann sich das Alles auf den Recorder legen, das Licht dimmen, sich zurücklehnen und abtauchen. Die Stimme kommt einem sowieso vertraut vor, etwas rau, etwas rauchig. Dagmar Manzel ist eine der erfolgreichsten Operetten- und Musicalsängerinnen von heute. “Kiss me Kate”, “Im Weißen Rössel” und auch Weill hat sie schon gesungen in “Die sieben Todsünden”. Und sie lebt zumeist in Berlin. Da kommt man an Hollaender nicht vorbei, wenn man kein oberflächlicher Mensch ist. Am Haus Cicerostraße 14 in Halensee, wo er bis 1933 gewohnt hat, gibt es seit 2009 eine Gedenktafel. Und in den Varietés und Kabaretts ist er sowieso immer wieder zu hören. Auch die “Lieder eines armen Mädchens”, die Hollaender 1923 für Blandine Ebinger geschrieben hat. Lieder aus den mondbeschienenen Hinterhöfen, voller Hoffnung, Armut und Lebenswitz. Das bekannteste hat Dagmar Manzel mit eingesungen: “Ick möchte Klavierspielen können”.
Nie ist die Welt so, wie man sie sich wünscht. Und wenn ein armes Mädchen träumt, träumt es von einem reichen Mann. Das war so, das ist so. Ansonsten muss man dafür schuften. Oder sich verkaufen. Das ist auch noch immer so. Auch das ist ein Lied aus den “Liedern eines armen Mädchens”: “Auf den Höfen des Geldes wegen”. Das ist ein ganzes Stück Zille. Genauso wie “Die Kleine mit den Schwefelhölzern”.
Die meisten anderen Lieder sind aus den Filmen, mit denen Hollaenders Lieder weltberühmt wurden – aus “A Foreign Affair” oder “Der Mann, der seinen Mörder suchte”. “Ich bin die fesche Lola” singt Dagmar Manzel nicht, dafür “Falling in Love again”, hübsch in der Mitte. Damit man sich nicht ganz so traurig fühlt zwischen all den menschlichen Abgründigkeiten des fernen, fernen Berlins. Wo gibt es denn so was? Noble Staatsangestellte, die nachts als Diebe in die Kammern der Mütter und Töchter einsteigen? Oder diese schreckliche romantische Mondsüchtige, die gar nicht weiß, wie ihr passiert, wenn der Mond scheint?
Aber Vorsicht: Die CD hat eine Dramaturgie. Am Ende wird’s traurig. Wenn Dagmar Manzel das “Wiegenlied an die Mutter” singt. Wer hat seine Mutter je so beweint, wenn sie ging? Doch. Das hat Mancher. Aber man erzählt das meist nicht. Schon gar nicht als Mann, wo man doch groß und stark ist mittlerweile. Und kein Muttersöhnchen. Natürlich nicht. Wir spielen unsere Rollen. Und werden unwirsch, wenn man uns das ansieht.
Dabei hat Hollaender gut gewusst, dass die Rollen allesamt falsch sind und verlogen. Bestenfalls helfen sie, der Welt aus dem Weg zu gehen. Und die Dinge hübsch in Folie zu wickeln. Und Gesetze und moralische Normen drüber zu streichen. Damit das mal geklärt ist. Ein für allemal, nicht war? – Damit sind wir vollgestopft. Und verpassen uns selbst dabei. Ganz gründlich.
Das vorletzte Lied “Ich weiß nicht, zu wem ich gehöre” hat Trude Hesterberg gesungen damals, 1931, in “Stürme der Leidenschaft”. Und viele große Chansonsängerinnen haben es ihr nachgetan – mal forsch, mal genussvoll, mal schmachtend. Dabei ist es ein trauriges Lied, das auch ein bisschen was über Männer erzählt. So nebenbei, auch wenn es hier die ewig Liebende ist, die nicht fasst, das sie Männern immer wieder untreu werden muss. Was treibt sie da? Was treibt uns da? Oder machen wir uns etwas vor, wenn wir uns dieses Verlassen und Verlassenwerden nicht zugestehen …
“Leo!”
“Keine Bange, ich bin nicht untreu.”
“Das klang eben anders.”
“Eben, mein Zuckerherzchen. Das ist es ja, was mich verwirrt.”Und damit man an dieser Stelle nicht zu schniefen anfängt, gibt es “Ich bin von Kopf bis Fuß auf Liebe eingestellt” noch als Zugabe. Nicht so schmachtend wie einst bei Marlene. Ein klein bisschen anders, so wie Dagmar Manzel versucht hat, all diese Lieder, die man oft schon fest im Kopf gespeichert hat, gesungen von den begnadetsten Sängerinnen der kleinen Bühne, von Lotte Lenya, Marlene Dietrich, Trude Hesterberg, Marianne Wünscher … – ein bisschen anders zu singen, den eigenen Ton zu finden. Was schwer ist. Denn heute tauchen diese Lieder ja auch bei Ute Lemper im Programm auf, bei Georgette Dee und Marianne Faithfull.
Aber was passiert, wenn man das Tempo leicht verändert, die Forschheit rausnimmt, das Verruchte aus “Ich bin von Kopf bis Fuß …” – Dann bleibt das Fatale übrig, aus dem unser Leben gemacht ist. Und dann heißt es ja eigentlich nur: Das Beste draus machen. So gut man kann. Da geht es den Frauen nicht anders als den verwirrten Professoren. Das lernt Mancher nie. Und glaubt doch zu leben. Auch wenn er sich nur betäubt im Rausch der Zeit. Das ging damals schon los. Und Hollaenders Lieder waren auch so ein kleiner, beharrlicher Protest gegen die öffentliche Raserei, das verordnete Rasen.
Am Ende steht meinereiner mit einem Hauch von Veilchenduft am offenen Fenster, der Mond hängt oben, der Himmel ist nicht blau, eher rötlich. Und wenn unten einer Musik machen würde, würde man das gar nicht hören, weil die Stadt von einem wilden Dröhnen und Rasen erfüllt ist.
“Traurig, Leo?”
“Wenn du da bist, schon.”
“Was soll das heißen? Willst du dass ich …”
“Das heißt nur, dass Frauen und Männer sich nie verstehen.”
“Das ist schrecklich.”
“Nein. Ich denke mal eher: Das ist der Normalzustand. Alles andere ist gelogen.”
“Und nun?”
“Nun missverstehen wir uns ein bisschen.”
“Wie gestern?”
“Ja. Das war doch schön.”
Dagmar Manzel “Menschenskind”, Deutsche Grammophon, 2014
Reinhören: www.universal-music.de/dagmar-manzel/termine/detail/termin:134357/live
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