Um die Jahreswende herum gehen die Gedanken normalerweise in zwei Richtungen: Rückblick und Ausblick. Wenn mich nun die Leipziger Internet Zeitung darum bittet, meine ganz persönliche Leipziger Träumerei aufzuschreiben, dann bin ich entsprechend hin- und hergerissen. Leipzig wirft mir als geschichtsträchtige Stadt täglich so viele Spuren vor die Füße, denen nachzugehen sich auch immer lohnt. Die Pfade in die Vergangenheit offenbaren große und kleine Geschichten. Die Schrecken der Kriege, die hier wüteten. Das Unrecht der totalitären Regime, sowohl getragen als auch bekämpft von Leipziger Bürgern.

Ein in Schulbüchern abstrakt daherkommender Völkermord, der dank zahlreicher Stolpersteine beim Spaziergang greifbar wird als Mord an Leipziger Mitmenschen. Es kann beklemmend sein, diese Pfade abzuschreiten. Öfter jedoch empfinde ich es als befreiend, mich in einer Stadt wiederzufinden, die eine bewegte und bewegende Vergangenheit hat, eine Geschichte, einen Charakter. Es ist gut zu wissen, dass die Wunden der Kriege und ungeheuerlichen Verbrechen Narben und Zeichen hinterlassen haben, deren Bewusstsein uns auf absehbare Zeit – so hoffe ich jedenfalls – vor dem Rückfall in die Barbarei bewahrt.

Aber es sind ja nicht nur düstere Spuren, die man findet, wenn man mit offenen Augen durch Leipzig spaziert. Wenn wir uns mit Leipzig als unserer Stadt identifizieren, dann dürfen wir auch stolz sein auf eine reichhaltige Kultur, die in die ganze Welt hinausstrahlt. Nicht nur die Leipziger Notenspur zeugt von dieser Geschichte. Nicht nur die Geburts- und Wirkungsstätten zahlreicher Künstler, Philosophen und Wissenschaftler. Nicht nur altehrwürdige Institutionen wie die Thomaner oder die hiesige Universität. Leipzig blickt zurück auf großartiges Kabarett, auf kompromisslos gelebte Beatmusik, auf die beiden Leipziger Schulen in der Kunstmalerei, auf einen der ersten Technoclubs Ostdeutschlands, auf eine lebendige und sprühende freie Szene.

Anders als von den düsteren Pfaden des Krieges und der Gewalt wünschen wir uns von den Pfaden der Kultur, dass sie nicht in der Vergangenheit ihren Höhepunkt haben und im Heute nur noch müde nachhallen, ohne Ausblick auf Größe in der Zukunft. Wir haben Leipzig zur “Creative City” ernannt und verweisen gern auf die reichhaltige Kultur als Standortfaktor. Und doch muss ich als Kreativer in Leipzig leider feststellen: Hier ist der Punkt, an dem wir nicht mehr mit offenen Augen durch die Stadt gehen, sondern anfangen zu träumen.
Damit wir uns nicht falsch verstehen: ich träume diesen Traum mit Leib und Seele, ich brenne für diesen Traum. Ich verbrenne für diesen Traum. Für mich und viele meiner Kollegen heißt es täglich, den kulturellen Pfad in die Zukunft einer Gegenwart abzutrotzen, die eigentlich keinen Raum für Kulturschaffende bietet. Wir mögen im Moment des Auftritts auf der Bühne, der Ausstellung unserer Bilder, der Vorführung unserer Filme umjubelt werden, es mag sich der Bürgermeister mit uns fotographieren lassen. Am nächsten Tag sitzen wir doch wieder im Jobcenter und müssen Rechenschaft ablegen, warum man denn nicht “etwas richtiges” arbeite, müssen darum kämpfen, uns nicht deutschlandweit in Schichtarbeit vermitteln zu lassen, weil ja die Kunst nicht tragfähig sei.

Mein Traum ist, das Leben als Künstler in all seinen Entbehrungen leben zu dürfen. Dass es für die meisten von uns ein hartes, karges Leben ist, hat uns alle nicht davon abgehalten, es zu führen. Wer dafür brennt, der kann es nicht lassen. Und nur wer dafür brennt, schafft auch die Kunst, für die das heutige Leipzig in dreihundert Jahren von unseren Nachfahren ebenso als großartige Kulturstadt angesehen werden wird, wie wir das Leipzig Johann Sebastian Bachs ansehen.

Aber allein der Wille zu brennen reicht nicht. Es braucht auch Kohle, so banal das klingen mag. Kürzungsorgien in der kommunalen Kulturförderung gerade für die Spielstätten der freie Szene, die 60% der Leipziger Kulturwirtschaft ausmacht, schlagen natürlich auf die Kulturschaffenden durch. Hinzu kommt, dass sich viele Bürger der Armutshauptstadt Leipzig unter dem Regime Hartz 4 kaum noch leisten können, Kultur zu konsumieren. Es kursiert von Jahr zu Jahr weniger Geld im Kreislauf der Kulturwirtschaft. Ein Umstand, der das Prekäre unserer Zunft stetig verfestigt.

Der Moment aber, an dem der Traum wirklich zum Albtraum wird, ist, wenn einen die Behörde bei Sanktionsdrohung nötigt, die notwendigen Arbeitsbedingungen aufzugeben: Wohnsitz in Leipzig, Aufenthalt außerhalb der Stadt auch öfter als 21 Tage im Jahr und die Flexibilität und Planungssicherheit, jederzeit einen Auftritt annehmen zu können, gern auch fällig erst in fünf Monaten.

Aber es gibt auch immer wieder Hoffnung. Eine Petition gegen Sanktionen. Oder die zunehmende öffentliche Debatte um das Bedingungslose Grundeinkommen (als Diplompolitologe, der ich ja nebenbei auch bin, sage ich: das ist ohnehin die Zukunft – nicht nur für Leipzig, sondern für Deutschland und Europa). Und allem voran eben doch die Momente, in denen man den Traum nicht nur träumt, sondern lebt. Wenn ich auf der Bühne stehe und mit meiner Band unloved vor zwei, zwanzig oder zweihundert Leuten unsere Vorstellung von großartiger Musik abfeuere und diese tatsächlich auf begeisterte Resonanz stößt. Wenn ich in Stunden des Selbstzweifels eine CD einlege und feststelle, dass sich der ganze Irrsinn doch gelohnt hat. Wenn ich durch Leipzig spaziere und meinen eigenen Spuren oder den Spuren meiner Kollegen begegne. Ein Plakat, ein Flyer, ein T-Shirt-Motiv.

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