"Ein Motiv Richard Wagners ist dabei. Sie werden es erkennen", kündigt der Organist Wolfgang Seifen selbst an. Denn die Programmtitel hat nur er in der Hand und erst vor wenigen Minuten festgelegt. Konzertbesucher konnten im Foyer ihre Musikwünsche abgeben. Motive, Themen, Titel waren gefragt - vorzugsweise in Notenschrift. "Fast alle haben was aufgeschrieben!", resümierte Abendschließer Hubert Elitzsch.
Weil das Gewandhaus im Programmheft vergaß abzudrucken, welchen stilistischen Ablauf sich Wolfgang Seifen ausgedacht hatte, wurde er flugs zum Moderator. Weil es offensichtlich niemanden an jenem Sonnabend im Gewandhaus gab, der ihm ein Mikrofon hingestellt hätte, sprach er ohne technische Unterstützung. So was kann Prof. Wolfgang Seifen, aber dazu war er nicht engagiert worden und nicht vorbereitet. Gelungen ist es ihm. Aber da liegt der routinierte Betrieb Gewandhaus nicht ganz in der “Notenspur”. “Ich mache das ja ungern”, sagte der Orgelprofessor nach dem Konzert, “ich will mich lieber konzentrieren.”
Themenwünsche des Publikums in alten Musik-Formen
Und so begann der Abend mit der Ansage: “Niemand weiß, was passiert. Auch ich nicht.” So stimmt es nicht ganz. Musikalisch-stilistisch war die Orgel schon programmiert, bevor die Themen festgelegt wurden. So ergibt sich ein Spagat zwischen Orgelbautechnik, Improvisation des Künstlers nach den Regeln der Musiktradition und – ja, auch das noch – zu den gewünschten und erwählten Themen. Dazwischen liegt ein Geheimnis: und das heißt Mensch.
Aus den Wünschen ausgewählt wurde u. a. mehrfach Bach, der Choral “Jesu bleibet meine Freude”, Mozarts “Tuba mirum”, jemand wollte unbedingt, und bekam es auch “Sind die Lichter angezündet”. Eine kleine Reise durch die Musikgeschichte verspricht Wolfgang Seifen anfangs. Beginnend mit Präludium, Adagio und Fuge im Hochbarock.
Dann erklärt er die nächsten Abteilungen: das Stück für eine Flötenspieluhr im Stil der Wiener Klassik mit “Wenn ich ein Vöglein wär”, Fantasie und Fuge im deutsch romantischen Stil und eine Sinfonie “mit impressionistischem Ausblick”.
“Brutalissimo” und Flötenspieluhr
Wolfgang Seifen kennt die Gewandhausorgel – und hat schon im Anfangsstück dem Instrument anständig Arbeit verschafft. Etwa so, wie zu einem Moment in Wolfgang Seifens Chor- und Orchesterkompositionen ein Dirigent mal den Begriff “Brutalissimo” geprägt hat. Im Finale der Sinfonie multipliziert sich das “Brutalissimo” noch.
Irgendwo aus unterschiedlichen Winkeln im Riesenprospekt der Schuke-Orgel des Gewandhauses zwitschern die Vogelstimmen. Beatles’ “Yesterday” bringt dann ungemein Ruhe ins Geschehen.
Für Mozarts “Tuba mirum” findet Wolfgang Seifen geisterhafte Plätze und Stimmen. Zeichentrick kommt aus dem Fernsehen in den Konzertsaal und mit der Verarbeitung des Motivs aus den “Meistersingern von Nürnberg” gelingt ein schönes Billard-Spiel quasi über den Platz in Richtung Opernhaus, in dem die jüngste “Meistersinger”-Inszenierung im 200. Richard-Wagner-Geburtstagsjahr nach wenigen Reprisen wieder aus dem Spielplan verschwinden soll.
Wolfgang Seifen bringt die Musikstile zum Überlaufen. So was geht, weil die Hände auf- und abwärts über die Manuale springen können, die Füße pausenlos unterwegs sind, die rechte Hand über die Tasten gleitet oder verharrt, mit der linken Hand auf der rechten (!) Seite nachregistriert wird, um den Orgelpfeifen neben den Tönen noch Geräuschhaftes zu entlocken. Wolfgang Seifen fährt seine Intuition durch die Orgel.
Kunst stellt eine “Sublimierung menschlicher Gefühle dar”, hat Yehudi Menuhin in einem Interview mit Josef Oehrlein einmal gesagt, und da bezog er sich auf Musikstile aus aller Welt und allen Zeiten “selbst Hass kann, wenn er in einem guten Kunstwerk behandelt wird, schön sein. Ein Kunstwerk ist für die Kommunikation da; es ist ein Geben und Nehmen. Alles, was Kunst erfüllt und bereichert, muss von irgendwo anders gekommen sein.”
…und als Zugabe – geht der Mond auf.
Zwei Zugaben erklatscht sich das mit reichlich 100 Zuhörern nicht gerade üppige Publikum, “Der Mond ist aufgegangen” ist das erste Thema.
Erst um 14:00 Uhr am Konzerttag und bis zum Einlass des Publikums hatte der Organist Zeit, sich dem Instrument zu nähern, und es sich untertan zu machen. Freilich kennt er es von früheren Konzerten.
Neben der Professur für Improvisation und liturgisches Orgelspiel an der Berliner Universität der Künste hat Wolfgang Seifen im Kalender viele Konzerte, Meisterkurse und Wettbewerbs-Jurys quer in aller Welt, wenn er nicht gerade als Titularorganist an der Berliner Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche zu hören ist. Interessanterweise war er in der Vergangenheit öfters in der Region in kleineren Orten unterwegs, selbst in Polditz bei Leisnig und am Dom zu Wurzen wie in St. Laurentius zu Markranstädt war er vielleicht schon öfters als in Leipzig. Hier spielte er auch in St. Thomas und in der Musikhochschule.
“Halleluja-Kraftwerk”
Viele Jahre war Wolfgang Seifen Basilika-Organist in Kevelaer an einer Seifert-Orgel, einem Instrument mit mehr als 100 Registern, sehr viel mehr. “Ab Hundert ist egal wie viel”, hat Wolfgang Seifen einmal lächelnd gesagt, als Orgel-Dozent war er zunächst an den Hochschulen in Stuttgart und Düsseldorf tätig, dort schon Professor wie dann in Berlin.
Er hat die Orgeln als “Halleluja-Kraftwerk” bezeichnet, nach ihrer Wirkung. Egal, ob als Dorfkirchenorgel oder Konzertinstrument. Ein Fachbuch über Kirchen, ihre Orgeln und Organisten schrieb über die Symbiose von Kevelaer mit Seifert-Orgel und Seifen als Organist: “Eine Orgel zum Katholischwerden!”
Letztes Jahr hat Wolfgang Seifen der Wallfahrtskirche in Neviges ein improvisiertes Orgel-Werk ins Stammbuch geschrieben. Exklusiv für den Mariendom, die Wallfahrt und die Orgel gab es meditative Texte aus der Feder des musikbeflissenen Pfarrers Daniel Schilling zu denen Wolfgang Seifen improvisierte. Da schwebten, donnerten und pfiffen die Töne nur so durch den Raum und hinaus, wie sonst will man ein akustisches Feuerwerk im Gotteshaus anders beschreiben.
Bilder zum Hören, Musik zum Sehen
Vor Jahren noch waren Filmmusiken kein Thema für Wolfgang Seifen. Da müsse man sich darauf einlassen, reagieren, aber vorher wissen, was passiert – hat er damals gesagt. Jahre ist das her. Bevor er den “Faust”-Stumm-Film für sich entdeckte, “Metropolis” und manches andere illustre Zelluloid zum Schwingen und Tönen brachte. Und nun verteilt er die Effekte wie beim Filmschnitt scheinbar auch im Konzert. Bilder werden hörbar. Musik wird sichtbar. Wie in der Oper.
Im Gewandhaus-Programmheft dieses Tages wurde bewiesen, dass es Unfug ist, ein Farbfoto aus dem Internet als Schwarzweißfotos zu drucken, und dass es lieblos ist, ausgerechnet auf das Foto vom Orgelprospekt den Begriff “Schwellwerk” dort hin zu kleben, wo der Wahlspruch des Gewandhauses zu lesen sein könnte. “RES SEVERA VERUM GAUDIUM”. Immerhin eine traditionsreiche Fügung.
Wolfgang Seifens Leipziger-Gewandhaus-Orgelabend hatte selbst Leute aus Frankfurt/Main zum Musikwochenende nach Leipzig gelockt. Ganz schön weite Notenspur.
Meinungen: “Wir erleben ja Orgeln meistens in Kirchen, da ist das Instrument ein Teil vom Ganzen. Das ist eine tolle Atmosphäre hier.” – “Ein grandioser Pedalritter!” – “Das ,Yesterday’ war schön wie Seifenblasen!”
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