Am Samstag ist schon alles vorbei. Das große Kribbeln und Mitfiebern beim 18. Internationalen Bach-Wettbewerb in Leipzig gibt es am Freitagabend, 13. Juli, ab 18 Uhr - in der Thomaskirche für die Organisten, in der Michaeliskirche für die Sänger und in der Evangelisch-reformierten Kirche für die Violincello-Spieler. Da spielen die Besten der Besten. Am Samstag, 14. Juli, werden im Alten Rathaus die Preise vergeben.
Seit dem 5. Juli haben 112 Musiker aus aller Welt in den Vorauscheiden und in den Semifinals am Mittwoch, 11. Juli, um den Einzug in die letzte Runde musiziert. Und wenn man Prof. Robert Levin so zuhört, wenn er als Präsident des Wettbewerbs von den Vorrunden erzählt, dann taten sie es mit Begeisterung, angespornt von Jurys, in denen hochkarätige Musiker saßen, die sich in der Bach-Pflege weltweit einen Namen gemacht haben. Da waren selbst die Jury-Mitglieder begeistert, denn das Niveau der Teilnehmer war entsprechend hoch. Irgendwann werden sich Musiker schon dadurch krönen können, dass sie ein schlichtes “TIBWL” neben ihren Namen schreiben: Teilnehmer des Internationalen Bach-Wettbewerbs Leipzig.
Denn das Erfolgsrezept von Robert Levin, der nun seit zehn Jahren dem im Zwei-Jahres-Turnus stattfindenden Wettbewerb vorsteht, scheint aufzugehen – und Nachahmer zu finden.
Das erste, was er als Präsident abschaffte, war das sonst bei internationalen Musikwettbewerben übliche Punktesystem. “Das korrumpiert jede Jury”, sagt er. Und weiß es auch zu erklären. Denn wenn Punkte vergeben werden, erfahren nicht nur alle Jury-Mitglieder, wie gut ein Kandidat von den anderen eingeschätzt wird, sie fangen auch an, taktisch zu denken, ihre Punkte so zu vergeben, dass ihr Favorit in die nächste Runde kommt.
Denn in den Vorrunden ist alles offen. “Aber was passiert in der Regel?”, fragt Levin. “Die besten Leute sind in der zweiten Runde schon raus.” Denn sie sind oft eckig, ungewohnt, eigenwillig, fallen aus dem Raster, weil sie sich wirklich was trauen. Und dazu kommt: Objektive Jurys gibt es nicht. Jeder Juror entscheidet subjektiv. Es ist wie in der ganz gewöhnlichen Demokratie: Die spannendsten Kandidaten fliegen schon bei den Vorentscheidungen in den Parteien raus. Das Rennen machen diejenigen, die der Mehrheit gefallen. Die Angepasstesten zumeist. Die Stromlinienförmigen.
Für die Musik ist das tödlich. Es sorgt dafür, dass gerade die besten Talente frustriert werden.
Auch die übliche Besetzung der Jurys mit Hochschullehrern hat Levin beendet. “Ich will, dass da die besten Bach-Interpreten aus aller Welt sitzen, dass die Kandidaten sich schon allein wegen dieser Leute in der Jury bewerben”, sagt Levin. Die 22 Juroren, die 2012 in Leipzig sind, haben einen Klang in der Welt der Bach-Interpretation. Und darüber hinaus. Es sind Künstler, die oft selbst schon dutzende oder hunderte genialer Musikeinspielungen hinter sich haben, die spannende Bach-Zyklen spielen oder selbst in scheinbar fernen Regionen wie Südamerika faszinierende Bach-Festivals organisieren.
Und selbst Hanno Müller-Brachmann, begehrter Sänger auf den Bühnen Europas und seit 2011 Professor für Gesang an der Hochschule für Musik in Karlsruhe, ist von seinem ersten Gastspiel in der Leipziger Jury begeistert. Und auch das Prinzip gefällt ihm. Jeder Juror hat nur die Namen derjenigen Sängerinnen und Sänger auf seinen Zettel geschrieben, die sie oder er in der nächsten Runde wiederhören wollte. Nur die sechs Namen, die im Semifinale wieder singen sollten. Nichts anderes. Einziges kleines Hilfsmittel: die “Bach-Punkte”. Bis zu sechs Punkte, die jeder Juror vergeben konnte, um die Qualität der Interpretation nach den Maßstäben Johann Sebastian Bachs zu bewerten.
“Die Bach-Punkte kommen aber erst zum Tragen, wenn es eine Patt-Situation gibt”, erzählt Levin, der zusammen mit Sabine Martin dafür sorgte, dass die Zettel mit den abgegebenen Namen unbeeinflusst ausgezählt wurden. Die Teilnehmer mit den meisten Nennungen auf den Zetteln der Juroren kamen weiter. Und nur wenn es um den oder die letzten Namen knapp wurde, wurden die “Bach-Punkte” hinzugezogen und entschieden über das Weiterkommen.
“Aber niemand erfährt, ob die Bach-Punkte zum Einsatz kamen”, erzählte Levin am Mittwoch, kurz vorm Semifinale. “Denn auch im Semifinale sollen die Juroren völlig unbeeinflust sein. Sie sollen gar nicht wissen, ob der eine oder die andere nur mit Ach und Krach weitergekommen ist. Das ist gar nicht wichtig. Denn schon im Semifinale haben wir eine Qualität, die hat allerhöchstes Niveau. Wer das geschafft hat in Leipzig, der ist schon Weltspitze.”
Deswegen wurde dem Publikum schon am Mittwoch, 11. Juli, zu en Semifinals die Möglichkeit gegeben, die Stimmen für den Publikumspreis abzugeben. Immerhin waren da noch 18 junge, faszinierende Musikerinnen und Musiker dabei. Aber auch da galt für die Jury selbst das Prinzip der Punktlosigkeit: Wieder schrieben die Juroren nur die Namen derjenigen auf die Zettel, die sie im Finale sehen wollten. Drei in jeder Sparte.
Für Hanno Müller-Brachmann eine echte Geduldsprobe. “Nach manchem Vortrag kribbelt es einen regelrecht, da möchte man sich eigentlich sofort mit den anderen Juroren über das Gehörte unterhalten”, erzählt er aus der Arbeit, die an einigen Tagen richtig schweißtreibend war. Aber die Unterhaltung über die Kandidaten-Beiträge war – verboten.
“Keine Absprachen, keine Beeinflussungen”, sagt Levin. “Jeder Juror soll jederzeit nach seinem eigenen Gefühl entscheiden. Nur dann bekommen wir eine gerechte Entscheidung.” Was tut man da als Juror? – “Man kommt ganz schnell auf Pommes Frites zu sprechen”, spaßt Müller-Brachmann. Denn man muss, wenn einem schon das erste Wort auf der Zunge liegt, ganz schleunigst die Kurve kriegen. Das fällt schwer. Aber es gelingt wohl auch. “Wir haben ja auch noch so viele andere Themen, über die wir sprechen können”, sagt Müller-Brachmann. Denn dadurch, das Levin die Könner ihres Faches in die Jurys berufen hat, kommen in Leipzig zwei Wochen lang auch Musiker zusammen, die sich sonst bei ihren Konzerten in der Welt eher selten treffen. Eine Art kleines Bach-Koloquium für die Bach-Spezialisten.
“So wird Leipzig wirklich zum Angelpunkt der Internationalen Bachpflege”, sagt Levin.
Dazu gehört natürlich auch die enge Verbindung mit dem Bachfest, auf dem die Sieger der Bach-Wettbewerbe schon traditionell Auftrittsmöglichkeiten erhalten. “Aber wir haben natürlich auch unsere Verbindungen zu anderen Festivals aufgebaut und bringen unsere Preisträger schon seit Jahren mit den dortigen Veranstaltern in Kontakt”, erzählt Sabine Martin, Leiterin der Organisation sowohl des Bachfestes als auch des Internationalen Bach-Wettbewerbs Leipzig. Damit schwebt der Bach-Wettbewerbs nicht wie andere Internationale Musikwettbewerbe als Solo-Wettbewerb in der Welt, sondern schafft selbst wieder Verknüpfungen und Karriereschritte für die siegreichen Teilnehmer.
Womit von Leipzig aus auch das Niveau der weltweiten Bach-Pflege befeuert wird. Nach Einschätzung von Robert Levin, Musikprofessor in Harvard, ist das jetzt schon spürbar.
Und auch von anderer Seite wird das jetzt anerkannt. Kurz vor dem Semifinale des Bach-Wettbewerbs 2012 hat die “World Federation of International Music Competitions” in Genf das Bachfest Leipzig zum Partnerfestival gekürt. Zukünftig werden Preisträger der renommiertesten internationalen Musikwettbewerbe im Bachfest Leipzig präsentiert.
“Die Organisation der beiden großen internationalen Veranstaltungen Bachfest und Bach-Wettbewerb durch nur ein eingespieltes Team trägt Früchte”, sagt Sabine Martin. “Wir freuen uns, dass der international ausgezeichnete Ruf sowohl des Bachfestes als auch des Bach-Wettbewerbs Leipzig durch den Antrag dieser Partnerschaft wiederum bestätigt wurde.”
Am heutigen 13. Juli wetteifern die verbleibenden neun der ursprünglich 112 Teilnehmer des diesjährigen Wettbewerbs im Finale um die Platzierung. Preise bekommen sie alle. Auch wer in Leipzig Dritter wird, hat auf Weltniveau vorgetragen. Die öffentliche Preisvergabe an die Finalisten erfolgt am Samstag, 14. Juli, um 15 Uhr im Alten Rathaus.
www.bach-wettbewerb-leipzig.de
Der Everest der Musik: 112 junge Musiker messen sich ab heute im Bach-Wettbewerb
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