Hannah konnte den Geduldsfaden in ihrem Körper spüren. Das hatte sie immer schon gekonnt. Er befand sich direkt über dem Zwerchfell. Sie konnte auch jederzeit genau benennen, wie straff er gerade gespannt war, und zwar anhand einer Skala aus Tönen: Sie stellte sich vor, wie es klingen würde, mit dem Finger an dem Faden zu zupfen. Wie an einer Saite: Ping! Im Moment war es ein dreigestrichenes E, aber die Spannung stieg. Bald schon würde es ein F sein.

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Mit rund 700 Einsendungen hat der bundesweite Schreibwettbewerb „Die Freiheit, die ich meine – Meinungsfreiheit“ eine überwältigende Resonanz erfahren. Vor wenigen Tagen hat die siebenköpfige Jury die Shortlists in den verschiedenen Kategorien auf der Website des Wettbewerbs veröffentlicht.

Insgesamt haben es 43 Werke verschiedenster literarischer Gattungen in die Vorauswahl geschafft. Die LEIPZIGER ZEITUNG veröffentlicht einige davon nach eigener Auswahl. Die Sieger*innen werden am 28. April online veröffentlicht.

Bis zum 27. April haben nun Leser*innen die Möglichkeit, aus den Shortlist-Beiträgen ihren Publikumsliebling zu wählen. Für das Voting haben die Veranstalter auf der Website unter https://3oktober.org/schreibwettbewerb/shortlist-2023/ ein entsprechendes Abstimmungs-Formular eingerichtet.

Die feierliche Preisverleihung findet im festlichen Rahmen am 28. April, 11 Uhr, auf der Leipziger Buchmesse im Forum Sachbuch (Halle 4) statt. Dafür konnten die Veranstalter prominente Partner gewinnen. So stiftet die Kampagne des Freistaats Sachsen „So geht sächsisch.“ die Preise für die Sieger in den drei Kategorien in Höhe von insgesamt 3.000 Euro.

Mehr Informationen finden sich unter www.3oktober.org/schreibwettbewerb

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Ihr Schüler Niklas starrte angestrengt in das Notenbuch. Dann auf die Tastatur des Klaviers. Suchte, fand – und hämmerte entschlossen mit seinem kleinen Zeigefinger auf die G-Taste.
Hannah zuckte zusammen. Nicht schon wieder. Er musste es doch irgendwann begreifen.

„Na so was“, sagte sie in bemüht fröhlichem Ton. „Da ist er ja wieder, unser Freund. Erinnerst du dich? Den hatten wir vorhin doch schon einmal.“ Von wegen einmal. Sie konnte nicht mehr zählen, wie oft sie diesen Fehler jetzt schon gehört hatte. „Schau noch mal genau hin. Welcher Ton ist das?“ Sie deutete auf das H im ersten Takt.

„Ein G!“ Selbstbewusst war er ja, der Kleine.

Sie seufzte. „Überleg noch mal. Auf der dritten Linie. Siehst du? Eins, zwei, drei. Die dritte Notenlinie. Das ist doch kein G. Sondern …“

„Doch, ist ein G.“ Er nickte bekräftigend und streckte schon wieder den Finger nach der Taste aus.

„Warte, ich spiele es dir noch mal vor.“ Sie begann, mit ihrer linken Hand die Melodie des Kinderlieds zu spielen und sang leise mit. „Hans-Rüdiger, der Hamster …“

Niklas blickte sie verständnislos an.

„Siehst du, bei ‚Hans‘ – und da, bei ‚Hamster‘, das ist derselbe Ton“, versuchte sie es weiter. „Auf der dritten …“

Er schob die Unterlippe vor und machte ein finsteres Gesicht.

„Schau mal, du willst das doch lernen“, erklärte sie. „Deshalb bist du ja hier. Es ist gar nicht schlimm, wenn du mit dem Notenlesen nicht so sicher bist. Dann üben wir das einfach noch ein bisschen. So macht man das in einer Musikschule. Und jetzt sag mal ‚Hans‘. Oder ‚Hamster‘. Dann fällt dir bestimmt ein, wie die Note heißt. Hör mal: ‚Haans …‘“

„Ist mir egal“, verkündete er. „Ich finde, das ist ein G.“

Ping! Da war es, das dreigestrichene F. „Ich aber nicht. Und ich bin die Lehrerin. Also: Auf der dritten Linie steht das H. Verstehst du?“

Wortlos rutschte er von der Klavierbank und trottete in Richtung Tür.

„Halt! Niklas! Wo willst du denn hin?“

„Zu meiner Mama. Hier ist es doof.“ Schon riss er die Tür auf und verschwand nach draußen.

Vom Flur drangen Stimmen zu ihr herein. Zuerst die von Niklas, dann eine Frauenstimme. Seine Mutter. Hannah verstand die Worte nicht, aber der Tonfall genügte. Hoffentlich gab das nicht noch ein Nachspiel! Als sie sich die pochenden Schläfen massierte, fiel ihr Blick auf das achtlos zurückgelassene Notenbuch, aus dem sie das Bild eines dicken Hamsters angrinste.

Lange ließ der Ärger nicht auf sich warten. Schon am nächsten Morgen klingelte ihr Telefon. Es war die Musikschulleiterin. „Mensch, Hannah, was war denn da los? Eben hat die Mutter von deinem Schüler Niklas angerufen und sich über dich beschwert. Die war richtig sauer. Angeblich ist das Kind völlig verstört.“

Hannah verdrehte die Augen. „Wir haben ‚Hans-Rüdiger, der Hamster‘ gespielt, und ich habe ihm erklärt, welche Noten …“

„Die Mutter meinte, du seist übergriffig geworden.“

„Wie bitte?“

„Na ja, nicht körperlich, aber sie hat gesagt, du hättest ihm deine Sichtweise aufgezwungen und ihm überhaupt keinen Raum gelassen, seine eigenen musikalischen Erfahrungen zu machen.“

„Das ist doch Blödsinn. Ich habe einen Fehler korrigiert, dabei ging es nicht um ‚meine Sichtweise‘. Ein falscher Ton ist nun mal ein falscher Ton!“

„So was Ähnliches habe ich mir schon gedacht. Aber du musst die Wogen jetzt irgendwie glätten. Sie ist unsere Kundin. Und sie besteht darauf, dass du dich bei dem Kind entschuldigst.“

„Ich soll was?“

„Ihm das Recht zugestehen, seine eigene Vision zu entwickeln. Das waren ihre Worte. Seine Meinung respektieren.“

„Wie soll das denn gehen? Ihn spielen lassen, was immer er will? Egal, wie falsch es ist?“

„Hannah, ich war nicht dabei. Ich bin ja auf deiner Seite. Aber versuch bitte, einen Kompromiss zu finden. Vielleicht könntest du nächste Woche mit ihm einfach mal ein bisschen improvisieren? Lass doch die Noten erst mal raus. Und dann, in ein paar Wochen, schwenkst du vorsichtig wieder auf deine Linie um. Ich bin sicher, du kriegst das hin.“

„Ich denk drüber nach.“ Hannah stöhnte leise. Eines stand fest, sie würde sich auf keinen Fall entschuldigen. Hans-Rüdiger war immer noch ein Hamster und kein Gamster.

Eine Woche später starrte sie ungläubig auf die Tageszeitung, die neben ihrem Frühstücksbrett lag. Sie ließ ihr Brötchen sinken und las: „Unhaltbare Zustände an der städtischen Musikschule. Eltern berichten von überholten Methoden und fragwürdigen Unterdrückungspraktiken im Instrumentalunterricht.“ Dann folgte ein langer Artikel. Natürlich kam Niklas‘ Mutter ausgiebig zu Wort. „Es kann nicht sein, dass unseren Kindern die Chance genommen wird, sich künstlerisch zu entfalten“, wurde sie zitiert.

Und: „Gerade ein Medium wie die Musik, das im Kern so subjektiv und individuell ist, muss doch frei erlebt werden können. Mit welchem Recht nimmt eine Lehrkraft sich heraus, ihre Meinung als allgemeingültig hinzustellen und den Schülern zu verbieten, sich musikalisch so auszudrücken, wie es ihnen entspricht? Ist es nicht mehr erwünscht, dass Kinder eigene Vorstellungen äußern?“

In den folgenden Wochen überschlugen sich die Ereignisse. Am erstaunlichsten, fand Hannah, war das Tempo, in dem sie geschahen. Es war, als würde alles im Zeitraffer ablaufen: Die Musikschule schrieb eine Gegendarstellung, mehrere Eltern schickten Leserbriefe, die Stadtverwaltung forderte Lösungsvorschläge von der Schulleitung, die wiederum beteuerte, ihre Lehrer in Zukunft noch besser durch Fortbildungen über moderne Lehrmethoden für die Erfordernisse der Zeit rüsten zu wollen.

Der Landesverband thüringischer Musikschulen spürte irgendwo einen Dozenten auf, der ein neues pädagogisches Konzept namens „Musikunterricht mit Respekt vor kreativen Spielräumen“ – kurz: „MuRkS“ – entwickelt hatte. Er wurde für mehrere Wochenenden engagiert, um das Kollegium der Musikschule anzuleiten.

Der MuRkS-Dozent war ein schmächtiger Mittfünfziger mit einem grauen Pferdeschwanz und einer leisen, singenden Stimme. „Unser wichtigster Grundsatz ist: Jeder Ton verdient Respekt!“ Seine Augen leuchteten.

„Es bedeutet, dass unsere musikalische Vorstellung nicht besser oder richtiger ist als die unserer Schüler. Was meine ich mit ‚Vorstellung‘? Alles! Alles, was Sie zu wissen glauben: Die Noten, die Sie da lesen können in Ihren Büchlein – sie haben keine Bedeutung für Ihre Schüler. Warum soll es wichtig sein, wie die Töne heißen?

Und Rhythmusnotation – ein abstraktes Konstrukt, das niemandem hilft! Lassen Sie Ihre Schüler noch den Takt zählen? Ernsthaft? Wie kann man Musik abzählen? Wer von Ihnen verwendet ein Metronom im Unterricht?“ Er verzog angewidert das Gesicht, als einige Kollegen sich verschämt meldeten.

„Derlei Disziplinierungswerkzeuge haben in einem modernen künstlerischen Unterricht nichts zu suchen.“

Dann erläuterte er sein Konzept. Im Wesentlichen bestand es darin, den Kindern ihre Freiheit zu lassen. Instrumentalunterricht sollte hauptsächlich aus Improvisation bestehen, wobei es wichtig war, dabei keine Skalen oder Akkorde zu verwenden. Diese sollten höchstens als Zufallsprodukte vorkommen. Auf keinen Fall aber sollten sie von den Schülern vorher erlernt und gezielt eingesetzt werden. Das würde die Freiheit einschränken, und die war schließlich das Wichtigste.

Wenn ein Schüler Lieder oder Stücke spielen wollte – zwingen durfte man ihn dazu selbstverständlich nicht –, dann geschah das am besten weitgehend ohne Noten. Viel besser war es, ihn nach Gehör und Gefühl spielen zu lassen. Natürlich entstanden dabei immer neue, herrlich individuelle Versionen der Stücke, befreit von jeglichen Schablonen.

Keinesfalls sollte ein Lehrer auf rhythmischer Genauigkeit bestehen. Die Kinder hatten ihr eigenes Gespür dafür, wie lang die Töne für sie eben zu sein hatten – auch darin äußerte sich ihre Individualität. Da schließlich jedes Kind einzigartig war, musste es auch der rhythmische Ausdruck sein.

„Ein Musikstück hat keinen eigenen Rhythmus!“, rief er aus. „Das Kind aber hat einen! Und der muss ausgelebt werden!“

Einer von Hannahs Kollegen hob zögernd die Hand. „Aber wenn dann immer neue Fassungen entstehen und man die eigentlichen Stücke gar nicht mehr erkennt …“

„Das Eigentliche sind doch nicht die Notizen irgendwelcher Komponisten, die meistens schon längst tot sind“, unterbrach ihn der Dozent.

„Das Eigentliche sind unsere Schüler! Und das, was in ihren Köpfen entsteht! Wenn sich das an ein altes, totes Stück Musik anlehnt – meinetwegen! Dann ist das eine Stütze – mehr aber auch nicht. Das Neue muss sich Bahn brechen. Die Kinder müssen frei sein, zu sagen, was sie wollen. Mit Tönen, Worten, was auch immer. Und wir haben jeden Ton, jedes Wort von ihnen zu akzeptieren. Alles hat seine Berechtigung!“

Hannah versuchte, sich einen solchen Unterricht vorzustellen. Es gelang ihr nicht. Sie musste irgendetwas falsch verstanden haben.

„Führt das aber dann nicht dazu, dass jeder einfach macht, was er will?“, fragte sie verwirrt. „Ohne jede Hilfestellung oder Steuerung?“

Begeistert strahlte der Dozent sie an. „Wunderbar! Sie haben die Sache verstanden! Genau darum geht es – und das, liebe Kollegen, ist MuRkS!“

Zwei Monate später erschien ein Artikel über die MuRkS-Fortbildung in einer überregionalen Musikzeitschrift, die Hannah abonniert hatte. Der Autor lobte das Konzept in den höchsten Tönen. „Bahnbrechend“ nannte er es, einen „längst überfälligen Entwicklungsschritt hin zu einer modernen, demokratischen Gesellschaft“. Hannah begriff nicht gleich, was Musikunterricht mit Demokratie zu tun hatte.

Doch der Zusammenhang wurde noch weiter ausgeführt: „Demokratie braucht Meinungsfreiheit. Meinungsfreiheit aber braucht Kunstfreiheit! Die Kultur einer Gesellschaft ist die Grundlage, die ein wirklich freies Miteinander erst ermöglicht. Vor allem die Musik, die auf das gesprochene Wort verzichtet, ist gerade deswegen die tiefste und unmittelbarste Kommunikationsform. Sie ist die Keimzelle von allem, da sie direkt auf das Unterbewusstsein und die Gefühlsebene wirkt. Schreibt man Menschen vor, wie sie zu musizieren haben oder wie sie Musik zu verstehen haben, wird es brandgefährlich – es ist der Anfang vom Ende der Demokratie.“

Vielleicht lag es vor allem an dem Wort „Demokratie“, dass die Diskussion nun eine politische Dimension annahm. Die Landtagswahl in Thüringen stand unmittelbar bevor, und man stürzte sich begierig auf alles, was sich als Wahlkampfthema eignete.

Auf einer Landtagssitzung wurde der Antrag, MuRkS als verbindliche Richtlinie für alle kommunal geförderten Musikschulen des Landes zu etablieren, mit großer Mehrheit angenommen. Einige private Musikschulen versuchten zunächst noch, sich dem neuen Trend zu verweigern. Daraufhin liefen mehrere Elternverbände Sturm, und es gab ein paar Demonstrationen, über die dann in den Zeitungen berichtet wurde.

Fotos zeigten Demonstranten mit Plakaten, auf denen stand: „Freiheit für unsere Kinder“, „MuRkS für alle!“ und auf einem sogar „Nieder mit Hans-Rüdiger, dem Hamster!“ Darunter war ein rot durchgestrichener Hamsterkopf gezeichnet.

Längst war in den Medien der „Hans-Rüdiger-Skandal“ ein Begriff geworden – war dieser Vorfall doch der Auslöser für eine Bewegung gewesen, die sich nun in ganz Deutschland auszubreiten begann. Nach dem Beispiel Thüringens führte ein Bundesland nach dem anderen MuRkS in den Musikschulen ein, und auch die privaten Schulen und Lehrer mussten sich nach und nach dem Druck beugen, um weiter existieren zu können.

Ungefähr ein Jahr nach dem Hans-Rüdiger-Skandal bildete sich innerhalb der MuRkS-Reformbewegung ein Kern von Hardlinern heraus. Die Ideen, die von dieser Gruppe kamen, waren noch deutlich radikaler. Sie betrachteten MuRkS nur als eine Übergangslösung.

Ihr Ziel war, letzten Endes das ganze überholte System Musikunterricht abzuschaffen, denn, so sagten sie, Musik überhaupt lehren zu wollen, sei schon im Ansatz manipulativ. Menschen dürften in ihrem musikalischen Empfinden und Tun in keiner Weise beeinflusst werden, alles andere sei ein Angriff auf die persönliche Freiheit.

Im Namen der Demokratie starteten sie eine Petition nach der anderen. Sie forderten die vollständige Abschaffung der Notenschrift in Bildungseinrichtungen, ein Verbot von Musikwettbewerben, die Schließung von Musikbibliotheken sowie eine strenge Kontrolle der Medien – insbesondere ihrer musikpädagogischen Inhalte.

Auch die Symphonieorchester und Opernhäuser mit ihren hierarchischen Strukturen und ihren musikalischen Traditionen wurden von ihnen natürlich argwöhnisch beäugt. Immer lauter wurden die Stimmen, die verlangten, derlei Institutionen, wenn sie schon nicht verboten wurden, wenigstens nicht noch mit Steuergeldern zu finanzieren.

Ohnehin war ja abzusehen, dass die klassischen Orchester ein Auslaufmodell darstellten. Ein Großteil der Jugendorchester war bereits aufgelöst worden, denn seit die Musikschulen mit MuRkS arbeiteten, war es kaum noch möglich, größere Stücke mit so vielen Schülern gemeinsam aufzuführen.

Musizieren mit anderen war in diesem Konzept auch eigentlich nicht vorgesehen, schon allein weil es der Freiheit des Einzelnen im Wege stand, immerzu auf andere zu hören und sich in ein Ensemble einzufügen. Es schien also nur eine Frage der Zeit, dass die professionellen Orchester irgendwann an Nachwuchsmangel eingehen würden.

Noch aber gab es sie, und noch versuchte man an den Musikhochschulen, Berufsmusiker auszubilden, so gut es eben ging. Natürlich waren auch hier Veränderungen spürbar: Es wurde immer schwieriger, einen gewissen Qualitätsstandard aufrechtzuerhalten.

Nachdem es in Nordrhein-Westfalen dem ersten Musikstudenten gelungen war, das Ergebnis seiner missglückten Bachelor-Prüfung gerichtlich anzufechten, zogen viele andere nach. Man argumentierte, die Prüfungsordnungen seien nicht mehr zeitgemäß und musikalische Kompetenz ohnehin kaum prüfbar.

Vor allem aber müsse das Prinzip der Kunstfreiheit geschützt werden. Jeder habe schließlich das Recht auf seine eigene künstlerische Auffassung. Daher dürfe eine musikalische Darbietung nicht einfach als mangelhaft bewertet werden, denn das sei diskriminierend.

Wenig später sorgte ein Vorfall in einem bayrischen Symphonieorchester für Schlagzeilen. Ein Musiker, der schon öfter durch disziplinarische Verstöße aufgefallen war, erhielt seine Kündigung, nachdem er ein Konzert fast ruiniert hatte – er hatte in volltrunkenem Zustand kaum noch einen geraden Ton herausgebracht. Daraufhin zog er vor Gericht.

Dort legte sein Anwalt überzeugend dar, dass man heutzutage einen festangestellten Mitarbeiter nicht auf die Straße setzen könne, nur weil seine künstlerische Interpretation von der seiner Vorgesetzten abwich. Dabei berief er sich auf diverse Prozesse, in denen Musikstudenten erfolgreich gegen ihre Hochschulen geklagt hatten. Der Musiker musste wieder eingestellt werden.

In der Urteilsbegründung hieß es: „Es gibt keine rechtliche Grundlage dafür, eine bestimmte künstlerische Interpretation für gültig und eine andere für ungültig zu erklären. Alle Töne sind gleich gültig.“

Der letzte Satz schaffte es ein halbes Jahr später in das Buch „MuRkS in Theorie und Praxis“, das binnen kürzester Zeit zu einem der wichtigsten Standardwerke für Musikpädagogik wurde.

Hannah verfolgte die Entwicklung mit zunehmender Fassungslosigkeit. Manchmal glaubte sie, zu träumen. Ihr ganzes Leben geriet ins Wanken. Wie schnell sich allein ihr Arbeitsplatz veränderte! Die einst so vertraute Musikschule wurde ihr immer fremder. Es waren nicht nur die neuen Methoden, das rapide sinkende Niveau und die fehlende Ensemblearbeit.

Auch der Ton im Kollegium hatte sich verändert. Zu oft hatte es schon hässliche Szenen gegeben. Kollegen schwärzten einander bei der Schulleiterin an, wenn nicht genau nach den neuen Richtlinien gearbeitet wurde, und irgendwann war das freundschaftliche Klima einem beklemmenden Misstrauen gewichen. Man erzählte sich nichts mehr.

Einigen Lehrern war bereits gekündigt worden, nachdem Schülereltern sich über ihren Unterricht beschwert und damit gedroht hatten, sich ebenfalls an die Presse zu wenden. Über dem Eingang der Musikschule prangte jetzt ein Banner mit der Aufschrift: „Wir machen MuRkS – hier sind alle Töne gleich gültig!“

Als Hannah eines Abends müde auf ihrem Sofa saß und lustlos durch die Fernsehsender zappte, blieb sie bei einer Talkshow hängen. Es ging um demokratische Werte im Kulturbetrieb. Der Moderator kündigte anscheinend gerade einen neuen Gast an.

„Ich freue mich ganz besonders, dass sie die Zeit gefunden hat, heute bei uns zu sein, denn ihr ist es maßgeblich zu verdanken, dass unsere Musikwelt zu dem werden konnte, was sie heute ist. Begrüßen Sie mit mir …“ Der Name ging im Applaus des Publikums unter.

Neugierig blickte Hannah auf den Fernseher. Im nächsten Augenblick fuhr sie erschrocken zusammen, als das Gesicht der Mutter ihres Schülers Niklas in Großaufnahme auf dem Bildschirm erschien. Ihres ehemaligen Schülers, genauer gesagt, denn seine Eltern hatten ihn bereits vor längerer Zeit abgemeldet.

Der Moderator strahlte seinen Talkgast begeistert an. „Lassen Sie mich Ihnen zunächst ganz herzlich gratulieren. Erst letzte Woche wurden Sie mit der Verdienstmedaille der Bundesrepublik Deutschland ausgezeichnet – eine angemessene Ehre, denn die Arbeit des von Ihnen gegründeten Vereins ‚Musik ohne Fesseln e. V.‘ ist aus unserem kulturellen Leben nicht mehr wegzudenken.

Am Anfang stand, wenn ich richtig informiert bin, ein persönliches Erlebnis – Sie wurden als Mutter eines betroffenen Kindes mit Problemen konfrontiert, die Sie nicht hinzunehmen bereit waren. In kürzester Zeit hat Ihr couragiertes Aufdecken von Missständen im Bereich der Musikausbildung dann zu entscheidenden Veränderungen geführt. Offensichtlich war die Zeit reif dafür – es musste nur die richtige Vorkämpferin daherkommen.“

Hannah brauchte eine Weile, um ihre Fassung wiederzugewinnen. Als sie ihren Mund wieder zugeklappt hatte, war Niklas‘ Mutter schon mitten in ihrem Redebeitrag.

„Sicher – einer Mutter blutet das Herz, wenn sie sieht, wie ihr Kind leidet. Aber es ging mir damals nicht nur um meinen eigenen Sohn. Ich sah einfach, dass so vieles im Argen lag. Es waren so viele Kinder! So viel verhindertes Potenzial, so viele unterdrückte Persönlichkeiten. So viel Unrecht! Da musste ich einfach etwas tun.“

Der Moderator nickte ernst. „Viel Unrecht, in der Tat. Die unseligen Traditionen, die sich über Jahrhunderte, kann man sagen, gehalten haben …“

„Genau. Ich denke, man hat den Musikschulen all die Jahre über viel zu viel Freiheit gelassen. Man hätte früher eingreifen müssen, ein verbindliches Regelwerk schaffen müssen. Dieser Wildwuchs, dass jede Schule und jeder Lehrer einfach unterrichtet hat, wie er wollte … also das hätte man schon längst verbieten müssen. Im Interesse unserer Kinder und ihrer freien Entfaltung.“ Sie lächelte freundlich in die Kamera.

„Wenn ich hier mal einhaken dürfte …“, meldete sich der Gast neben ihr zu Wort. Unten wurde sein Name eingeblendet mit der Information, dass er Intendant eines Opernhauses in Baden-Württemberg war.

„Die freie Entfaltung der Kinder ist unerlässlich, keine Frage. Wie aber sieht es denn im professionellen Bereich aus? Die Kulturorchester erfüllen doch eine wichtige gesellschaftliche Aufgabe. Momentan gibt es deutschlandweit eine regelrechte Welle von Arbeitsgerichtsverfahren mit folgenschweren Urteilen gegen Orchester und Musiktheater, nachdem diese personelle Entscheidungen getroffen hatten, um ihr musikalisches Profil und ihr qualitatives Niveau zu schützen. Ich meine, das ist doch auch ein Eingriff in unternehmerische und künstlerische Freiheiten …“

„Papperlapapp!“, fiel ihm Niklas‘ Mutter ins Wort. „Personelle Entscheidungen, wenn ich das schon höre! Was Sie meinen, ist Diskriminierung! Das Entfernen unliebsamer Mitarbeiter, deren Vorstellungen einfach nicht akzeptiert werden, obwohl unser Grundgesetz jedem das Recht zugesteht …“

„Verzeihung, ich war noch nicht fertig.“ Über der Nase des Intendanten bildete sich eine senkrechte Falte.

„In Niedersachsen gibt es gerade mal ein einziges Orchester, das zur Zeit nicht in entsprechende Rechtsstreitigkeiten verwickelt ist. In Hessen mussten mehrere Häuser bereits schließen, weil die Sache komplett aus dem Ruder gelaufen ist. Dort kann ein Orchestermusiker mittlerweile praktisch machen, was er will – es gibt keine Möglichkeit mehr, jemandem rechtswirksam zu kündigen. Aus Sachsen hören wir, dass mehrere Konzerte abgebrochen werden mussten, weil es Tumulte auf der Bühne gab – die Musiker konnten sich nicht auf gemeinsame Tempi, Intonation und Dynamik einigen. Das sind doch Zustände, die künstlerisches Arbeiten unmöglich machen.“

„Nun, vielleicht sind Institutionen wie die Ihre einfach nicht mehr zeitgemäß! Warum muss es denn solche vordefinierten, einheitlichen Interpretationen überhaupt geben? Wir haben doch am Beispiel der Musikschulen gesehen …“

„Sie wollen doch jetzt nicht ernsthaft professionelle Kulturorchester mit Musikschulen vergleichen!“ Der Intendant verlor langsam die Geduld. „Wenn Sie zum Beispiel eine Opernaufführung besuchen – stellen Sie sich das doch mal vor: Wenn nun jeder Musiker dort einfach singt und spielt, was und wie er gerade möchte …“

„Was wollen Sie denn damit bitte sagen? Soll etwa nicht jeder spielen dürfen, wie er will? Wo bleibt denn da die Demokratie?“

Für einen Moment herrschte völlige Stille. Das Wort „Demokratie“ schien unbeweglich in der Luft zu hängen wie eine Wolke an einem windstillen Tag. Es besaß eine Autorität, die man fast körperlich spüren konnte – hier war jede Entgegnung ausgeschlossen.

Dann brandete stürmischer Beifall auf.

25 Jahre später

Hannah konnte den Geduldsfaden in ihrem Körper spüren. Ping! Ein dreigestrichenes Fis. Eigentlich hätte sie schon vor zwanzig Minuten Pause gehabt. Doch die Schlangen an den Kassen des kleinen Supermarktes wollten kein Ende nehmen, und außer ihr war heute nur noch eine andere Kollegin da – die im Übrigen gerade ihre Nerven zu verlieren schien.

Eine Kundin mit hochrotem Gesicht zeterte auf die Arme ein, und obwohl Hannah nicht verstehen konnte, worum es ging, verspürte sie sofort Mitleid mit der verzweifelt wirkenden Kassiererin.

„Hallo! Geht das jetzt mal voran hier, oder sollen wir morgen wiederkommen?“ Sie zuckte zusammen. Vor ihr stand ein älterer Mann und wedelte mit seiner Brieftasche vor ihrer Nase herum. Ein ungefähr sechsjähriger Junge stand grinsend neben ihm und stopfte sich eine Handvoll Gummibärchen in den Mund. Die aufgerissene Tüte lag zwischen den anderen Waren auf dem Förderband. Ihr bunter Inhalt war überall verstreut.

„Guck mal, Opa!“ Zielsicher warf der Kleine Hannah ein Gummibärchen an den Kopf.
Sie öffnete den Mund, doch bevor sie etwas sagen konnte, drang von irgendwoher eine dünne Kinderstimme an ihre Ohren. Was war das? Sang da ein Kind? Das war selten heutzutage. Ja, jetzt hörte sie es deutlich: „Hans-Rüdiger, der Hamster, ist dick und kugelrund …“

Schlagartig wurde es still an der Kasse. Alle Köpfe drehten sich nach hinten. Hannahs Blick fiel auf eine erschrocken dreinblickende junge Frau, die ein singendes Mädchen an der Hand mit sich zog. Reflexartig hielt der alte Mann seinem Enkel die Ohren zu und zischte: „Unerhört!“
Die Kundin an der Nachbarkasse vergaß ihre Beschwerde und starrte mit offenem Mund herüber. Das kleine Mädchen sang unbeirrt weiter: „Und alles, was er kriegen kann, stopft er sich in den Mund.“

„Na hör mal“, empörte sich eine mürrisch dreinblickende Frau. „Solche Lieder singen wir aber nicht mehr! Weißt du das etwa nicht?“

„Richtig“, pflichtete ihr der Großvater bei. „Und zwar schon lange nicht mehr! Die Zeiten sind zum Glück vorbei!“

Mehrere Kunden nickten zustimmend, und die Mürrische schob hinterher: „Mich würde ja mal interessieren, von wem das Kind diese Lieder gelernt hat!“

Die junge Frau, anscheinend die Mutter des Mädchens, wurde knallrot und blickte zu Boden.
Hannahs Geduldsfaden erreichte das dreigestrichene G. Dann riss er.

„Halten Sie doch alle Ihren Mund!“, brüllte sie los. „Sie haben ja keine Ahnung, wovon Sie reden! ‚Diese Lieder‘? Sie meinen, die unerwünschten Lieder? Die man uns damals verboten hat – im Namen der Freiheit? Großartig! Und jetzt? Wenn ich mich hier umschaue, sehe ich einen Haufen Leute, die sich nicht zu benehmen wissen, weil sie meinen, die ganze Welt müsse sich um ihren Bauchnabel drehen! Und dann wird auf einem Kind herumgehackt, weil es ein Lied singt! Klar, so was passt natürlich nicht in Ihr vermurkstes Weltbild! Sie sollten sich alle was schämen! Und du“, fuhr sie den immer noch kauenden Jungen an, „du sammelst jetzt auf der Stelle deine Scheißgummibärchen ein!“

Kurz darauf saß sie in dem kleinen Aufenthaltsraum für die Mitarbeiter und atmete tief durch. So viele Bilder stiegen in ihr auf. Erinnerungen aus ihrem früheren Leben. Sie hatte geglaubt, das hinter sich zu haben, doch es war alles noch da. Oder wieder da? Nein. Es war nie wirklich weg gewesen. Während sie sich eine neue Existenz aufgebaut hatte, war ja für alle anderen das Leben auch weitergegangen. Irgendwo mussten sie alle noch sein!

Plötzlich wollte sie es wissen: Was war aus ihnen geworden – aus all diesen Menschen, die sie damals gekannt hatte?

Sie griff nach ihrem Handy und begann zu googeln.

Die städtische Musikschule gab es natürlich längst nicht mehr. Die Musikschulleiterin hatte sich noch eine Zeitlang mit Gelegenheitsjobs über Wasser gehalten, war inzwischen Rentnerin und leitete manchmal noch Töpferkurse an der Volkshochschule.

Der MuRkS-Dozent war damals durch sein Konzept, das den Nerv der Zeit getroffen hatte, im Rekordtempo zum mehrfachen Millionär geworden und lebte nun auf einem luxuriösen Anwesen an der Côte d’Azur.

Der bayrische Orchestermusiker, der als erster im Zuge der Reformbewegung seine verlorene Stelle wieder eingeklagt und damit eine Prozesslawine ausgelöst hatte, trat noch immer auf – als Solokünstler für Improvisation. Sein Orchester war mittlerweile aufgelöst worden, wie so viele andere.

Die Mutter ihres Schülers Niklas hatte ihre Vereinsarbeit noch lange unermüdlich weitergeführt, bis sie an einem Burnout erkrankt war und sich zurückgezogen hatte. Sie lebte jetzt in einem Ashram in Indien.

Der kleine Niklas war erwachsen geworden und in die Nähe von Saarbrücken gezogen. Er hatte mit großem Erfolg eine politische Karriere eingeschlagen und war erst kürzlich zum Kultusminister des Saarlandes ernannt worden.

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