Lena und Jaroslawa waren Kolleginnen. Beide arbeiteten seit mehr als 15 Jahren in der Kinderbibliothek in einem tristen Sankt Petersburger Vorort. Lena war eine untersetzte Frau Ende 30, trug eng anliegende Pullover in grellen Farben, hatte kurzes rot gefärbtes Haar und zwei Laster: Kaffee und Zigaretten. Jaroslawa war mit den Jahren schwer um die Hüften geworden, sie war um die 50, ihre Zähne standen weit auseinander und auch sie hatte zwei Laster: Kaffee und Schokolade.
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Mit rund 700 Einsendungen hat der bundesweite Schreibwettbewerb „Die Freiheit, die ich meine – Meinungsfreiheit“ eine überwältigende Resonanz erfahren. Vor wenigen Tagen hat die siebenköpfige Jury die Shortlists in den verschiedenen Kategorien auf der Website des Wettbewerbs veröffentlicht.
Insgesamt haben es 43 Werke verschiedenster literarischer Gattungen in die Vorauswahl geschafft. Die LEIPZIGER ZEITUNG veröffentlicht einige davon nach eigener Auswahl. Die Sieger*innen werden am 28. April online veröffentlicht.
Bis zum 27. April haben nun Leser*innen die Möglichkeit, aus den Shortlist-Beiträgen ihren Publikumsliebling zu wählen. Für das Voting haben die Veranstalter auf der Website unter https://3oktober.org/schreibwettbewerb/shortlist-2023/ ein entsprechendes Abstimmungs-Formular eingerichtet.
Die feierliche Preisverleihung findet im festlichen Rahmen am 28. April, 11 Uhr, auf der Leipziger Buchmesse im Forum Sachbuch (Halle 4) statt. Dafür konnten die Veranstalter prominente Partner gewinnen. So stiftet die Kampagne des Freistaats Sachsen „So geht sächsisch.“ die Preise für die Sieger in den drei Kategorien in Höhe von insgesamt 3.000 Euro.
Mehr Informationen finden sich unter www.3oktober.org/schreibwettbewerb
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Beide Frauen hatten ein inzwischen erwachsenes Kind: Lena, die jung Mutter geworden war, eine Tochter, und Jaroslawa, die spät Mutter geworden war, einen Sohn. Sie waren nicht unbedingt beste Freundinnen, aber die Jahre hatten sie zusammengeschweißt.
Sie hatten viel für die Kinder des Plattenbauvororts auf die Beine gestellt, machten das beste aus dem knappen Budget der Bibliothek und wenn sie vor einer Schulklasse standen und die lärmende Horde mit einem Glöckchen zur Ruhe klingelten, dann sah man es im Glanz ihrer Augen: sie liebten ihre Arbeit.
Einen scheinbar kleinen Unterschied gab es doch, man musste allerdings genau hinhören: Jaroslawas Aussprache war leicht verfremdet, sie sprach ein H, wo ihre Kolleginnen alle ein G sprachen: hovoryu[1], marharin[2], Luhansk[3]. Man hätte es für einen kleinen Sprachfehler, eine Art Lispeln halten können, aber alle russischen Muttersprachler*innen wussten sofort, dass Jaroslawa einen ukrainischen Akzent hatte. Lugansk, Luhansk, war ihre Heimatstadt.
Es spielte nie eine Rolle, bis der Krieg im Donbas ausbrach.
Zur gleichen Zeit schickte das Goethe-Institut einen Kulturmanager aus Deutschland in die Kinderbibliothek, der mit den Kindern ein Journalismus-Projekt durchführen sollte. Jonas war Mitte 20, Slawist und Kultur-Enthusiast.
Bei einem der ersten Treffen nahm er Jaroslawas Akzent wahr und fragte empathisch, aus welchem Teil der Ukraine sie sei und wie es ihr mit der aktuellen Situation gehe. Lena warf ihm eine schnellen Blick zu:
„Darüber sprechen wir nicht.“
Verdutzt schaute Jonas zu Jaroslawa, die dem Gast gegenüber nicht unhöflich sein wollte:
„Ich komme aus Luhansk.“ Sorgenvoll schob sie hinterher: „Meine Eltern leben dort. Sie sind schon Pensionäre… Soweit geht es ihnen gut.“
„Und was denkst du über die Krim, Jaroslawa?“
„Die Leute haben doch abgestimmt, sie fühlen sich Russland zugehörig!“, fuhr Lena nervös dazwischen. Dann, versöhnlicher:
„Jaroslawa, du bist doch quasi auch Russin, du lebst doch schon so lang hier, dein Mann ist Russe und dein Sohn auch!“
„Ich bin Ukrainerin“, antwortete Jaroslawa ruhig. Die Blicke der beiden Frauen begegneten sich flüchtig, erschrocken schauten dann beide die Bücherregale an.
„Wir sprechen besser nicht mehr darüber. So haben wir es abgemacht“, schloss Lena dann erneut.
Jonas wollte gern noch mehr fragen, traute sich aber nicht. Die Atmosphäre war plötzlich frostig geworden, aber er wollte es auch nicht so stehen lassen.
„Es interessiert mich einfach, wie ihr darüber denkt, die Ukrainer und die Russen. Ich will niemandem Recht geben, ich möchte nur besser verstehen …“, setzte er noch einmal diplomatisch an.
„Wir haben alle unterschiedliche Meinungen. Am besten behält sie jeder für sich, dann gibt es auch keinen Streit.“ Lena verbarg ihre Ungehaltenheit nur schlecht.
„Mich macht es schon traurig, was gerade passiert“, sagte Jaroslawa vorsichtig.
„Aber was macht es überhaupt für einen Unterschied, ob Lugansk jetzt russisch ist? Du lebst doch sowieso hier!“, unterbrach Lena sie abermals.
„Du hast recht. Wir sprechen besser nicht darüber.“ Jaroslawa drehte ihren Ehering.
„Kaffee?“, fragte Lena leise.
„Kaffee.“
„Kaffee.“
Die drei gingen zum Getränkeautomaten, warfen nacheinander ihre Zehn-Rubel-Münze ein und dann standen sie dort. Sie nippten schweigend an den kleinen, dampfenden Plastikbechern, ohne einander in die Augen zu sehen.
[1] Луганськ, Lugansk (Lugansk)
[2] Маргарин, margarin (Margarine)
[3] Луганськ, Lugansk (Lugansk)
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