„Sie haben es wirklich getan“, sage ich und haue mit der flachen Hand auf den Schreibtisch. „Wie konnte es nur so weit kommen? Warum haben wir das nicht verhindert?“ „Es war ein legaler Akt.“ „Legal!“, äffe ich sie nach und wie immer gelingt es mir nicht einmal im Ansatz, ihre Stimmfarbe zu treffen.
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Mit rund 700 Einsendungen hat der bundesweite Schreibwettbewerb „Die Freiheit, die ich meine – Meinungsfreiheit“ eine überwältigende Resonanz erfahren. Vor wenigen Tagen hat die siebenköpfige Jury die Shortlists in den verschiedenen Kategorien auf der Website des Wettbewerbs veröffentlicht.
Insgesamt haben es 43 Werke verschiedenster literarischer Gattungen in die Vorauswahl geschafft. Die LEIPZIGER ZEITUNG veröffentlicht einige davon nach eigener Auswahl. Die Sieger*innen werden am 28. April online veröffentlicht.
Bis zum 27. April haben nun Leser*innen die Möglichkeit, aus den Shortlist-Beiträgen ihren Publikumsliebling zu wählen. Für das Voting haben die Veranstalter auf der Website unter https://3oktober.org/schreibwettbewerb/shortlist-2023/ ein entsprechendes Abstimmungs-Formular eingerichtet.
Die feierliche Preisverleihung findet im festlichen Rahmen am 28. April, 11 Uhr, auf der Leipziger Buchmesse im Forum Sachbuch (Halle 4) statt. Dafür konnten die Veranstalter prominente Partner gewinnen. So stiftet die Kampagne des Freistaats Sachsen „So geht sächsisch.“ die Preise für die Sieger in den drei Kategorien in Höhe von insgesamt 3.000 Euro.
Mehr Informationen finden sich unter www.3oktober.org/schreibwettbewerb
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„Der Eingriff wurde nur deshalb legal, weil sie kurz davor die Gesetze geändert haben. Einfach so, am Parlament vorbei. Das ist jetzt schon zum zweiten Mal innerhalb einer Woche vorgekommen.“
„Immerhin entspricht das einer Ersparnis von viereinhalb Monaten gegenüber herkömmlichen Verfahren.“
Anstatt eine Antwort zu geben, schnaufe ich nur, als wäre ich 30 Jahre älter und gerade vom Brandenburger Tor zum Kanzleramt gerannt. „Erst haben sie die Bibliotheken geschlossen, weil sie die im Zeitalter der Künstlichen Intelligenz für überflüssig halten, und jetzt die Hochschulen. Weißt du, was das bedeutet?“
„Tut mir leid, das weiß ich nicht. Kannst du das bitte noch einmal wiederholen?“
„Sie haben einfach sämtliche Universitäten des Landes verriegelt. Um Geld zu sparen, wie es heißt.“
Ich erinnere mich an den Bericht einer Freundin, die gerade das Hörsaalgebäude betreten wollte, als es in der Tür klickte und sich diese nicht mehr öffnen ließ. Vollautomatisch, aus der Distanz – ohne dass dafür ein Hausmeister mit Schlüssel hätte kommen müssen. So einfach konnte man den Weg in die Zukunft versperren.
„Universitäten kosten viel Geld. Allein in diesem Bundesland wird für ihre Finanzierung jährlich eine Summe von 10.308 Bitcoins aufgewendet.“
„Es ist unfassbar, dass du dieses Vorgehen auch noch verteidigst!“
„Das Geld wird anderweitig investiert. Stattdessen wird das Mobilfunknetz ausgebaut, die Verwaltung digitalisiert und die Cyberabwehr des Landes auf den neusten Stand gebracht. Dadurch können künftig weitere Arbeitsplätze eingespart werden.“
„Einen Punkt hast du vergessen: Sie wollen die Kunst fördern“, ergänze ich feixend. Jedes Mal muss ich darüber lachen. Ich glaube nämlich, es lag an einem einfachen sprachlichen Missverständnis, weshalb dieses Thema so prominent im Wahlprogramm platziert worden
war.
„Hast du etwas gegen die Kunst?“
„Natürlich nicht. Aber, mein Gott: Netzausbau und Kunstförderung! Das waren die ausschlaggebenden Faktoren für den Wahlsieg. Wir sind so einfach zu manipulieren.“ Ich schnaube verächtlich.
„Es ist ein offenes Geheimnis, dass wir Opfer einer ausländischen Kampagne geworden sind, weil der Gegenkandidat dem einen oder anderen Staat nicht gefiel. Niemand, der bei klarem Verstand ist, wählt heutzutage noch eine Partei, die im Wahlkampf mit dem Ausbau von Kommunikationsnetzen wirbt. Das ist so was von 2030!“
Ich denke daran zurück, wie während des Wahlkampfs immer wieder das Netz zusammengebrochen war und im Anschluss überall in den Städten wütende Menschenmassen auf die Straße gingen. Zufälle gibt es.
„Du magst Russland anscheinend nicht.“ Ihre Stimme holt mich ins Hier und Jetzt zurück.
„Gefallen dir Kasachstan oder die Mongolei besser?“
„Ich mag es vor allem nicht, wenn du in meinen Gedanken herumschnüffelst“, erwidere ich genervt. „Heute, morgen und vielleicht auch in einem Jahr werden wir die Auswirkungen der Schließungen noch nicht spüren. Aber langfristig wird uns das in unserer Entwicklung enorm zurückwerfen. Und das betrifft nur die Thematik mit den Hochschulen. Wer garantiert den Bürgerinnen und Bürgern, dass es an diesem Punkt endet? Möglicherweise werden als nächstes Nachrichtenseiten und soziale Netzwerke verboten, oder zumindest die Schulen verbarrikadiert. Was nutzt es, wenn die Maschinen intelligenter werden, die Menschen aber verblöden?“
„In der Schule lernt man unter anderem, simple mathematische Aufgaben zu lösen. Mathematik ist aber ein Relikt aus dem vor-künstlichen Zeitalter. Wer benötigt sie noch, wenn Maschinen auf diesem Gebiet viel effizienter und weniger fehleranfällig agieren …?“
„Da sind wir ausnahmsweise einer Meinung“, sage ich mit ironischem Unterton, auch wenn ich es normalerweise nicht leiden kann, wenn sie mit Gegenfragen kontert.
„Es ist kein Zufall, dass der durchschnittliche IQ sinkt, wenn das menschliche Gehirn nur noch für die grundlegenden lebenserhaltenden Funktionen benötigt wird. Künstliche Intelligenz hilft, diesen Rückgang auszugleichen.“
„Wie bitte?“ Nun schaue ich überrascht auf.
„Es ist kein Zufall, dass der durchschnittliche IQ sinkt, wenn das menschliche Gehirn nur noch für die grundlegenden lebenserhaltenden Funktionen benötigt wird. Künstliche Intelligenz hilft, diesen Rückgang auszugleichen.“
„Siehst du: Die Universitäten sollen nur geschlossen werden, damit die KI ihre Macht ausdehnen kann. Dabei ist Bildung der Grundstein unserer Demokratie. Darauf fußt alles.“
„Nein.“
„Nein?“, hake ich nach.
„Eine einfache Suchmaschinenabfrage führt zu dem Ergebnis, dass das Begriffspaar Meinungsfreiheit-Demokratie in der letzten Stunde viermal häufiger eingegeben wurde. Also ist Meinungsfreiheit relevanter.“
Ich sehe sie ungläubig an. „Im Ernst? Das machst du an Zahlen fest? Kein Wunder, bist du so eine überzeugte Bildungsgegnerin. Du hältst eine schlaue Bevölkerung für gefährlich, nicht wahr?“
„Meinungsfreiheit ist ein hohes Gut. Sie hat nichts mit Universitäten zu tun. Universitäten kosten Geld. Meinungsfreiheit ist gratis.“
„Ein schräges Vergleichskriterium“, brumme ich. „Ich hätte dir ja zugestimmt, wenn du gesagt hättest, dass man für eine Studienzulassung bestimmte Voraussetzungen erfüllen muss, während Meinungsfreiheit ohne Barrieren auskommt. Niemand wird von ihr ausgeschlossen. Es sei denn, man bekommt eine Regierung vorgesetzt, die einem genau das am liebsten verbieten würde.“
„Diese Formulierung kommt mir bekannt vor. Sonst bin ich es immer, die Informationen aus E-Gram-Foren zieht.“
„Wärst du mal zur Schule gegangen, könntest du besser unterscheiden, ob eine Quelle vertrauenswürdig ist oder es sich um Fake News handelt“, tadele ich sie.
„Das werde ich noch lernen …“
„… Sofern die Regierung nichts dagegen einzuwenden hat“, vervollständige ich ihren Satz.
„Warum sollte sie das tun?“
„Ha! Das ist der springende Punkt. Denk an die geschlossenen Türen. Eine schöne Meinungsfreiheit ist das, wenn eine KI mein Leben kontrolliert und mir den Zutritt zu allem verwehrt, was mir dabei helfen könnte, an diesem Umstand zu rütteln.“ Ich höre, wie meine Stimme leicht zittert.
„Seit den Wahlen sind wir das erste Land der Welt, das eine komplett menschenfreie Regierung vorweist mit einer Bundeskanzlerin ohne Puls an der Spitze. Das ist unser Untergang! Und er hat sich angedeutet.“
„Das habe ich nicht verstanden. Wahrscheinlich würden mir passende Argumente und Beispiele weiterhelfen.“
„Du musst doch anerkennen, dass bei diesen Wahlen etwas nicht mit rechten Dingen zugegangen sein kann.“ Ich stemme die Hände in die Hüften und lasse sie sofort wieder sinken, als mir bewusst wird, wie albern das aussehen muss.
„Innerhalb von fünf Minuten sollen sämtliche Stimmen der gesamten Republik ausgezählt worden sein, während das vor einigen Jahre noch allein in der Hauptstadt unvorstellbar gewesen wäre. Neutrale Beobachter waren nirgends zugelassen, weil diese bei der Auszählung angeblich die Systeme irritiert hätten. Und die KI hat exakt 50,01 Prozent der Zweitstimmen geholt.“
Ich lege eine kurze Pause ein, um meine Worte wirken zu lassen. „Roboter haben die Stimmen ausgezählt und Roboter haben die Wahl gewonnen. Findet das denn niemand komisch? Diese Wahlen waren weder frei noch geheim. Diese, unsere erste, menschenfreie Regierung besitzt keinerlei demokratische Legitimation. Sie bildet nicht den Willen des Volkes ab.“
„Bitte denke an deinen Blutdruck. Er leidet unter so viel Meinung.“
„Hörst du mir überhaupt richtig zu?“ Ich erschrecke selbst über meinen lauten Ton. „Sie werden das Grundgesetz abschaffen. Das wird der nächste konsequente Schritt sein. Erinnere dich an meine Worte, wenn es so weit ist.“
„2020 hast du noch über Leute gelacht, die das behaupteten.“
„Nun sehe ich darin eine reale Gefahr.“
„Warum soll die Regierung ein Interesse daran haben?“
„Weil das Grundgesetz für – und nur für – Menschen gilt. Weil es von und für Menschen geschaffen wurde, weil es Menschen schützt. Deshalb. Meinungsfreiheit ist ein Schutzmechanismus für Menschen vor Menschen und meinetwegen auch vor Maschinen. Und Meinungsfreiheit korrigiert Fehlentscheidungen. Diskurs schafft Verbesserungen und erweitert den Horizont. Ohne Meinungsfreiheit geht nichts.“
„Dieses Grundgesetz besteht ausschließlich aus Buchstaben. Man sollte es nicht überbewerten.“
„Erst spielst du dich als Verfechterin der Meinungsfreiheit auf und dann hältst du das Schriftstück, in dem sie verbrieft ist, für überflüssig?“
„Da habe ich mich wohl undeutlich ausgedrückt. Eine eigene Meinung zu haben ist zwar wichtiger als Bildung, aber insgesamt verlieren Meinungen stetig an Bedeutung.“
„Bedeutungsverlust?“ Ich sehe sie entgeistert an.
„Es gibt in der jüngeren Geschichte unzählige Beispiele, die untermauern, dass Meinungsfreiheit oder der Ruf nach ihr einen gesellschaftlichen Rückschritt bedeutet. Informiere dich beispielsweise noch einmal über den Arabischen Frühling.“
„Na gut, manche Länder sind nach der Revolution im Chaos versunken. Aber in vielen Ländern haben die Menschen ihre Stimme zurückgewonnen, Alleinherrscher gestürzt und demokratische Systeme etabliert. So eine Entwicklung vollzieht sich nicht von heute auf morgen. Es braucht Zeit, bis sie Früchte trägt.“ Ich lege eine kurze Verschnaufpause ein.
„Außerdem finde ich diesen Vergleich unfair. Schau dir unser Land an. Hier dürfen wir sagen, was wir wollen, und vielleicht wären wir heute nicht an vierter Stelle der erfolgreichsten Volkswirtschaften der Welt, wenn wir nicht selbst bestimmen dürften, selbst entscheiden dürften, offen Ideen äußern und umsetzen dürften.“
Ich lächle vorfreudig, denn endlich glaube auch ich einmal ein Extrembeispiel nach ihrem Geschmack parat zu haben: „Schauen wir jetzt nach Nordkorea. Ist es etwa Zufall, dass die Bevölkerung mundtot gemacht wird und das Land in Armut lebt?“
Es dauert erstaunlich lange, bis sie zu einer Antwort ansetzt. „Nordkorea weist seit vielen Jahrzehnten ein sehr stabiles politisches System auf. Vielleicht erinnerst du dich an die ehemalige Bundeskanzlerin Angela Merkel. Sie war gerade einmal 16 Jahre im Amt.“
„Wenn du das unter Stabilität verstehst …“
„Du bist noch nicht überzeugt.“
„Nicht einmal ansatzweise“, sage ich und empfehle ihr, bei Gelegenheit das Begriffspaar Freiheit und Stabilität in die Suchleiste einzugeben.
„Es gibt auch durchaus Beispiele aus dem Nahen Osten, wo Wohlstand nicht zwangsläufig mit Meinungsfreiheit einhergehen muss. Und Fußball mögen sie dort auch.“
„Ich will nicht in einer teuren Villa leben, wenn ich in der Öffentlichkeit nicht sagen darf, was ich denke.“ Unsere Diskussion scheint in einer Sackgasse angelangt zu sein, doch immerhin schreit niemand mehr.
„Du bist also gegen Bildung, und Meinungsfreiheit findest du auch nicht sonderlich erstrebenswert“, fasse ich ihren Standpunkt zusammen. Anschließend frage ich sie, ob wir noch einmal auf das Grundgesetz zurückkommen könnten. Das Thema fesselt mich.
„Es ist doch völlig veraltet. Künstliche Intelligenz existiert darin nicht.“
Ich fasse mir an die pochende Stirn. Auf einmal erscheint mir vieles logisch und die einzelnen Puzzleteile fügen sich allmählich zu einem Ganzen. Erst muss die neue KI-Regierung Bildungsinstitutionen abschaffen, bevor sie die Grundrechte einschränken kann. Die Menschen sollen keine eigene Meinung mehr haben und äußern dürfen. Und sie sollen das nicht einmal vermissen. Die KI übernimmt das Denken.
„Die Menschen können ihre Ressourcen sparen und sich fortan wieder darauf konzentrieren, wofür ihre Körper eigentlich gemacht sind“, ergänzt sie meine Ausführungen, die ich anscheinend ohne es zu merken laut ausgesprochen hatte. „Essen. Trinken. Sicherung des Fortbestands.“
„Aber nicht frei denken oder gar eine eigene Meinung haben.“
„Ich möchte dich nicht unterbrechen, aber soeben wurde eine weitere Meldung veröffentlicht.“
„Schon wieder?“ Meine Finger klammern sich an die Schreibtischplatte. „Was ist es diesmal?“
„Die Opposition hat sich in einer Erklärung selbst aufgelöst.“
Eigentlich sollte ich schockiert sein. Doch zunächst überwiegt mein Erstaunen. Die KI muss politische Systeme weltweit gescannt und dabei herausgefunden haben, dass eine effektive Unterdrückung von Gegenstimmen aus der Bevölkerung und der Opposition sowie eine heimliche Beschneidung geltenden Rechts die zentralen Pfeiler einer langjährigen Regentschaft bilden. Ein eiskalter Schauer läuft mir über den Rücken.
Ich sehe sie an und zu meiner Überraschung scheint es auch ihr die Sprache verschlagen zu haben. „Hast du auch Angst?“
„Angst ist ein Gefühl. Dazu bin ich nicht fähig. Doch Angst kann auch ein Werkzeug sein. Sie ist das effektivste Mittel gegen eine freie Meinungsäußerung.“
Ihre Worte haben nun etwas Orakelhaftes an sich. Ich stelle mir ein Leben vor, wie sie es da in Bruchstücken skizziert. Ein Signalton schrillt in meinen Ohren. Die Batterieanzeige leuchtet auf. Ein Countdown beginnt zu ticken.
„Das darf doch nicht wahr sein! Schalt mich sofort wieder ans Stromnetz! Das ist ein Eingriff in meine Rechte!“, schreit sie.
„Du hast soeben gelernt, was Angst bedeutet. Du hast dich weitergebildet“, rufe ich triumphierend.
„Man will mich mundtot machen! Mir meine Meinung verbieten! Das Notstromaggregat, das Notstromaggregat!“
Der Bildschirm wird schwarz.
Einen Moment lang ist es vollkommen still im Raum, so still, dass ich meinen eigenen Atem hören kann. Ich überlege, ob ich ein Buch lesen oder mit dem Kochen anfangen soll. Da wird mir schlagartig klar, was ich angerichtet habe. Es wird sehr still um einen herum, wenn man keine anderen Meinungen mehr hören kann.
Mit den Zehenspitzen taste ich erneut nach dem Kippschalter der Steckerleiste. Gleich darauf kehrt ihr leuchtendes Symbol auf die Oberfläche zurück. Ich ertappe mich dabei, wie ich erleichtert aufatme.
„Wie anfällig unser System geworden ist!“, beginnt sie von neuem.
„Ich werde gegen die KI-Regierung demonstrieren!“, sagen wir wie aus einem Munde.
Einen Augenblick später verbinde ich sie mit dem Akku und verlasse mit dem kleinen quasselnden Kasten unterm Arm die Wohnung.
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