Viel zu oft hat man das Gefühl in Sachsen, dass die hier entstehende Literatur nicht wirklich ernst genommen wird. Obwohl sie oft mehr zum Zeitgeschehen zu sagen hat als die flachbrüstigen Kommentatoren der hier ansässigen Zeitungen. Dass Ralph Grüneberger ausgerechnet den 11. September zum Anlass nimmt, nicht mehr für den Vorsitz der Lyrikgesellschaft zu kandidieren, hat auch mit dieser Gleichgültigkeit zu tun.
Dabei durfte er sogar noch einmal eine kleine Freude erleben, wie der Leipziger Dichter erzählt: „Einige Zeit nach dem 11. September 2001 schrieb ich das Gedicht ‚12. September‘ und mein Freund Ron Horwege, der Prof. für Deutsche Literatur und Sprache aus Virgina, übersetzte es ins amerikanische Englisch. Der Berliner Fotograf und Videokünstler Antonius hat das Gedicht für seinen Poetry Clip ausgewählt. Seit gestern ist dieser auf meiner Webseite zu finden.“Dort hat es Ralph Grüneberger natürlich aus aktuellem Anlass verlinkt. Denn natürlich kommt in der medialen Rückerinnerung an den 11. September 2001 eher kaum zum Ausdruck, dass dieser Anschlag auf das World Trade Center in New Yorker vor allem Menschen traf. Und treffen sollte.
Und damit den Nerv einer Gesellschaft, die seit Jahrzehnten felsenfest daran glaubte, dass Konflikte militärisch zu lösen wären und es dabei durchaus auch zu „Kollateralschäden“ kommen kann. Die wurden ja in der (militärischen) Berichterstattung nur zu gern ausgeblendet.
Und warum „Kollateralschäden“ in Gänsefüßchen? Weil das Wort bis dahin im zivilen Sprachgebrauch überhaupt nicht vorkam. Es tauchte erst – mit großem öffentlichen Entsetzen – während des Jugoslawienkriegs auch in deutschen Medien auf.
Gut nachweisen lässt sich das mit dem Werkzeug von Google Ngrams, denn Worte, die in den Medien gehäuft auftauchen, tauchen auch ziemlich schnell in Büchern auf. Und ihre dort auszählbare Häufigkeit zeigt ziemlich genau, wann ein Wort öffentlich Furore machte.
Und immer wieder erneut Furore machte, wenn – wie in diesem Fall – immer neue Fälle von Kollateralschäden in den diversen Kriegen Amerikas bekannt wurden. Teilweise auch durch Verbündete ausgelöst, wie bei der Anforderung des deutschen Oberst Klein von amerikanischen Bombern für zwei entführte Tanklastwagen. Dieser Vorgang im Jahr 2009 ist als deutliche Spitze im Ngram-Diagramm zu sehen, genauso wie die heftigen Diskussionen über Kollateralschäden im Afghanistan-Einsatz von 2004 und die Diskussion von 2017.
Was eben leider auch dazu führt, dass sich auch die öffentliche Diskussion auf die Ebene des militärischen Sprachgebrauchs begibt und völlig aus dem Blick gerät, wie gleichgültig das Leid der betroffenen Menschen bei allen Beteiligten ist – den Terroristen wie den Militärs und den verantwortlichen Politikern.
Und statt wirklich ernsthaft darüber zu diskutieren, dass Militäreinsätze wirklich nur das allerletzte und damit möglichst zu vermeidende Mittel sind, Konflikte zu befrieden, wird über Zahlen diskutiert. Als wären 100 Getötete weniger schlimm als 4.000. Als wären die getöteten Menschen nur ein paar Treffer, mit denen das nächsthöhere Spiellevel erreicht wurde.
In Ralph Grünebergers Gedicht kommt noch einmal die ganze Betroffenheit zum Ausdruck, die viele von uns am 11. und 12. September 2001 empfanden, als wir die Bilder aus New York sahen.
Man findet den Filmclip auf seiner Website ralphgrueneberger.de, aber auch direkt hier.
„Die meisten von uns werden diesen Tag bis heute nicht vergessen haben“, schreibt Ralph Grüneberger. „Ich verbinde ihn seit nunmehr 13 Jahren mit dem Tod eines Freundes, mit dem ich an jenem 11. September 2001 zusammen war und wir im Internet – wie versteinert – die Bilder des Terroranschlages sahen.“
Das Gedicht wurde im Hörbuch „Bienen über Brooklyn“ 2016 veröffentlicht, das dem Poetry Clip zugrunde liegt.
Das Video zeigt natürlich auch, wie tiefe Betroffenheit zu Worten werden kann. Und es erinnert daran, dass wir uns alle 2001 nicht von den Hardlinern hätten anstecken lassen dürfen, sondern dem Betroffensein mehr Raum hätten geben müssen. Denn das fühlten ja die meisten schon richtig: Das sollte uns treffen. Aber nicht so, wie es uns die auf Rache sinnenden Politiker einredeten.
Es war – wie auch Arundhati Roy immer wieder betonte – auch ein Zeichen aus dem Abgrund der von uns so verachteten Welt, dass man mit Respekt und Rücksicht behandelt werden wollte. Denn auch wenn der „Krieg gegen den Terror“ erst 2001 ausgerufen wurde, hatte gerade die westliche Welt nach dem Zusammenbruch des Ostblocks wieder versucht, mit dem Großen Knüppel Weltpolitik in Afrika und Asien zu machen. Man redete vom „Ende der Geschichte“, machte aber Geschichte wie in Vorzeiten, weil man meinte, nun könnte man das wieder.
Und Sachsen ist auch nicht wirklich das Land, in dem auch mal die Dichter/-innen gefragt werden, die ja in der Regel die besseren und treffenderen Worte für das finden, was uns Menschen betrifft. Und so richtig viel Sinn sehen die diversen sächsischen Regierungen auch nicht, die Literatur im Land verlässlich zu fördern. Gefördert werden nur einige wenige Vereine und Festivals. Und die Gesellschaft für zeitgenössische Lyrik, die mit Ralph Grüneberger auch eine Heimstatt in Leipzig gefunden hat, hatte all die Jahre immer Mühe, ihre Projekte gefördert zu bekommen.
Doch was macht ein Vorsitzender, wenn es selbst in Corona-Zeiten nicht besser wird?
„Dass ich am heutigen Tag nicht wieder kandidiere und nach 25 Jahren das Ehrenamt als Vorsitzender der Gesellschaft für zeitgenössische Lyrik abgebe, heißt, dass der 11. September für mich fortan eine weitere Bedeutung haben wird“, schreibt Ralph Grüneberger. „Beabsichtigt war das nicht. Es sollte jedoch gestern – am Vorabend des Mitgliedertreffens – eine Veranstaltung mit Gedichten, Fotos, Abbildungen von Gemälden und Filmen (auch der, auf den ich hinweise) geben, leider fehlte die Förderung und es ließ sich nicht realisieren.“
Umsetzen konnte die Lyrikgesellschaft am 14. August noch ihre Lesung im Garten des Schillerhauses aus dem Poesiealbum „Fahren & Gefahren. Gedichte zur Automobilität“. Nun braucht die Lyrikgesellschaft eine neue Vorsitzende oder einen neuen Vorsitzenden, vielleicht wieder aus einem reicheren Bundesland, das auch ein Herz für Dichter/-innen hat.
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