Revolutionen greifen ineinander. Sie hören nicht auf, weil Menschen nie aufhören, über eine bessere Gesellschaft nachzudenken. Und deswegen ist es so wichtig, im Jahr 2019 auch an die vorletzte erfolgreiche Revolution in Deutschland zu erinnern. Und das mit einem Buch, das die Mühen der folgenden Ebene nur allzu anschaulich beschreibt. Am Donnerstag, 5. September, ist Jörg Sobiella mit „Weimar 1919“ im Zeitgeschichtlichen Forum zu Gast.

Der Autor und Journalist Jörg Sobiella erzählt in seinem vor dem Hintergrund der extremen politischen Wechselfälle anhand unbekannter Geschichten aus Zeitungen, Memoiren und Tagebüchern die Geschichte der zeitweiligen „Hauptstadt“ Weimar im parlamentarischen Ausnahmezustand. Es entsteht ein faszinierendes Panorama vom Gründungsparlament der Weimarer Republik, der Stadt, die der Republik den Namen gab, und dem Land, das auf eine bessere Zukunft hoffte.

Einem Land übrigens, dem es deutlich schlechter ging als der Bundesrepublik des Jahres 2019. Es hatte vier Jahre Krieg hinter sich, die Versorgung der Bevölkerung mit Lebensmitteln war nur noch mit größten Anstrengungen aufrechtzuerhalten. Das Volk war kriegsmüde. Millionen Tote waren zu beklagen. Gleichzeitig hielten die Alliierten ihre Seeblockade aufrecht, wodurch sich die Versorgungslage in Deutschland noch weiter verschlechterte.

Und erst im Sommer, mitten in den Endverhandlungen zur Weimarer Verfassung, würde Deutschland einen Friedensvertrag unterschreiben können – einen, der alle Mühen der provisorischen Regierung von Friedrich Ebert sinnlos erscheinen ließ. Die Alliierten – allen voran die Franzosen – honorierten weder die Entmachtung des Kaisers noch die schwere Geburt der deutschen Demokratie. Die Entscheidung wirkte selbst in Weimar, wohin die im Januar gewählte Nationalversammlung verlegt worden war, weil Berlin nach dem Spartakusaufstand als zu unsicher galt, wie ein Schock.

Ein Schock, den Sobiella genauso anschaulich zu schildern weiß wie den Beginn der Nationalversammlung im bitterkalten Winter, als die Abgeordneten in unbeheizten Zügen anreisten und überall in der Stadt Quartier nahmen, dazu tausende Regierungsmitarbeiter und Journalisten aus aller Welt, aus deren Artikeln Sobiella schöpfen kann. Er findet dort, was Regierungsdokumente und Geschichtsbücher fast nie aufzeichnen. Eher findet man es in alten Rechnungsbüchern – wie die Verpflegung der Abgeordneten organisiert wurde, wie Brennstoff besorgt werden musste und die erste richtig große Telefonzentrale aus dem Boden gestampft wurde, über die die Korrespondenten aus aller Welt berichten konnten, was in Weimar geschah.

Wir lernen Gastgeber kennen und Abgeordnete unterschiedlichster Parteien, denn zum Glück schrieben einige später wichtige Erinnerungsbücher oder hielten ihren Tagesablauf in Briefen und Tagebüchern fest. So lernt man auch die ideologischen Welten im damaligen Deutschland kennen, die deutlich konfliktreicher waren als heute. Dennoch blieben die Männer und erstmals auch einige gewählte Frauen dabei, rangen in den Ausschüssen der Nationalversammlung, die in diversen provisorisch eingerichteten Räumen des Weimarer Nationaltheaters tagten, um Formulierungen und Inhalte der ersten deutschen Verfassung, die später auch zum Vorbild für das Grundgesetz der Bundesrepublik werden sollte.

Man erfährt, wie auch die Baufehler in die Verfassung kamen, die ab 1930 dem vergreisten Präsidenten Hindenburg ermöglichten, den Reichstag praktisch zu entmachten und Kanzler nach eigenem Gutdünken einzusetzen, einer schlimmer als der andere.

Man erfährt aber auch, unter welchen Zwängen Parlament und provisorische Regierung agierten. Denn immer noch gärte es in Deutschland, kamen die Freikorps zu Einsatz, um Aufstände niederzuschlagen.

Sobiella hat mit seinem Buch etwas gemacht, was Historiker eher selten tun – meist schon deshalb, weil ihnen die Zeit dazu fehlt, die Berge von originalen Zeugnissen direkt aus der Zeit der Geschehnisse akribisch durchzuarbeiten und die Fakten und realen Ereignisse herauszufiltern, die erst in der Zusammenschau ein komplexes Bild dessen ergeben, was in den Geschichtsbüchern stets so beiläufig als „die Ereignisse in Weimar“ erscheint. Nicht zu greifen, schon gar nicht über die fiktive Königsebene. Denn dadurch geht das verloren, was Geschichte erst nach-fühlbar macht: das konkrete, oft ganz und gar nicht rationale Agieren der Menschen, die überhaupt noch nicht wissen, was am Ende in den Geschichtsbüchern stehen wird. Sie haben nur persönliche Motive, Nöte und Hoffnungen und eine Vision von dem, was erreicht werden soll.

Und nicht nur Sobiella bewundert die Herkulesarbeit an der Weimarer Verfassung, die am Ende dann doch länger dauerte, als es ursprünglich geplant war. Zwei Monate hätten es sein sollen – am Ende wurde es ein halbes Jahr, nach dem wieder alles ganz anders war als zuvor. Die Ergebnisse der Versailler Verhandlungen würden das Land in eine Depression stürzen, die umso schwerer war, weil bis zuletzt die Hoffnung gehegt wurde, dass das nunmehr demokratische Deutschland zurückkehren könnte in den Kreis der Nationen und einen glimpflichen Frieden bekäme. Denn immerhin hatte man die alte Kaisermacht mit ihrem elitären Wahlsystem selbst hinweggefegt. Irgendwie zumindest.

Und das selbst gegen die eigene, eigentlich kaisertreue Überzeugung wie bei Friedrich Ebert. Aber als es darum ging, dem Land eine demokratisch legitimierte Regierung zu geben, handelte Ebert, suchte den Ausgleich vor allem mit den Bürgerlichen.

Mit Sobiella taucht man ein in dieses Weimar des Jahres 1919 und erfährt, warum Revolutionen erst richtig schwer werden, wenn sie siegreich waren. Die eigentliche Arbeit beginnt erst. Und sie begann 1919 unter besonders schweren Bedingungen, denn in den nächsten Jahren würden die Erzreaktionäre erst einmal zeigen, dass sie keine guten Verlierer waren. Die ersten Drohungen gab es schon in Weimar. Wenig später, als die Republik endlich in ein ruhigeres Fahrwasser kam, sollten freilich viele der heute so berühmten Politiker, die in Weimar dabei waren, von rechtsradikalen Tätern ermordet werden. Sobiella zählt sie alle auf.

Und auch das ist wichtig – 100 Jahre danach: Die Rechtsradikalen versuchen immer wieder mit denselben Mitteln, die Demokratie anzugreifen und zu zerstören. Der Mord am Kasseler Regierungspräsidenten Walter Lübcke steht für diese Tradition der Einschüchterung, der Drohung und der radikalen Gewalt. Sie greifen auch immer wieder auf die nationalistischen Legenden einer glorreichen Vergangenheit zurück, schaffen bildlich eine mythische, von reinen Helden und einem idealen Volk dominierte Welt, eine Fiktion, die gerade in Krisenzeiten augenscheinlich viele Leute anfixt, denen die Mühe um eine funktionierende und gerechte Gesellschaft einfach zu viel ist.

So gesehen lebt die Revolution von 1918/1919 bis heute fort. Auch als immer neue Herausforderung, Fehlentwicklungen nicht zu ignorieren und Gefährdungen nicht auf die leichte Schulter zu nehmen.

Lesung mit Jörg Sobiella „Weimar 1919. Der lange Weg zur Demokratie“ am Donnerstag, 5. September, 19 Uhr , Zeitgeschichtliches Forum Leipzig, Grimmaische Straße 6. Eintritt: frei.

Weimar 1919: Das ganze Drama der Geburt der ersten deutschen Demokratie

Weimar 1919: Das ganze Drama der Geburt der ersten deutschen Demokratie

 

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