Auf diesen Fund ist das Archiv Bürgerbewegung Leipzig e.V. stolz: zwei heimlich mitgeschnittene Reden aus dem Neuen Rathaus vom 9. Oktober 1989, die miterleben lassen, wie die Funktionäre damals die Parteimitglieder in der Verwaltung auf den 9. Oktober einschworen. Dass die Hardliner damals tatsächlich um „die Macht“ kämpfen wollten, ist heute fast vergessen. Auch heute Abend wird wieder das Friedliche an der Friedlichen Revolution gefeiert.
Nach Friedensgebet und Rede zur Demokratie beginnt auf dem Augustusplatz um 20 Uhr das Lichtfest, diesmal unter der großen Überschrift „Mut, Werte, Veränderung“. Was auch wieder an diesen 9. Oktober 1989 erinnert, als alles auf Veränderung drängte, aber im Angesicht der aufgefahrenen Staatsmacht auch Mut vonnöten war. Und es stand die Frage nach den Werten, die im ersten heimlich mitgeschnittenen Tonprotokoll auch der damalige Leipziger Oberbürgermeister Bernd Seidel stellte. Auch wenn es die seltsamen Werte einer abgehobenen Funktionärswelt waren.
Natürlich im alten Jargon, im alten Parteikämpferton, der schon seit über 20 Jahren leer lief. Aber die „führenden Genossen“ machten einfach weiter, als wenn sie noch immer im „Klassenkampf“ des Jahres 1953 gesteckt hätten.
Erstmalig werden in einer Dokumentation, die das Archiv Bürgerbewegung im März vorlegte, auf einer beiliegenden CD diese bisher unbekannten Tonaufnahmen von einer SED-Parteisitzung am Vormittag des 9. Oktober 1989 im Leipziger Rathaus und der Einweisung der Genossen, die um 15 Uhr die Nikolaikirche „besetzen“ sollten, veröffentlicht.
Ein mutiger Tontechniker, Thomas Hauf, damals im Leipziger Rathaus beschäftigt, fasste sich ein Herz und schnitt am Vormittag des 9. Oktober 1989 zunächst eine SED-Parteisitzung heimlich auf Tonband mit, wo der damalige Leipziger SED-Oberbürgermeister Bernd Seidel ein langes Referat hielt zu den vorangegangenen Protest-Demonstrationen in der Stadt am 7. Oktober (dem 40. Jahrestag der DDR) und den 210 Zuführungen (Verhaftungen) von Oppositionellen. Der 40-jährige SED-Kader Seidel, ein promovierter Physiker, wies seine Genossen an: „Jetzt geht es erstmal darum, die Macht zu sichern.“
Dazu gehöre, dass man einige Leute aus den oppositionellen und kirchlichen Kreisen aus dem Verkehr zieht. „Schluss, das kann sich der Staat nicht mehr bieten lassen.“ Da „es ernsthafte Bestrebungen gibt, den Sozialismus zu kippen“, gelte es, das in 40 Jahren Aufgebaute nun zu verteidigen.
Auch die Einweisung für die zum Einsatz kommenden Genossen bei der Besetzung der Nikolaikirche am Nachmittag des 9. Oktober 1989 ist auf der CD zu hören, denn Tontechniker Hauf konnte unbemerkt ein Mikrofon hinter einen Bühnenvorhang platzieren und erneut mitschneiden.
Die Rede eines Genossen Erwin ist somit dokumentiert. Er weist im scharfen Feldwebel-Ton untergebene Genossinnen und Genossen an, wie sie sich in einer Kirche zu verhalten haben: Bei der Besetzung der Nikolaikirche sind keine SED-Parteiabzeichen zu tragen. Ein Genosse fragt ängstlich, was er tun soll, wenn er von den DDR-Sicherheitsorganen nach dem Friedensgebet vor der Kirche angehalten wird. Genosse Erwin antwortet knapp: „Genossen, in Gruppen zügig die Kirche in Richtung Ritterstraße verlassen.“
Genutzt hat es nichts, denn hinter den Genossen Erwins stand am Ende niemand mehr. Sie hatten sich in ihrer Kampfburg ganz allein verbarrikadiert. Sie redeten vom „Dialog“, waren aber – schon aufgrund ihrer bürokratischen Sprache – unfähig dazu. Nur wenige führende SED-Genossen würden in den nächsten Monaten im rasanten Wandel des Landes überhaupt noch eine Rolle spielen. Die meisten würden allein im Sprechakt schon scheitern, der Befehlston der Erwins erschreckte niemanden mehr.
Das Buch „Wir haben nur die Straße“ enthält nicht nur diese beiden Ton-Dokumente, es dokumentiert auch so umfassend wie bislang keine Dokumentation die Reden auf den Leipziger Montagsdemonstrationen. Was Seidel und der Genosse Erwin versuchten, misslang schon am 9. Oktober 1989: Das Volk ließ sich nicht länger bevormunden, sondern formulierte in Sprechchören und auf Transparenten seine eigenen Forderungen. Und mit oft völlig unzureichenden Beschallungsanlagen erlebte zumindest ein Teil der Hunderttausenden auf dem damaligen Karl-Marx-Platz, wie junge Parteien wie das Neue Forum und die SDP, aber auch Einzelakteure, die sich bis zum Mikrophon durchdrängeln konnten, die Politik in Fluss brachten und eine neue, deutlichere Sprache sprachen.
Kaum ein Buch macht so im frappanten Vergleich deutlich, wie der Herbst 1989 auch ein Ausbruch aus der verordneten Sprachlosigkeit war.
Tipp: Das Buch ist seit März im Buchhandel erhältlich und besitzt gerade in den nächsten Tagen aufgrund des aktuellen Bezuges – 9. Oktober in Leipzig – eine besondere Aktualität. Und weil bestimmt eine Menge Leute neugierig sind auf das Buch und die Herausgeber: Am 17. Oktober 2016 um 18:30 Uhr findet eine Vorstellung des Buches in der Leipziger Nikolaikirche statt. Den Termin kann man sich also schon mal vormerken.
In eigener Sache – Wir knacken gemeinsam die 250 & kaufen den „Melder“ frei
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