Sie haben es tatsächlich getan. Sie haben den Preis der Leipziger Buchmesse 2015 erstmals einem Lyriker gegeben. Wie sie es zur Frankfurter Buchmese im Herbst 2014 angekündigt haben: an Jan Wagner für seinen im Hanser Verlag erschienenen Gedichtband "Regentonnenvariationen. Gedichte". Wäre der Leipziger Belletristikpreis ein Lyrikpreis, das Buch wäre nicht mal in die Endauswahl gelangt.

Aber die Konkurrenz war ja auch 2015 wieder gedankenschwere, stilüberladene, analytische deutsche Romanprosa. Da fällt der einzig nominierte Gedichtband natürlich aus dem Raster. Aber leider nur da. Und die Jury redet dann auch noch drauflos, als gäb’s da draußen so eine Art Lyrikstreik und man fühlte sich jetzt berufen, die Lyrik wieder zu neuem Leben zu erwecken: “Die Lyrik ist die von den Lesern am meisten unterschätzte Gattung. Dabei war sie einst die Königsdisziplin. Gedichte bieten Ruhe und Konzentration auf engstem Raum. Sie sind kleine Bollwerke gegen Ablenkung und Zerstreuung. Und sie sind nicht flüchtig: fürs Wiederholen gemacht, prägen sie sich dem Gedächtnis ein. Jan Wagners Gedichte schenken dem Kleinen, dem Nebensächlichen Beachtung. Und sie machen es dem Leser nicht schwer.”

Und dann diese Selbstüberschätzung: “Dass nun zum ersten Mal beim Preis der Leipziger Buchmesse ein Gedichtband ausgezeichnet wird, wirkt hoffentlich wie ein Paukenschlag. Der möge den ‘Regentonnenvariationen’, dem mittlerweile fünften Gedichtband des Lyrikers, viele Leser bescheren.”

Dabei sind die “Regentonnenvariationen” kein Paukenschlag.

Auch 2014 sind in deutschen Verlagen dutzende Gedichtbände erschienen, die dichter sind, atmosphärischer, prägnanter.

“Jan Wagners Gedichte haken sich im Gedächtnis fest. Sie sind anschaulich, spezifisch, von zurückhaltender Intelligenz. Flora, Fauna und menschliche Debakel nimmt er freundlich in den Blick, ohne allzu viel Aufhebens um seine Wahrnehmungsfähigkeit zu machen. Klassische Formen wie die Ode oder das Sonett verwendet Jan Wagner ganz unauffällig, in meist reimlosen Versen, deutlich rhythmisiert und oft mit erzählerischem Schwung”, befindet die Jury.

Das beschreibt schon ganz gut, was Jan Wagner da macht – klug, formbewusst und – naja. Das war’s. Da zündet nichts, weil alles lieb und fein austariert ist. Da explodiert nichts, haut nichts um. Es ist dieselbe Herangehensweise, die deutsche Großfeuilletonisten an Romanen so lieben: vollgestopft mit Wissen, Gedankenschleifen und lexikonreifen Wörtern.

Aber das Eigentliche fehlt.

Das, was Gedichte zu kleinen Flammen macht, zu kompakten Texten, die treffen, überraschen und umwerfen.

Oder um mal Georg Dietz zu zitieren, der vor diesen Schöne-Flora-schöne-Fauna-Gedichten genauso ratlos saß wie wir: “Weich und weiß ist diese Literatur, ein Hermelin in der Nase von Tante Mia – und die Frage ist doch nicht, ob das nun der erste oder der 17. Lyrikband ist, der so einen Preis bekommt, und die Frage ist auch nicht, ob Jan Wagner ein Preisträger- und Stipendienabonnent zu sein scheint – sondern die Frage ist ganz allein, ob das ein gutes, ein tolles, ein weltveränderndes oder doch eher ein läppisches Buch ist.”

Zu den ausgewählten Belletristik-Titeln hat er eine ganz ähnliche Meinung.

Und das ist 2015 nicht neu. Es geht jetzt Jahr um Jahr, dass der Preis der Leipziger Buchmesse alles, wirklich alles vermeidet, was tatsächlich mal ein überraschendes, weil überzeugendes Novum auf dem deutschen Buchmarkt wäre.

Mit ihren Entscheidungen hat sich die zahme Jury längst eingereiht in das Karussell der deutschen Buchpreise, wo sich Feuilleton und die Creme de la Creme der deutschen Buchverlage stillschweigend darauf einigen, wer jetzt mal wieder dran ist mit einem Preis.

Die Autorinnen und Autoren, die in diesem Karussell nie auftauchen, wissen es, beißen die Zähne zusammen und veröffentlichen ihre Bücher weiterhin in den hunderten kleinen und unabhängigen Verlagen, die in Deutschland tatsächlich die Kärrnerarbeit machen und unverwechselbare gute neue Autorinnen und Autoren finden und pflegen.

Solche, bei denen all das noch lebt, was im deutschen Feuilleton eher mit Verachtung gestraft wird: Brisanz, Humor, knapper und lebendiger Stil, straffe Handlung, echte Zeitkritik, komprimiertes Leben. Es sind nicht die Autorinnen und Autoren, die im vielzitierten Elfenbeinturm leben. Es sind die Chefkritiker des großen Feuilletons, die ihre Spalten und Hörstunden mit allerlei philosophischen Analysen zu Büchern füllen, zu denen man eine Packung Kopfschmerztabletten und Aufputschmittel braucht, um sie lesen zu können.

Lesegenuss ist etwas anderes.

Die Preisvergabe an Jan Wagner ist kein Paukenschlag und keine Sensation. Sondern die Bestätigung all dessen, was die Geschichte dieses Preises in den letzten Jahren bestimmte. Es ist die Bestätigung eines Literaturgeschmacks, der weit, sehr weit weg ist von dem, was Leser tatsächlich aufregt, bewegt und fasziniert.

Deutlich besser sieht es bei Sachbuch und Übersetzung aus. Da geht es tatsächlich deutlich stärker um die Arbeit, die die Autoren und Übersetzer in ihr Material gesteckt haben.

Philipp Thers “Die neue Ordnung auf dem alten Kontinent. Eine Geschichte des neoliberalen Europa”, das mit dem Sachbuch-Preis bedacht wurde, haben wir schon vorgestellt.

In der Begründung überhebt sich die Jury wieder ein wenig: “Mit ‘Die neue Ordnung auf dem alten Kontinent’ ist eine ganz eigene Geschichte der Gegenwart gelungen; eine Geschichte unserer Gegenwart. Man versteht sie besser nach der Lektüre.”

Denn wenn die Mitglieder der Jury die Welt der Sachbücher zur jüngeren europäischen und weltweiten Wirtschaftsgeschichte kennen würden, würden sie nicht von einer “ganz eigene Geschichte der Gegenwart” reden, sondern wissen, dass sich dieses Buch einreiht in eine Reihe fundierter Titel zum Thema. Dass Ther die Umbrüche in Osteuropa dezidiert unter dem Aspekt der neoliberalen Schocktherapie betrachtet, das ist das Besondere – auch weil es die Leser eine Menge lehrt über die Wirkung und den Sinn dieser “Therapie”.

Aber da weder Politiker noch ihre Berater solche Bücher lesen, kann man wohl davon ausgehen, dass wieder keiner was draus lernt und alle so chaotisch weitermachen wie bisher.

Und wie das mit dem Preis für Übersetzung von Mirjam Pressler ist, die für die Übersetzung von Amos Oz’ “Judas” ausgezeichnet wurde, müssen die Übersetzer im Land sagen. Die Begründung der Jury klingt leider so, als ob sie indirekt doch eher Amos Oz für seinen Roman ‘Judas’ ausgezeichnet haben: “Ausgezeichnet mit dem Leipziger Buchpreis 2015 wird sie aber keineswegs für diese vielfältigen Verdienste. Sondern ausdrücklich für ihre Übersetzung des Romans ‘Judas’ von Amos Oz, die im Gelingen etwas Beispielhaftes hat. Ein großes Engagement und eine große Kompetenz kamen hier zusammen in einer Zeit, in der dieser Roman auch so etwas wie ein Buch der Stunde ist. Ein Roman, der uns sehr literarisch in viele Hintergründe der konfliktreichen Geschichten rund um Jerusalem einführen kann.”

Vielleicht sollte man solche Preisjurys tatsächlich anders zusammensetzen, wenn deutsche Buchpreise tatsächlich wieder Gewicht und Ruf bekommen sollen. Gerade was die Belletristik betrifft. Von der Lyrik gar nicht zu reden.

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