Wein Galerie Leipzig, Dufourstraße 28. Der Donnerstagabend liegt über der Stadt, Schnee türmt sich an den Straßenrändern. Doch drinnen in der Weingalerie stehen wieder Stühle in Reihen. Wie vor einem Jahr, als hier das Buch "Des Königs Butterkrebse" Premiere hatte. Doch diesmal ist weit und breit keine Uniform zu sehen. Buchpremiere ist trotzdem wieder. Der Ort hat es in sich. Es weiß nur kaum einer.
Als der Germanist und Historiker Michael Liebmann 2008 in seine Geburtsstadt Leipzig zurückkehrte, zog es ihn unwiderstehlich in die Südvorstadt. Da wohnt er heute. Und er hat – was man in der Südvorstadt eher seltener tut – auch mit den Leuten geredet. Das Rätsel um die Brandvorwerkstraße ließ ihn nicht los. Von 70 Leuten, die er fragte, wussten gerade einmal fünf so ungefähr, was es mit der Straße und mit dem Brandvorwerk auf sich haben könnte. So gründlich ist es aus dem Bewusstsein der heutigen Leipziger verschwunden.
Das liegt nicht nur daran, dass es vor über 100 Jahren auch aus dem Stadtbild verschwand und an seiner Stelle jener eindrucksvolle Häuserblock entstand, der heute quasi schräg am Platz steht, auf den von Norden her die Dufourstraße mündet und sich dann auf einmal zur August-Bebel-Straße aufweitet. Aber einen Bürgerverein, der sich auch um die Geschichte der Südvorstadt kümmert, hat diese nicht. Veröffentlichungen zu diesem Teil der gewachsenen Stadt Leipzig gibt es dementsprechend kaum welche. Denn der Mensch ist nun einmal so: Er beschäftigt sich nur dann intensiver mit einem Ort, wenn er sich in diesem Ort verwurzelt fühlt und gern wissen will, was da früher mal war, wie das alles entstand.
Denn ein Großteil der Straßen in der Südvorstadt entstand zwar im späten 19. Jahrhundert am Reißbrett. Vorbild sind die berühmten Idealstädte des 19. Jahrhunderts und die diversen Generalbebauungspläne, die seinerzeit für Furore sorgten und die alten mittelalterlich verschlungenen Straßenkerne der großen Metropolen aufbrachen und aufweiteten und mit einem geometrischen Straßenraster überzogen. Der berühmteste dieser Stadtplaner war Georges-Eugène Haussmann, der Paris auf diese Weise mit einem Netz moderner, geradliniger Straßen überzog. Ähnliches geschah nach diesem Vorbild in Berlin. Und das Berliner Vorbild scheint dann auch in Leipzig eine Rolle gespielt zu haben, als man endlich daran ging, die Äcker zwischen Leipzig und Connewitz zu parzellieren und zu bebauen.Da geriet dann auch das Brandvorwerk ins Geschehen. Lange Zeit hatte es am südlichen Ende der Leipziger Flur gelegen und war im 17. und 18. Jahrhundert einer der beliebtesten Ausflugsorte der Leipziger. Die Geschichte reicht noch viel weiter zurück. Den Buchpremierenabend in der Weingalerie kann Michael Liebmann mit einer Geschichte beginnen, die ungefähr ums Jahr 300 vor unserer Zeitrechnung geschah: der Bestattung einer Einwohnerin einer kleinen Siedlung, die damals an dieser Stelle stand. Aktenkundig ist der Begräbnisort durch einen Urnenfund, den die Bauarbeiter 1882 machten, als sie die lange Zeit hier stehende Ausfluggaststätte Gosenthal abrissen und die Grube für die neuen Wohnhäuser aushoben. Dabei kamen metallene Schmuckstücke aus einer einst hier vergrabenen Urne zum Vorschein. Der Fund ist zwar dokumentiert – doch anders als heute waren die Bauherren nicht verpflichtet, bei so einem Fund die Archäologen zu rufen, die hier möglicherweise ein ganzes Gräberfeld und/oder eine Siedlung aus vorchristlicher Zeit hätten ausgraben können.
Ob der Ort mit dem 1241 erstmals erwähnten Dorf Lusitz identisch war, kann man nur vermuten. Es lag zumindest an dieser Stelle und verwandelte sich im Mittelalter zu einem der Leipziger Vorwerke. Der Weg nach Schleußig – der alte Schleußiger Weg – zweigte hier ab. Der Ort lag nah genug bei der Stadt, um ihn für Ausflüge auch zu Fuß attraktiv zu machen. Den Namen Brandvorwerk bekam es möglicherweise nach jenen Calvinistenunruhen, die am 27. Juni 1593 dazu führten, dass ein aufgeputschter Haufen das im Besitz des Peter Roth befindliche Vorwerk in Brand steckte.Später entstand hier der Gasthof, der noch bis ins 19. Jahrhundert als Gosenthal bekannt war. Etwas weiter südlich stand die Brandbäckerei, genau dort, wo sich heute das Café Grundmann befindet. “Ich habe bis jetzt noch kein anderes Café in Leipzig gefunden, das sich schon so lange am gleichen Ort befindet”, sagt Thomas Nabert, Geschäftsführer des Pro Leipzig e.V., der das Buch von Michael Liebmann jetzt veröffentlicht hat.
Vorher gab’s – so musste Liebmann bei seiner Recherche feststellen – praktisch nur zwei Veröffentlichungen aus jüngerer Zeit, die das Brandvorwerk ein wenig ausführlicher behandelten: die Denkmaltopografie der Bundesrepublik, Sonderteil “Leipziger Süden”, und die Stadtteilstudie von Pro Leipzig aus den 1990er Jahren. Da ahnte er schon, was auf ihn zukommen würde: ein halbes Jahr Arbeit im Archiv und das Wühlen in tausenden Blättern von Archivmaterial. Denn wirklich intensiv mit dem Brandvorwerk hat sich tatsächlich noch niemand beschäftigt. Gerade auf Ortsteilebene ist Leipziger Geschichtsforschung ohne die interessierten Amateure, die sich diese Freizeitbeschäftigung zumuten, nicht denkbar.Und wer mit dem Brandvorwerk erst einmal anfängt, der merkt bald, dass es auch rechts und links davon nicht viel gibt, was irgendwo in lesbarer Form vorliegt. Nichts zum Generalbebauungsplan für den Leipziger Süden von 1863, der einen regelrechten Bauboom auslöste, in dem auch die einstige Connewitzer Chaussee, die bis dahin Leipzig mit Connewitz verband, ihre Bedeutung verlor. Eigentlich wäre sie zur Hauptstraße des neu entstehenden Stadtteils denkbar gewesen. Doch die Planer entschieden sich dafür, lieber eine schnurgerade und deutlich breitere Magistrale ein Stück weiter östlich davon anzulegen – die Südstraße alias Zeitzer Straße alias Adolf-Hitler-Straße alias Karl-Liebknecht-Straße. Aus der Connewitzer Chaussee wurde die Kochstraße, die sich heute noch in einem leichten Bogen vom Südplatz zum Connewitzer Kreuz spannt.
Dieses Stück Stadtentstehung kommt also im Buch auch mit vor. Es gehört dazu, wenn man die Geschichte des Brandvorwerks erzählt – und die Geschichte seines Fast-Verschwindens aus dem Stadtbild. Über 50 Neugierige lauschten am Donnerstag, 13. Dezember, dem, was Michael Liebmann zu erzählen hatte. Und bei den 2.500 Jahren, die er nannte, stutzten so manche.
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Denn auch markante Bilder, die es von anderen historischen Leipziger Sehenswürdigkeiten zu Hauf gibt, sind vom Brandvorwerk selten. Auf alten Karten findet man es – dicht neben der Pleiße gelegen (auch eine Mühle stand hier mal), von der Connewitzer Allee durch eine baumbestandene Alleestraße erreichbar – und im 18. Jahrhundert schon beleuchtet mit denselben Lampen, die Bürgermeister Romanus in der Stadt Leipzig hatte aufstellen lassen.
“Wer auf der Connewitzer Chaussee unterwegs war, wurde von den Lichtern im Tal regelrecht angelockt”, kann Liebmann erzählen. Und gut beheizt war die Gaststube auch immer. Gut beheizt war auch die Weingalerie, wo man zwar keinen Lusitzer Wein bekommt, aber einen Stadtbadwein. Den man durchaus mit gutem Gewissen zum Buch trinken kann, denn ein Euro von jeder Flasche kommt dem Stadtbad zugute, das 2016 wieder eröffnet werden soll. Ein Ausflugsort ganz anderer Art.
Ergänzend lesen kann man auch das 2006 bei Pro Leipzig erschienene Buch “Der Elsterfloßgraben”, in dem nicht nur die quasi gleich nebenan fließenden Wasser von Pleiße und Floßgraben eine Rolle spielen, sondern auch der etwas nördlicher gelegene Floßplatz, auf dem die Leipziger jahrhundertelang das angeschwemmte Holz lagerten, das in der Stadt dann verheizt wurde. Auch der Floßplatz wurde in jener Zeit umgebaut und in einen Schmuckplatz verwandelt, als der Generalbebauungsplan für die Südvorstadt umgesetzt wurde.
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