Heidrun Jänchen ist Schriftstellerin, Herausgeberin und in Sachsen Geborene. Trotzdem kommt sie nicht zur Bücherverkaufsshow mit Prominentenschaureiten im März nach Leipzig, sondern lieber zur kleinen, schmucken "Elstercon" im Juni. Schließlich geht es bei Ihr um Literatur, sogar um Science Fiction, der edleren Variante des Fantastischen. Tanner las begeistert ihr letztes Buch und sprach sie einfach mal an.
Hallo Heidrun, wunderbar, dich mal interviewen zu dürfen. Seit Jahren lese ich begeistert die von Armin Rößler und dir herausgegebenen SF-Anthologien im Wurdack-Verlag. Bei Science Fiction denkt der heutige Konsument ja meist an ziegelsteinformatige Weltenzerstörungs-Operas. Traurig, wo doch eigentlich die Kurzgeschichte die Königsdisziplin des Science Fiction ist. Wie kam es soweit, dass die SF-Kurzgeschichte so vom Markt verdrängt wurde?
In meinem Fall durch das Ende der DDR. Ich vermute, der DDR fehlten wie üblich die Devisen, um in größerer Menge Romane zu kaufen. Auf der anderen Seite galt Lesen als Tugend, und man wollte “unsere Menschen” unbedingt bilden. Also gab es immer wieder Erzählungsbände. Wie vielfältig die waren – mit Autoren aus Frankreich, Skandinavien, Bulgarien … – habe ich erst begriffen, als es nur noch Angloamerikaner gab.
Im gemeinsamen Deutschland ist es wohl vor allem die Marktkonzentration: wenige große Verlagsgruppen, die sich die Fläche in den Läden der wenigen Buchhandelsketten teilen. Die betreiben Risikominimierung. Wenn sich ein Buch im Monat nur ein, zwei Mal verkauft, ist es draußen. Angeblich gibt es von den Großhändlern auch vorsortierte Pakete, also 20 Kilo Krimi-Bestseller für jene Buchhändler, die Bücher verkaufen wie andere Gurken. Dadurch konzentriert sich alles auf wenige bekannte Autoren, möglichst erprobte Bestseller aus den USA, möglichst lange Serien.
Und die Konsumenten – gibt es die trotzdem?
An den Lesern kann es nicht liegen. Als ich zum ersten Mal mit einem Buchstand auf einem SF-Con in Sachsen war, hat fast jeder da ein Buch gekauft. Das war beinahe unheimlich. In Frankreich liegen Storybände in den normalen Buchläden, auch in den USA findet man sie problemlos. In Deutschland besetzen nur noch Kleinverlage diese Öko-Nische.
Womit ich endlich einen Aufhänger habe, mich für das Lob zu bedanken. An der Wurdack-Reihe klebt viel Herzblut. Die Autoren sind fast ausschließlich Amateure. Sie schreiben, weil sie etwas zu sagen haben, nicht um die nächste Stromrechnung zu bezahlen. Es ist entsprechend spannend, diese Bücher zusammenzustellen. Und Journalist Armin Rößler ist der perfekte Kollege dafür. Mittlerweile kennen wir nicht mehr alle Leser persönlich, aber es ist immer wieder schön, einem zu begegnen.
Du selber bist gerade mit “Willkommen auf Aurora” bei Wurdack herausgekommen. Feinstes Lesefutter für Weiterdenker. Wie muss man sich deine Arbeitsweise vorstellen? Im stillen Kämmerlein die “Spektrum der Wissenschaft” lesend und die Nachrichten weiterspinnend, bis zur Katastrophe?
“Spektrum der Wissenschaft” kommt vor, ist aber nicht die Regel. Gefährlicher ist es, wenn ich Zeitung lese. Vieles kommt aus dem wirklichen Leben – es hilft, wenn man Hartz-IV-Empfänger oder Afghanistan-Soldaten persönlich kennt. Manche Geschichten haben einen Anlass, wie etwa “Trigger”. Die verdanke ich Peter Hartz und Klaus Volkert und ihrem innovativen Verfahren, betriebliche Mitbestimmung durch brasilianische Prostituierte zu ersetzen. Als das ruchbar wurde, war ich gerade seit einem Jahr Betriebsratsvorsitzende – neben der normalen Arbeit. Meine Kollegen fragten mich, wodurch ich mich bestechen lassen würde. Dass das mit den Nutten bei mir nicht funktionieren würde, ahnten sie irgendwie. Nach einigem Nachdenken kam ich zu der Erkenntnis, dass es viel zu viel Spaß macht, unbestechlich zu sein. Das hat mich selbst verblüfft, und das wurde das Ende der Geschichte. Der Anfang dauerte dann noch ein paar Jahre.
Und sonst?
Manchmal ist der Anlass auch eine Geschichte, die ich gelesen habe: wenn ich das Gefühl habe, der Autor erzählt am eigentlich interessanten Konflikt vorbei. Dann schreibe ich einen Gegenentwurf. Das passiert mir auch mit meinen eigenen Texten. Eine der Aurora-Storys habe ich komplett von vorn geschrieben, weil ich das Gefühl hatte, die falsche Hauptperson gewählt zu haben. Sie ist böser geworden dadurch. Vieles entsteht beim Herumlaufen oder -fahren, wenn das Gehirn nicht ausgelastet ist. Der Anfangssatz meines Teils von “Der Eiserne Thron” zum Beispiel stammt von der A-4, auf Höhe der Abfahrt Eisenberg. Man muss sich Ideen nur merken, bis man einen Computer zum Aufschreiben hat. Für Notfälle habe ich ein Sudelbuch.
Neben deiner Herausgeberei und Schriftstellerei arbeitest du am futorologischen iknow-Projekt der EU mit. Was ist das denn genau – was machst du da?
Die EU finanziert alles Mögliche, unter anderem ein Projekt, das sich nur damit beschäftigte, unwahrscheinliche, aber potentiell wirkungsvolle Ereignisse aufzuspüren, sogenannte Wild Cards. Das sind Fragen wie: Was passiert, wenn man die künftige Intelligenz von Kindern per Gentest ermitteln könnte? Wird die Jugend aus Protest gegen den Liberalismus der Eltern einen Schwenk zurück vollziehen – zu Volksmusik von Heino, Kirche, Konservatismus? Wie ändert sich die Gesellschaft, wenn es ein Medikament gibt, das Schlaf überflüssig macht? Geht 2012 die Welt unter? Vieles klingt auf den ersten Blick ziemlich absurd, manches weniger.Wie bist du da reingeschlittert?
Am Projekt war die deutsche Firma z_punkt beteiligt. Deren Mitarbeiter Karlheinz Steinmüller hatte die Idee, zum Workshop neben Experten aus Entwicklungsabteilungen auch Science-Fiction-Autoren einzuladen.
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Gemeinsam mit Michael Iwoleit, Bernd Flessner und Tobias Meißner haben wir verrückte Ideen ausgebrütet und zwei davon genauer analysiert. In einer späteren Phase habe ich mich an der Bewertung derartiger Wild Cards beteiligt: Wie wahrscheinlich ist das, welche Auswirkungen hat das auf Deutschland, auf Europa, was sollte man tun, um frühzeitig reagieren zu können? Eigentlich war es fast unanständig, für so viel Spaß auch noch Geld zu bekommen.
Auffällig war die kriminelle Energie der Autoren-Gruppe. Während die Experten eher Chancen in neuen Entwicklungen sahen, hatten wir sofort irgendeine Möglichkeit des Missbrauchs zur Hand. Und Gegenstrategien gegen den Missbrauch. Und private Katastrophen. Verkaufsslogans und Verschwörungstheorien. Es ist gut, dass wir das auf Papier ausleben.
Das gibt es heute noch?
Inzwischen ist das Projekt – leider – beendet. Meine ganz persönliche Wild Card “Nervous Breakdown of Society” steht im Abschlussbericht. Die Krankenkassen registrieren seit einiger Zeit einen Anstieg psychischer Erkrankungen. Die Produktionsprozesse sind inzwischen so effizient geworden, dass viele Menschen dem Erwartungsdruck nicht mehr standhalten. Unternehmen suchen gezielt die “low performer” in der Belegschaft, die Unterdurchschnittlichen, um sie loszuwerden. Was passiert, wenn Depressionen und Psychosen zur Epidemie werden? Die Story “Gänseblümchen”, letztes Jahr in “Nova” erschienen, beschäftigt sich mit einem Geschäftszweig, der auf dem Schrott des allgemeinen Nervenzusammenbruchs blüht. In einem muss ich dich allerdings korrigieren: Ich mache das alles neben meinem Job als Optikentwickler. Der sorgt dafür, dass es zum trockenen Brot, das ich mit dem Schreiben verdiene, auch Butter und Wurst gibt. Er ist aber auch Ideengeber.
Donald A. Wollheim sagte einst: “SF ist die hellste Literatur, da sie an eine Veränderung des Menschen glaubt, daran, dass die Mahnung etwas nutzt, dass die Katastrophe verhindert werden kann.” Glaubst Du, dass SF heute überhaupt noch eine gesellschaftliche Funktion hat – oder ist alles nur noch Tittytainment?
SF ändert die Welt, unbedingt. Ich habe zwei Beispiele dafür. In den Achtzigern war das Waldsterben ein großes Thema. Die meisten Leute interessierte das nicht mehr als die globale Erwärmung heute. Nachbars Birnbaum war offenbar quicklebendig, warf sommers Schatten auf die Erdbeerbeete und im Herbst Blätter, das Mistding. Da hat man doch nichts dagegen, wenn der stirbt. Aber es gab Leute, die beharrlich über deutsche Steppenlandschaften schrieben. Die haben die drohende Katastrophe anschaulich gemacht. Heute haben wir Abgasfilter in den Schornsteinen, und der Wald hat sich sichtlich erholt. Das andere Beispiel ist persönlich: Mit 15 war ich ein relativ normales Mädchen mit einem Talent für Fremdsprachen, einer Schwäche für Pferde und einem Horror vor Technik. Mit 17 habe ich den Weltliteratur-Kurs hingeschmissen und mich stattdessen für Digitalelektronik eingeschrieben, ein Jahr später Physik studiert. Dazwischen lagen wahrscheinlich so um die 200 SF-Bücher, und die Physiker waren immer diese coolen Typen mit den rettenden Ideen.
Das klingt ja richtig optimistisch, Heidrun – meine Erfahrung ist da wirklich nicht ganz so positiv. Ich sehe eher überall Verweigerer und Schlechtredner, Neidhammel und Engstirnige.
Viele Leute sagen heutzutage: Man kann ja eh nichts ändern; ich habe nur ein Leben, und das will ich genießen. Das regt mich auf. Meine Storys erzählen meist von Menschen, die sich gegen die Verhältnisse auflehnen, die ausbrechen, die irgendwo nicht mehr mitmachen. Das ist eine Haltung, mit der ich die Leser gern infizieren möchte. Wenn mir das gelingt, habe ich eine Menge erreicht. Spannung und Sex stören dabei nicht. Lesen soll ja Spaß machen und keine Arbeit sein.
Michael Szameit (Planet der Windharfen) hat ja vor kurzem einen Abgesang auf die intelligente, themenvielfache SF veröffentlicht. Mittlerweile gibt es Gegenstimmen, SF-Aktive, die Licht sehen am anderen Ende der schwarzen Löcher. Wo stehst Du in dieser Diskussion?
Hast du auf dem scifinet spioniert? Ich bin definitiv eine Gegenstimme, obwohl Michael Szameit schon Tausender-Auflagen hatte, als ich noch zur Schule ging. Szameit argumentiert um die Ecke. Eigentlich kritisiert er nur Filme und Fernsehserien, also gnadenlos durchkommerzialisierte Produkte. Da gebe ich ihm zum Teil recht. Dann fügt er an: Das gilt natürlich auch für die Literatur. Das mag gelten für die Großverlage, die es sich leisten könnten, aber kein Risiko eingehen. Bei den kleinen sieht es ganz anders aus. Wenn man die einfach ignoriert, setzt man voraus, dass nur Leute bei Kleinverlagen veröffentlichen, die wegen qualitativer Mängel keine Chance bei den Großen haben. Aber wenn man sich die Preisträger der letzten Jahre ansieht – Deutscher Science Fiction Preis oder Kurd Laßwitz Preis – dann merkt man, dass es so nicht ist. Die Preise gehen immer öfter an Kleinverlagspublikationen.
Karsten Kruschels “Vilm” hatte jahrelang bei den großen Verlagen keine Chance – DSFP 2010. Leute wie Ernst-Eberhard Manski, Uwe Post oder Frank Haubold schreiben alles Mögliche, aber bestimmt keine US-Serien-tauglichen Erzählungen. Da gibt es Spam-Tauben oder sprechende Kakteen mit einer Lärm-Allergie. In den Kurzgeschichtenbänden versuchen wir, die ganze Bandbreite der aktuellen SF unterzubringen. Da gerät schon mal ein surrealer Text hinein oder einer, der konsequent auf Großschreibung verzichtet, unbedingt aber Satirisches und Absurdes. Natürlich gibt es auch Leute, die es mit dem x-ten Abklatsch von “grausame Aliens verwüsten die Erde” versuchen, aber wenn ihnen dazu nicht etwas absolut Neues einfällt, sind ihre Chancen schlecht. Wenn dem einen oder anderen Leser der eine oder andere Text nicht gefällt, ist das keine Katastrophe. Es sind ja noch etliche mehr im Buch. Im Durchschnitt scheint das Konzept aufzugehen.
Zur Buchmesse werden wir dich leider nicht in Leipzig begrüßen dürfen. Dafür aber planmäßig zur “Elstercon” im Juni, ausgerichtet vom Leipziger Freundeskreis Science Fiction. Wie sind denn die SF-Freunde hier so in Leipzig – Nerds – Rollenspieler? Käpt’n Kirks oder Sailor-Moonies?
Sie sind vor allem Sachsen, und das macht sie schon mal sympathisch. Das ist die einzige Gegend, in der ich keinen komischen Dialekt spreche – meine Muttersprache ist ein erzgebirgisch kontaminiertes Mittelsächsisch. Sie können lesen und tun das viel und gern. Sie haben tatsächlich einen auffälligen Hang zur Gemütlichkeit. Erstaunlich viele sind weiblich. Sie sind mit den gleichen Büchern aufgewachsen wie ich. Eine westdeutsche Journalistin hat mich schon gefragt, ob meine Begeisterung für SF von Perry Rhodan käme. Ich habe zum Glück nicht gefragt, was der geschrieben hat … Die Sachsen sagen utopische Dinge wie: “Man kann doch den Kaffee nicht so teuer machen. Die Leute haben doch nicht so viel Geld.” Auf eine derartige Idee muss man erst einmal kommen. Die ist beinahe staatsgefährdend. Man muss natürlich verrückt sein, um einen Con zu organisieren, aber davon abgesehen würden die meisten auf der Straße nicht auffallen. Der Anteil an Leuten mit einem naturwissenschaftlichen oder technischen Studium dürfte allerdings überdurchschnittlich sein. Science Fiction ist die Mythologie der Ingenieure.
Steht denn schon Neues in den Startlöchern – literarisch betrachtet?
Irgendwas schreibe ich immer. Und wenn es Artikel für das Jenaer Bürgerportal jenapolis sind – im Moment gibt es mehrere Bauprojekte, die bürgerschaftliche Einmischung erfordern. Außerdem bearbeitet mich mein Verleger Ernst Wurdack regelmäßig, damit ich endlich einen neuen Roman schreibe. Als Manuskript fertig ist “Der Schatten der Katze”. Wir haben uns darauf geeinigt, dass es ein unhistorischer Roman ist. Seit Generationen gibt es die Fehde zwischen den Adelshäusern San Basil und Bosquie, und sie ist ein wenig zum Ritual verkommen. Es ist Tradition, dass jeweils der dritte Sohn von Bosquie als Schwert der Familie deren Schutz übernimmt. Aber als Simon de Bosquie dabei stirbt, gibt es ein Problem: Der dritte Sohn ist eine Tochter. Der Roman erzählt, wie es ihr/ihm gelingt, mit der Fehde fertig zu werden – und wie schwer es ist, sich für ein bestimmtes Leben zu entscheiden. Der Anfang dazu stammt übrigens von der A9 – damals war ich noch Pendler. Außerdem habe ich ein halbes Manuskript auf der Festplatte, das inhaltlich an “Slomo” aus “Willkommen auf Aurora” anschließt. Das ist das aktuelle Nummer 1-Projekt. Nebenbei lektoriere ich “Vilm – Das Dickicht” von Karsten Kruschel. Ein bisschen drücke ich mich damit vorm Schreiben, denn zum Lektorieren braucht man keine Ideen, nur einen Duden und einen kritischen Verstand. Aber im Moment liegt der Text bei Karsten – da habe ich keine Ausrede mehr.
Danke, beste Heidrun, für dieses interessante Gespräch.
Und danke zurück. Es ist toll, wenn man nicht als erstes gefragt wird, wie man denn als Frau ausgerechnet auf Science Fiction kommt.
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