Die Gestalt des Denkers von Auguste Rodin ist, so Rainer Maria Rilke, die Gestalt „des Mannes, der die ganze Größe und alle Schrecken dieses Schauspiels [die Welt des Porte l’ Enfer, des Höllentores, K.C.] sieht, weil er es denkt. Er sitzt versunken und stumm, schwer und leicht zugleich: von inneren Bildern, die den äußeren voran und gleichzeitig schon vorhergegangen zu sein scheinen und doch beschwingt wie vertieft in den Augenblick.
Sein ganzer Leib ist Schädel geworden und alles Blut in seinen Adern Gehirn. „Dass er es, das Leben, das Lebendige, denkend lebt, in Einsamkeit, sich nach innen biegend, meditativ zwischen sich und sich, macht ihn zum Metatropisten.“ Es ist dieses „angestrengte Horchen in die eigene Tiefe“, welche die Tiefe und Weite der Großen Sehnsucht ist und damit Weltentiefe, in der er sich unzerstreut allein durch sich leiblich-empraktisch erfahrend freiwillig, ja notwendig aufhält.
Dieses lustvolle Horchen lässt ihn die grausame Tiefe und sich selbst von Moment zu Moment immer mehr und wieder überquellende Lebendigkeit an und durch sich selbst, erahnen. So wird er im eigentlichen Sinne Mensch, menschlicher Mensch – als Metatropist ist er grausamer, sehnsüchtiger, lebendiger als alle anderen zusammen.
Der Metatropist, der hagere Asketenleib, wie Rilke eine der Rodinschen Skulpturen beschreibt, der „wie ein Holzgriff“ geht und geht „als wären alle Weiten der Welt in ihm und als teilte er sie aus mit seinem Gehen“, ist der im Zwischen seiner Selbst sich nach Innen Biegende, der sich am liebsten „in sich selber hüllen wollte, ohne fremde Hilfe“. (Rilke)
Rodins Skulpturen – Ausdrücke seiner Selbst! Der Jahre in Einsamkeit Schaffende gebiert Halbgötter, die dem Innersten seines Wesens entspringen, entfliehen, zum Ausdruck sich drängen und selbst dem Hässlichen wohnt der Zauber der Schönheit inne. Die Fratze wird zur Harmoniegestalt, die Hexe zur verwunschenen Fee und der Teufel zum Liebhaber in Prinzengestalt.
Schön ist, was dem Leben gemäß stimmt. Die tiefen Furchen, die das Leben zieht, sind Quelle der Fruchtbarkeit und der Tiefe des Landes. „Und er glaubte in alledem […] das Ewige zu erkennen, das, um dessentwillen auch das Leid gut und die Schwere Mutterschaft war und der Schmerz schön.“ (Rilke)
Rodins Werk des „Mannes mit der gebrochenen Nase“ zeugt davon. Dieser Kopf zeigt einen hässlichen alten Mann mit gebrochener Nase und, so schreibt Rilke sehr treffend: „es war die Fülle von Leben, die in diesen Zügen versammelt war; es war der Umstand, daß es auf diesem Gesichte gar keine symmetrischen Flächen gab.“ Schönheit ist also nicht gleich Symmetrie. „Dieses Gesicht war nicht vom Leben berührt worden, es war um und um davon angetan, als hätte eine unerbittliche Hand es in das Schicksal hineingehalten, wie in die Wirbel eines waschenden, nagenden Wassers.“
(Rilke) Die Schönheit des Schmerzes zu erleben heißt Ewigkeit erkennen oder zumindest: ihr ins Auge zu blicken.
„Je mehr Berührungspunkte zwei Körper einander boten, je ungeduldiger sie aufeinander zustürzten, gleich chemischen Stoffen von großer Verwandtschaft, desto fester und organischer hielt das neue Ganze, das sie bildeten, zusammen.“ (Rilke)- Dieses Neue, das man mit Hannah Arendt auch eine Geburtlichkeit zur Welt, nennen kann, entsteht durch die wesentliche Zusammengehörigkeit sich leidenschaftlich begehrender Leiber.
Wenn aus den Berührungspunkten Flächen werden, die sich unaufhaltsam ausbreiten, bis der ganze Körper mit dem anderen zu Einem, einem Einzigen verschmolzen ist – dann entstehen Mischwesen, in denen kein Ich sich mehr vom anderen abgrenzen kann – erlöst in einem gemeinsamen Selbst kann es erahnen, was es als dieses Selbst ist.
Von außen: ein Kentaur, ein Ungeheuer, Gott-Tiere … der Großen Sehnsucht des Lebens selbst entsprungen. Es sind sich über Abgründe und höchste Höhen treibende Organe künstlerphilosophischen Seyns, die sich am Dasein des Einzelnen selbst abarbeiten – ungefragt brutal und grausam – lustvoll, lebendig. Und aus schwindelerregender Tiefe erwächst das Erhabene, Große …
Die Suche nach Lebendigem ist die individuelle Lebenssuche, die die Große Sehnsucht wesentlich charakterisiert, die uns und unser Innerstes in atemloser Gewissheit zum Ausdruck zwingt, in sich stets erneut wieder ergreifender Gedankenfluten des Leibes. Der Gedanke ist empraktisch-leiblich verfasst. In ihm gründet sich jegliches Denken. Der Gedanke trägt das Leben, den Leib des Einzelnen und er ist von untrüglicher, unvergesslicher, vielleicht noch längst nicht verstandener Klarheit – von schöner Gestalt.
Diese Sehnsucht ist es, „die die großen Dichter macht“ – fern jenes unerträglich stagnierenden Zustandes des ewigen Mittelmaßes, das zufrieden vor sich hinlebt und den Trieb der eigenen Natur, des Lebendigen, des Lebens vergessen und verlernt hat überhaupt wahrzunehmen.
Abgestumpft, abgeschliffen – zurecht gelutschte Bonbons in einer Wohlfühlgesellschaft, die wohl bald darauf achten muss, dass diese Bonbonmasse den Kindern nicht im Halse stecken bleibt und sie daran ersticken. Aber nein: sie ersticken das Kindliche, Staunende, Neugierige absichtlich. Alles das Mittelmaß Übersteigende, das Schwierigkeiten bereiten könnte in Gestalt von Kontrollverlust.
Die Menschheit hat aufgehört zu hungern, asketisch zu leben, in sich sein zu können und dann aus sich heraus Werte und daran schließende Urteile zu bilden – wahrhafte Bildung.
Es gibt keine Bildung im Sinne von Selbst-Bildung mehr. Verrohstofflichung der Körpermassen als Biokapital. Das Selbst des Menschen, seine Natur, sein Metatropismus, sein Genie, sein Leib als „Große Vernunft“ wird erstickt im Kleinklein instrumenteller Abrechenbarkeiten, die dogmenhaft einen unbewunderungswürdigen „Gott“ ohne Schöpfungsmacht, Begriffe ohne Gegenstandsbereiche, die in der Welt verwurzelt wären und damit den Menschen durch heteronome Grenzsetzungen enthumanisieren.
Unter der Vorspiegelung tausend- und abertausendfacher Möglichkeiten, die jeder (beliebig) hätte, verwirrt sich der Einzelne bis zur absoluten Haltlosigkeit – folgt er diesem Konstrukt kritiklos – im Irrgarten der sinnentfremdenden „Angebote“ von außen bis hin in die echte Sinnlosigkeit, die keinen Funken zur lebendigen Welt, zu einer echten Möglichkeit menschlicher Existenz mehr erkennen lässt. Unbemerkt, sich verloren zu haben.
www.empraxis.net
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