Dr. Uta Bretschneider hat Volkskunde/Kulturgeschichte und Soziologie studiert und ist Direktorin des Zeitgeschichtlichen Forums Leipzig. Gemeinsam mit dem Historiker Dr. Jens Schöne, dem Stellvertreter des Beauftragten zur Aufarbeitung der SED-Diktatur im Land Berlin, hat sie im Buch „Provinzlust – Erotikshops in Ostdeutschland“ den Aufstieg und Niedergang der Sexshops im ländlichen Raum erforscht. Wir haben mit ihr über die Entstehung des Buches und ihre Motivation gesprochen.

Frau Dr. Bretschneider, Sie sind Direktorin hier im Zeitgeschichtlichen Forum und haben, mit Herrn Schöne gemeinsam, ein Buch geschrieben: Provinzlust – Erotikshops in Ostdeutschland. Was verbindet Sie mit Erotikshops?

Ehrlich gesagt gar nichts. Aber da gibt es tatsächlich ein großes Interesse für ländliche Räume, welches ich mit Jens Schöne teile. Jens Schöne hat mir ein paar Lebensjahre voraus und forscht schon viele Jahre zu Dörfern in der DDR, zu LPG-Geschichte und ähnlichen Themen. Ich habe meine Doktorarbeit über die Nachkriegszeit und die Umbruchprozesse, wie die Kollektivierung der Landwirtschaft, im ländlichen Raum geschrieben.

Da bin ich natürlich ständig über Jens Schöne gestolpert. Und dann haben wir zusammen eine Veranstaltung, 2019 glaube ich, in Erfurt gehabt. Da haben wir uns das erste Mal live gesehen und gesagt, wir können mal ein Projekt gemeinsam machen. Es war relativ schnell klar, es muss natürlich um ländliche Räume gehen. Das treibt uns beide um.

So entstand also das Projekt?

Nicht sofort, das stand erst mal lose im Raum. Es kam die Pandemie, ich bin nach Leipzig gezogen und habe kleine Ausflüge über Land gemacht. Einer führte mich ins südliche Brandenburg und dann hab ich auf dem Navi gesehen „Sexshop und Aquaristik Patrick Heidler“. Ich habe einen Screenshot gemacht, hab den Jens Schöne geschickt und geschrieben: Wie wäre das als Thema? Eigentlich nur als Flapserei.

Und dann ist im Laufe von wenigen Tagen aus diesem Scherz tatsächlich Ernst geworden. Wir haben ein kleines Konzept geschrieben, hatten noch keinen Verlag, aber wussten schon, dass wir gerne mit den Fotografen Karin Weinert und Thomas Bachler zusammenarbeiten wollen. Dann kam eins zum anderen.

Wir haben einen Leitfaden für die Interviews konstruiert. Wir haben die ersten Interviews geführt, das erste in Oschatz, dann haben wir recherchiert, wo es noch Läden gibt und sind losgezogen. Innerhalb von zwei Jahren, nämlich 2021/2022, haben wir die ostdeutsche Provinz und ihre Sexshops bereist. Zwischenzeitlich haben wir mit Ch. Links auch einen tollen Verlag für das Projekt gefunden.

Die Sexshops sind insofern interessant, als man an deren Beispiel ganz viel von dieser Umbruchsgeschichte nach 89/90 erzählen kann. Es ist durchaus ein ernst zu nehmendes Thema und natürlich gibt es so auch eine Schnittmenge zu meiner Arbeit im Zeitgeschichtlichen Forum. Jens Schöne und ich haben das Projekt allerdings komplett in unserer Freizeit gemacht. Wir können behaupten, zwei Jahresurlaube in und mit Sexshops in der ostdeutschen Provinz verbracht zu haben. Wer kann das schon?

Sie haben zwei Jahre in Sexshops verbracht, wirklich nur zu Interviews?

Ich war 2022 tatsächlich auch einige Tage im Ascherslebener Laden als Praktikantin tätig, natürlich als teilnehmende Beobachterin mit wissenschaftlichem Interesse. Das hat nochmal eine andere Dimension eröffnet und es ist auch ein Text dazu entstanden über das Alltagsgeschäft in so einem Provinz-Sexshop.

Der Laden in Aschersleben ist, mit 58 Quadratmetern, ein sehr kleiner und es gibt irgendwie alles, was man braucht oder nicht braucht. Das war für mich nochmal so ein besonderer Einblick und eine interessante Erfahrung.

Welche Erfahrungen haben Sie denn gemacht?

Es passiert nicht viel in so einem Sexshop auf dem Land und man muss es einfach aushalten, dass da längere Pausen dazwischen sind, und sich irgendwie beschäftigen können. Das war ganz wunderbar, weil ich mit Moni im Laden war. Wir haben viel über das Leben in der Provinz, über Sexshops und alles Mögliche diskutiert und insofern war das eine sehr gute Zeit.

Natürlich gibt es Läden, wo mehr los ist. Zwickau zum Beispiel, das war für uns das obere Ende der Provinzskala. Und es gibt Läden, wo weniger los ist, wie vielleicht auch bei Patrick Heidler. So viel kann ich schon verraten: Es kommen alle, also Männer, Frauen, Paare, Junge, Alte. Ich habe auch gedacht: Moment, das kann doch gar nicht sein, so viele Junge gibt es ja gar nicht. Und ich glaubte, da kommen sowieso nur Männer.

Aber es geht wirklich quer durch die gesamte Bevölkerung. Also Junge, Alte, verschiedene Berufsgruppen, Paare, einzelne, Freundinnen, alles Mögliche, es war wirklich gemischt. Das fand ich total interessant zu sehen, dass meine Annahme so widerlegt wurde.

Ein Sexshop in Herzberg. Foto: Karen Weinert/Thomas Bachler
Sexshop in Herzberg. Foto: Karen Weinert/Thomas Bachler

Sie und Jens Schöne sind Wissenschaftler, da gibt es ja ein wissenschaftliches Interesse. Was kann man aus Ihrer Forschung schließen? Man denkt ja oft, die Nachwendezeit in der ehemaligen DDR ist auserzählt und jetzt kommt, mit Ihrem Buch, wieder eine neue Facette.

Oh Gott nein, wir stehen doch noch am Anfang mit dieser Zeit. Ich glaube, über die DDR ist schon viel nachgedacht worden, aber die Jahre seit dem Ende der DDR rücken ja erst jetzt richtig in unser Interesse. Es gibt Studien zur Treuhand und zu den frühen 90ern, aber die lange Entwicklung danach, die ist jetzt erst ein heißes Thema. Das bearbeiten wir auch im Zeitgeschichtlichen Forum mit dem neuen Ausstellungskapitel, welches wir seit dem letzten Jahr haben.

Wir haben für das Buch den Zugang über die Lebenswege der Menschen gewählt, das heißt, es hat uns nicht interessiert, welche Vibratoren verkauft werden, sondern: Wie sind die Leute zu dieser Selbstständigkeit gekommen? Und wie ist das Verhältnis von Diskretion und Offenheit in ländlichen Räume? Das ist ein großes Thema.

Wir fragen natürlich auch nach dem nachholenden Konsum der frühen Nachwendezeit, weil es in der DDR keine Sexshops gab. Pornografie war verboten und es war etwas ganz Neues und es gab eine riesige Neugier, einen riesigen Nachholbedarf und man konnte richtig Geld damit machen.

Jens Schöne interessiert sich eher für diese ökonomischen Aspekte und blickt wirtschaftshistorisch auf dieses Thema. Es ist natürlich spannend, wenn ich eine VHS-Kassette für bis zu 300 Mark verkaufe. Das ist auch der Grund, warum es in den frühen 90er Jahren diese Sexshops überall gab. Allein in Aschersleben gab es teilweise drei.

Könnte man von einer Art Goldgräberstimmung sprechen?

Absolut, die gab es in vielen Branchen und es gibt ja auch Bilder, wie Beate-Uhse-Kataloge verteilt wurden und die Leute Schlange standen. Ich finde wirklich hoch spannend, wie das Unternehmertum erwachte. Es gibt keine exakten Zahlen, vielleicht waren es 1.800, vielleicht waren es mehr oder weniger. Fakt ist, in ländlichen Räumen gibt es gerade so ein Dutzend. Wir haben zehn besucht und das sind wohl die letzten ihrer Art. Wir haben Patrick Heidler gefunden und dachten: Davon gibt es bestimmt noch mehr und das Internet kennt die alle noch. Aber die meisten sind nicht mehr da.

Mitte der 90er gab es die erste Sterbewelle, nachdem die erste Neugier gestillt war und die Leute gemerkt haben: Mein Arbeitsplatz ist weg, meine Familie muss sich im Westen neue Jobs suchen, oder mein soziales Umfeld ist abhandengekommen. Da hatte man andere Sorgen. Dann kamen auch die Ketten in den Osten, wie Beate Uhse und Orion, die haben ihre Produkte zu anderen Preisen angeboten. Nicht zuletzt hat in den 2000ern das Internet dazu geführt, dass die letzten sich dann verkrümelt haben.

Die, die wir besucht haben, waren wirklich Läden, die gute Wege gefunden haben, die sich spezialisiert haben. „Sexshop und Aquaristik“ ist eine Variante, im Sommer gehen die Fische besser, im Winter der Sexshop. In Zwickau, haben sie sich auf BHs in großen Größen spezialisiert oder der Shop in Oschatz auf Dessous. In Aschersleben ist es ein größerer Firmenzusammenschluss, mit Spielothek, einer Pension und es wird Fläche an ein Autohaus vermietet.

Viele der Läden, die noch da sind, haben mehrere Standbeine, oder eine Spezialisierung und deshalb gibt es die noch. Also kluges Wirtschaften und auch ein bisschen stoischer Fatalismus: Ich mache das jetzt!

Sie sind Kulturwissenschaftlerin. Was kann man, aus Ihrer Sicht, aus dieser ganzen Entwicklung, also: „Es kommt etwas Neues, es boomt, es flacht ab“, schließen?

Es ist natürlich eine klassische Entwicklung, die prototypisch für die Entwicklung des Einzelhandels im ländlichen Raum ist. Ich sehe auch ständig leerstehende Autohäuser in ländlichen Räumen, die haben eine ähnliche Kurve. Videotheken sind mittlerweile kaum mehr vorhanden, bei Solarien ist es ähnlich. Man könnte da einiges an Beispielen suchen.

Es ist tatsächlich eine allgemeine Entwicklung, die auch mit Globalisierung und Digitalisierung zu tun hat, aber auch mit Infrastrukturen in ländlichen Räumen, mit dem Rückbau von Angeboten, die bisher da waren. Der Bäcker ist nicht mehr da, der Fleischer ist nicht mehr da. Zum nächsten Blumenmarkt muss ich in die Stadt und so weiter. Genauso ist es mit den Sexshops.

Ich glaube, was aber spezifisch ist und diese auch interessant macht, ist der Aspekt, dass Sexshops in den Städten normal weiter existieren. Dort ist es normal, da rein- und raus zu gehen. Im ländlichen Raum hat das eine andere Dimension. Wenn ich mir da vielleicht sogar homoerotische Videos hole und dann treffe ich die Frau, die diese mir verkauft hat, im Baumarkt, ist das schon schwierig. Insofern glaube ich, ist das so nochmal was Spezielles.

Ein Sexshop in Herzberg. Foto: Karen Weinert/Thomas Bachler
Sexshop in Herzberg. Foto: Karen Weinert/Thomas Bachler

Der Niedergang dieser Branche sagt natürlich wenig über die Lust im Osten aus. Wir haben auch Orion besucht, obwohl wir uns auf die inhaberinnen- und inhabergeführten Läden fokussiert haben. Gerade in den kleineren Städten gibt es Orion noch relativ oft. Deshalb bin ich auch zu Orion gefahren, nach Bibertal bei Gießen, in die westdeutsche Provinz. Da stand ich dann mit dem Prokuristen und Pressesprecher im Büro und er hatte eine Karte, wo gibt es Orion-Läden?

Und Sie können sich vorstellen, im Ruhrgebiet gibt es eine hohe Dichte an Orion-Läden und in Mecklenburg kaum welche. Dann habe ich ihn angeguckt und gefragt: Sagt das denn was über den Sex oder die Qualität der Erotik im Osten? Und er sagt, es sagt was über Bevölkerungsdichte und Kaufkraft. Das ist natürlich so. Wir können damit nicht auf die Lustversorgung im ländlichen Raum schließen, weil natürlich alle ihre Wege finden.

Hat die Branche denn, Ihrer Meinung nach, noch Zukunft?

Es ist vermutlich so, dass die Zukunft dieses Gewerbes in der Stadt liegt. Deshalb haben wir uns auch noch Läden in Berlin und Leipzig, die für besondere neue Erotik-Shops stehen, angeschaut. Wir haben uns die „voegelei“ in Reudnitz ausgesucht, die nicht nur einen super-Namen, sondern auch einen ganz anderen Zugang zum Thema hat.

Das ist offen, hell, schick: Alle erotischen Spielzeuge sind unverpackt im Regal, sehen bisweilen wie Kunstwerke aus. Die achten mehr auf Haptik und auf regionale Produktion. Sexpositiv, queer, feministisch und mit diesem künstlerischen, ästhetischen Anspruch.

Wir haben geschaut, wie sieht es im ländlichen Raum aus, was machen die Ketten und wie könnte die Zukunft dieses Gewerbes aussehen und wir denken, die Zukunft der Provinzlust ist eigentlich in der Stadt zu finden.
Was ich aber noch total spannend finde, ist die Erkenntnis aus den kleineren Läden im ländlichen Raum, die DVD geht noch. Das hatte ich, in Zeiten der Digitalisierung und der Onlineverfügbarkeit von Pornos, nicht erwartet.

Hängt das vielleicht mit mangelnder Internetabdeckung zusammen?

Die ist, glaube ich, mittlerweile halbwegs okay. Aber wir haben natürlich auch gefragt: Haben Sie jemals über Online-Handeln nachgedacht? Weil das in den frühen 2000ern ja auch eine Option gewesen wäre. Als wir die Frage aber Patrick Heidler gestellt haben, hat er gelacht und gesagt: Wir hatten bis vor wenigen Jahren noch nicht mal anständiges Internet.

Das ist uns auch begegnet. Ich glaube aber, es hat auch etwas damit zu tun, dass man keine Spuren im Netz hinterlassen will. Das ist für manche, die sich nicht so selbstverständlich im Internet bewegen, irgendwie angsteinflößend und beunruhigend.

Es ist also für Sie interessant, das Sex-Business als kulturhistorisches Phänomen zu betrachten?

Auf jeden Fall. Es gibt auch Arbeiten zu Sex-Spielzeug, Nadine Beck hat zum Vibrator geforscht und so weiter. Wir haben uns gesagt, Sexshops sind wirklich ein Themenfeld, um das sich noch niemand gekümmert hat. Wir haben da wirklich ein bisschen Pionierarbeit geleistet.

Das Thema hat ja auch ein bisschen Witz, muss man sagen. Es kommt gut an und es gibt großes Interesse. Ich war neulich zur ersten wirklichen Provinzlesung im Kloster Veßra, in Südthüringen, damit. Und es gibt ja noch die nächsten Tage die Ausstellung in Leipzig.

Es ein ernsthaftes Thema, im Buch nicht ganz so ernsthaft abgehandelt. Es macht also auch Spaß?

Es darf unterhalten, das wollen wir natürlich auch. Und es ist ein Kapitel der Zeitgeschichte, zu dem viele Menschen Bezugspunkte haben und sich erinnern, wie sie auch selbst das erste Mal in so einem Laden waren. Ich glaube, das ist auch eine Anregung, genauer hinzugucken bei solchen Themen, von denen man denkt, das ist doch nicht wissenschaftlich.

Ich verstehe es auch als eine Einladung in die ostdeutsche Provinz. Und es ist immer witzig in den Buchläden zu sehen, wo das Buch platziert ist. Manchmal stehen wir wirklich bei der Reiseliteratur. Also insofern: eine Einladung!

Frau Dr. Bretschneider, ich bedanke mich für das Gespräch und Ihre Zeit.

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