Solange die Sorge um den Körper an soziale und ökologische Rahmenbedingungen geknüpft ist, die nicht vom Individuum garantiert werden können und der Körper also von anderen versorgt wird und versorgt werden muss, gehört der Körper partiell den anderen, die seine Fürsorge garantieren.

Der Selbstbesitz des Körpers und die mit ihm verbundene freie Verfügungsgewalt kann natürlich von anderen, die ihn versorgen, infrage gestellt und weniger als Leib, denn als Fleisch, das nützlich wird, eingeschränkt und reglementiert werden. Wenn das Individuum abhängig ist vom staatlichen Gesundheitssystem, hat der Staat das Recht, wenn er den Körper des Einzelnen versorgt, ihm vorzugeben, wie er ihn zu versorgen hat.

Vom Standpunkt des Selbsteigentums am Körper ist der Körper ein Freiheitskörper, mit dem der Einzelne beinahe grenzenlos machen kann, was er will. Vom Standpunkt der Vorsorgegemeinschaft, die der Sozialstaat ist – und er ist ein Vorsorge- und Fürsorgestaat – ist der Körper ein Solidaritätskörper, dem von außen auferlegt werden kann, wie mit ihm umzugehen ist.

Daraus ergibt sich ein Paradox. Die Frage ist: gibt es z. B. einen sozialpflichtigen Selbstbesitz am eigenen Körper? Was bedeutet das? Das bedeutet, weil das staatliche Gesundheitssystem dem Einzelnen seine Körpersorge ermöglicht und garantiert, darum könnte es ja auch für den Körper des Einzelnen Solidarität fordern, wenn er beispielsweise einem anderen mit einer Niere helfen könnte.

Sind wir moralisch verpflichtet, weil uns von anderen geholfen wird in der Vorsorgegesellschaft, dass wir anderen, wenn sie in Not geraten, auch mit unseren Körperspenden helfen müssen? Das ist ein ganz wichtiger Punkt, denn streng genommen ist nur bedingt wahr, dass in unseren Gesellschaften der Körper nicht dem Staat gehört. Natürlich gehört er in gewissem Maße dem Staat. Das Problem ist ganz einfach erkennbar, wenn es um Organspenden geht bei Hirntoten.

Man könnte ja sagen, dass die Bestimmung des Hirntodes eine Möglichkeit ist, um an möglichst gut funktionierende und das heißt möglichst früh an Organe durch das staatliche Gesundheitssystem heranzukommen. Die Angehörigen müssen einwilligen, aber de facto wird der Körper, wenn die Organentnahme nach dem Hirntod legal ist, in ein Gesundheitssystem eingespeist. In ein System, das staatlich organisiert ist und das europaweit. Von dem europäischen Organspendesystem werden Organe verteilt.

Gerade jetzt wäre es wieder durchaus vorstellbar, dass, wenn im nationalen Register oder im Ausweispapier steht, dass sich jemand geweigert hat zu spenden, obwohl die Mehrheit der Bevölkerung spendet, es eine Gruppe von Ärzten geben wird, die sagt, dass derjenige im Notfall auch erst einmal warten kann, weil er selbst nicht „hilfsbereit“ ist. Dieses Problem ist unterdiskutiert. Denn die Gefahr läge in der Abhängigkeit der Entscheidung von einem nicht zu unterschätzenden Druck der beobachtenden Öffentlichkeit.

Die Doppelmoral des guten Menschen würde sehr einseitig und massenkompatibel bedient, die Tabus darin erstarrter und selbst tabuisiert, das Denken des Einzelnen ein großes Stück weiter eher unerwünscht und lange Menschenstrecken erst gar nicht mehr angestrebt. Aber hey … na und? Die Bestätigung liegt zur Praxis werdend im gemeinsamen und nachbarschaftsmäßigen Wohlgefühl. Was soll ich da noch selbst denken? Wenn das doch eine absehbare Unbequemlichkeit in meinen Alltag bringen würde.

Dann wird sich wohl jeder überlegen, ob er in seinen Ausweis und in das nationale Register ein ‚Nein‘ eintragen lässt, denn es könnte ja jeden selbst betreffen, dass er eine Organspende benötigt. Hier ist also das Recht auf Selbstbestimmung überhaupt nicht gegeben. Das hört sich vielleicht unheimlich gut an, aber es entsteht natürlich ein großer moralischer Druck, anderen helfen zu müssen, weil man selbst Angst haben muss, dass, wenn man in einer Notsituation ist, hintangestellt wird. Das ist das Problem, was hier entsteht.

Die Frage, ob es einen sozialpflichtigen Selbstbesitz über den eigenen Körper gibt, stellt sich beispielsweise auch in den Familien. Wenn die Eltern ihrem Kind seine Karriere ermöglicht haben, und ein Kind großzuziehen kostet in diesem Land circa dreihunderttausend Euro, bis es achtzehn Jahre alt ist, könnten sie ja von ihm verlangen, dass es später auch ihnen ihren weiteren Lebensweg ermöglicht. Nach dem Motto: wir haben dir geholfen, also hilf uns mit einer Niere oder einem Leberlappen.

ePaper 126 der Leipziger Zeitung.
ePaper 126 der Leipziger Zeitung.

Das ist der bestehende soziale Druck in den Familien. Ein noch größeres Problem, das bereits diskutiert wird, ist, dass wenn die Klonverfahren relativ gut entwickelt sind oder wenn die künstliche Befruchtung auch noch besser funktioniert, man mangels Organen und einer großen Abstoßungsgefahr bei Transplantationen, sich Ersatzkörper züchtet, ein Ersatzkind, das einem im Notfall die Organe zur Verfügung stellen kann. Die Frage ist also, ob es einen Solidaritätskörper gibt, einen sozialpflichtigen Selbstbesitzkörper und was daraus für die Gesellschaft entsteht.

Es gibt auch Menschen, die Kinder aus der Dritten Welt adoptieren, um etwas sozial Gutes zu tun, die ganz klar darauf spekulieren, dass diese Kinder ihnen im Notfall helfen müssen, z. B. mit Spenden von Organen. Das sind die kleinen Ungereimtheiten oder vielleicht auch Verlogenheiten in unserer Solidaritätsgesellschaft.

Die Bestimmungen des Körpers einerseits als Freiheitskörper und andererseits als Solidaritätskörper können miteinander kollidieren, sofern die Freiheit durch die Solidaritätsforderung eingeschränkt werden kann, wie auch die Solidarität durch die Ausübung dieser Freiheit zerstört werden kann. Das kann für die Freiheit der Körperselbstverhältnisse z. B. zur Konsequenz haben, dass aus Solidaritätsgründen das Grundrecht des Einzelnen auf körperliche Unversehrtheit und Selbstbestimmung angegriffen wird, sofern er aufgrund seiner besonderen körperlichen und oder genetischen Ausstattung aufgefordert wird – in der Familie beispielsweise – einem anderen mit Körperstoffen oder Körperorganen zu helfen, obwohl er dies nicht will.

Die Vorsorgegemeinschaft könnte also von dem Einzelnen einen Solidarisierungsakt derart einfordern – und das tun Ärzte mit den Worten: „Sie könnten doch …!“ und das passiert nicht nur innerfamiliär, sie suchen direkt nach passenden Kandidaten und üben einen gewaltigen Druck damit aus – der ihn auffordert, dem anderen, z. B. einem Familienangehörigen, mit einer Organspende zu helfen, also dem anderen mit der Weggabe von Teilen des eigenen Körpers zu unterstützen.

Dadurch entsteht aber ein moralischer Druck, dem anderen mit seinem Solidaritätskörper in lebensbedrohlichen Situationen helfen zu müssen, der die freie Verfügungsgewalt über das Selbsteigentum des eigenen Körpers aufhebt. Ich versuche hier im Kontext des Spannungsfeldes von Selbsteigentum, Eigenrechten des Körpers und dem vermeintlichen Anrecht auf den Körper des anderen die Rechte des Körpers zu formulieren.

www.empraxis.net

„CULTURE-TOPIA: Der Körper als Rohstoff“ erschien erstmals im am 28.06.2024 fertiggestellten ePaper LZ 126 der LEIPZIGER ZEITUNG.

Sie wollen zukünftig einmal im Monat unser neues ePaper erhalten? Hier können Sie es buchen.

Empfohlen auf LZ

So können Sie die Berichterstattung der Leipziger Zeitung unterstützen:

Keine Kommentare bisher

Schreiben Sie einen Kommentar