Dr. Uta Bretschneider ist seit April 2020 die Direktorin des Zeitgeschichtlichen Forums in Leipzig. Vorher arbeitete sie am Hennebergischen Museum in Kloster Veßra. Sie ist Kulturwissenschaftlerin und Soziologin und promovierte zum Thema „‚Vom Ich zum Wir‘? Flüchtlinge und Vertriebene als Neubauern in der LPG“. Sie hat verschiedene Publikationen unter anderem zu den Themen „LPG-Dinge. Erinnerungen an die Landwirtschaft der DDR“ (2019), „Heimat. Räume, Gefühle, Konjunkturen“ (2019) oder „Neue Heimat Thüringen? Flüchtlinge und Vertriebene um 1945“ (2016) geschrieben.

Seit 2020 sind Sie Direktorin des Zeitgeschichtlichen Forums Leipzig. Sie beschäftigen sich also von Berufs wegen mit ostdeutscher Geschichte. Wie sind Sie zu dem Thema gekommen?

Ostdeutsche Geschichte war schon immer ein Thema für mich, auch die jüngere Geschichte. Mich haben immer die Themen interessiert, bei denen ich noch Menschen fragen kann. Ich habe auch schon zur Frühen Neuzeit gearbeitet. Aber ich fand es spannender, Sachen zu haben, an die ich multiperspektivisch herangehen kann. Wo ich Zeitungen habe, zeitgenössische Bücher und eben Menschen direkt dazu befragen kann.

(…)

Wenn Sie es ganz kurz machen müssten: Wie würden Sie ostdeutsche Identitäten – im Plural – beschreiben? Was ist das?

Ich glaube, dass es „Den Ossi“ gar nicht gibt. Da ist dieser Plural besonders angemessen. Wenn Sie hier zum Beispiel vor die Tür auf die Grimmaische Straße gehen und Menschen fragen „Was ist ostdeutsch sein?“ dann würden Sie von jedem Menschen eine ganz andere Antwort bekommen.

Das was verbindet, ist die gemeinsame Erfahrung des Umbruchs. Das ist ein gemeinsamer Nenner. Selbst wenn man die DDR nicht mehr persönlich erlebt hat, dann haben sich diese Erfahrungen vielleicht in die Familie eingeschrieben. Dieser totale Wandel aller Lebensbereiche, von Arbeit, über Soziales, bis zu Konsum und Alltag. Diese Erfahrung ist etwas, was „Die Ostdeutschen“ vielleicht auf eine Art prägt.

Aus dieser Erfahrung können Eigenschaften resultieren, zum Beispiel eine Umbruchs- oder Transformationsresilienz. In Richtung: Einmal auf die Nase gefallen, aufgestanden, weitergemacht, könnte man sagen. Oder man könnte sagen, daraus sind die „Jammer-Ossis“ geworden. Das ist dann die andere Perspektive.

Manche Unterschiede sind auch einfach regional, nehmen wir zum Beispiel Bayern und Mecklenburg-Vorpommern.

Es ist für alle am Ende ganz unterschiedlich, was identitätsstiftend ist. Für manche ist es der Fußballverein, die Berufstätigkeit oder die regionale Zuordnung beziehungsweise Heimat. Deshalb fällt es mir schwer, das so festzulegen.

Der Präsident der Bundeszentrale für politische Bildung (BpB) Thomas Krüger hat mal gesagt, dass dieses Zusammengehörigkeitsgefühl der Ostdeutschen erst durch die Wende entstanden ist. Vorher hat man sich gar nicht so sehr als Kollektiv betrachtet:

„Ich kann mich nicht entsinnen, dass wir uns zu DDR-Zeiten als Ostdeutsche definiert haben. Im Gegenteil, wir haben uns immer als Deutsche verstanden. Eine ostdeutsche Identität gab es erst nach der DDR. Die gemeinsamen Erlebnisse von Benachteiligung und fehlender Wertschätzung haben sie geschaffen.“

Sie haben jetzt von Transformationsresilienz gesprochen. Könnte man auch von einer Transformationsangst reden? Also nach dem Motto: Wir als Ostdeutsche wurden mit der Wende schon einmal verarscht, wir lassen uns nicht noch einmal verarschen. Und dass daraus auch eine Medienfeindlichkeit zum Beispiel resultieren kann. Haben Sie den Eindruck, dass eine kollektive Reaktion aus diesem Wandel entstanden ist?

Das ist das gleiche wie mit den Identitäten: Kollektive Phänomene finde ich schwierig. Das pauschale Medienbashing, das Sie gerade beschrieben haben, betrifft einen Teil der Ostdeutschen und nicht die Gesamtheit.

Sicher sind das Erfahrungen, die die Menschen heute noch prägen und die wir in den letzten Jahrzehnten viel zu wenig ernst genommen haben. Die Umbruchserfahrungen waren so tiefgreifend. Die Friedliche Revolution ist ein wahnsinniger Akt und ein großer Gewinn gewesen. Aber wir müssen auch wertschätzen, dass so viele Menschen danach diese Umbruchserfahrungen mitgemacht haben und daran nicht zerbrochen sind. Oder zumindest viele nicht.

Die Menschen haben weitergemacht. Sie haben sich neue Jobs gesucht. Sie haben sich ganz andere Perspektiven eröffnen lassen. Sie sind umgezogen. Sie haben Freunde gefunden. Da sind so viele Neuanfänge. Und dass viele Enttäuschungen dabei entstehen, wenn man so ins kalte Wasser geworfen wird, ist klar.

Viele hatten in der ersten Zeit große Hoffnungen. Aber es hatte so eine Situation noch gar nicht. Gegeben. Da hatten auch die Politiker*innen keine Blaupause. Dass da so viel schief gehen musste, ist bei solchen großen Veränderungen klar.

Aber wir haben in der Erinnerungskultur auf die Friedliche Revolution gekuckt und nicht geschaut, was eigentlich danach passiert ist. Das finde ich wichtig. Und wir können das jetzt auch machen, weil, so denke ich, ein Generationenwechsel stattfindet. Immer mehr junge Menschen stellen Fragen.

Ich glaube, dass Phänomene wie die Medienschelte zum Einen mit der DDR-Erfahrung zu tun hat. Das zeigen wir in unserer Dauerausstellung auch an einem Zeitungskiosk: Es gibt eine Vielzahl von Publikationen, aber alle schreiben das Gleiche. Dass das heute nicht mehr so ist, das sollte eigentlich jedem bewusst sein. Trotzdem ist das ein gern bemühter Vergleich. Diese Proteste, bei denen von Diktatur 2.0 gesprochen wird, sind natürlich unsäglich. Denn in dem Moment, wo Menschen so auf der Straße demonstrieren, kann es gar keine Diktatur sein.

Also würden Sie sagen, dass das eine Pauschalisierung ist?

Ja, auf jeden Fall. Und auch wenn man zum Beispiel die Zustimmungswerte zu rechtsextremen Parteien anschaut, vergisst man immer, dass da ganz viele Menschen eben nicht zustimmen.

Die Pauschalisierungen fangen ja schon bei „Der Ossi“ an, dann ist es schnell der „Braune Osten. Das ist schwierig und da muss man immer genau hinschauen.

Sie beschäftigen sich nun schon lange mit der ostdeutschen Geschichte. Konnten Sie da bei sich selbst einen Wandel in ihrem Bild von Ostdeutschland und dem, was eine ostdeutsche Identität ausmacht, feststellen?

Bevor ich mich wissenschaftlich damit auseinandergesetzt habe, war das für mich gar nicht so ein großes Thema. Ich hatte immer Freunde aus Ost und West. Ich habe mit meinem Mann eine Weile in Zürich und in Mainz gewohnt. Ich bin eine Zeitlang in den 90ern in Westberlin aufgewachsen. Ich hätte immer gesagt: Ich bin in der DDR geboren, aber in einem vereinten Deutschland aufgewachsen.

Mittlerweile würde ich sagen, dass ich Ostdeutsche bin. Aber das bin ich in den letzten Jahren erst geworden und tatsächlich auch, wie Thomas Krüger es schreibt, aus den Erfahrungen der letzten Jahre heraus.

Meine Institution hat ja ihr Vaterhaus in Bonn. Da merkt man manchmal, dass es an den Orten unterschiedliche Bedürfnislagen gibt. Menschen haben immer noch eine andere Sozialisation.

Wie äußert sich das?

Zum Beispiel in der Bewertung der Relevanz von Themen. In Bonn kann etwas eher egal sein und bei uns ist es ein Riesending.

Aber: Ich würde mir das Ostdeutsch-Sein nicht auf die Stirn schreiben und es vor mir her tragen. Es ist Teil meiner Identität, aber nicht der dominante Teil.

Was mich fasziniert ist, dass immer mehr Menschen, die jünger sind als ich, ihr Ostdeutsch-Sein sehr bewusst vor sich hertragen. Ich glaube, dass da die Verlust-, Enttäuschungs- und Abwertungserfahrung der Eltern eine große Rolle spielt.

Und über all dem stehen natürlich, das dürfen wir nicht vergessen, die Statistiken, die zeigen, dass Ostdeutsche 34 Jahre nach der Deutschen Einheit immer noch in Führungspositionen unterrepräsentiert sind. 20 Prozent der Bevölkerung, aber nur 12 Prozent der Führungspositionen. Dass da eine Wut entsteht, kann ich wiederum verstehen. Man muss nur schauen, dass man sie gut kanalisiert.

Bei mir ist die Ostdeutsch-Zuordnung auch erst später bewusst aufgekommen. Aber ich habe auch Freunde, deren Eltern deutlich mehr unter der Wende und dem Arbeitsplatzverlust gelitten haben, zum Beispiel in der Lausitz. Da war das Ostdeutsch-Sein nie eine Frage. Das hat sicher auch mit dem Stadt-Land-Gefälle zu tun, aber das gibt es ja in ganz Deutschland. Gibt es hier trotzdem ost-spezifische Dynamiken? Auch entlang von Klassenunterschieden?

Das ist ein zu großes Thema. Ich hätte den Fokus woanders gelegt: Es hat ja einen Grund, dass die Bundesregierung sich die gleichwertigen Lebensverhältnisse, und da denken die natürlich auch viel an Stadt-Land-Gefälle, so groß auf die Agenda schreibt und es sogar in einem Gesetz festgehalten ist.

Sicher kann man Lausitz und Ruhrgebiet, Transformationsgesellschaften nach der Kohle, vergleichen, aber ich glaube, dass die Besonderheit der ländlichen Räume in Ostdeutschland nochmal eine andere ist, gar nicht so sehr in Richtung Klasse.

Die Umbrüche, dass beispielsweise plötzlich der Arzt auf dem Land weg ist, sind eine universelle Erfahrung. Was aber im Osten besonders ist, ist dass es vorher durch die Landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaften (LPG) ein anderes System der Landwirtschaft gab. Das hat sich sehr auf das ländliche Leben ausgewirkt. Die LPG hat zum Beispiel den Kindergarten mitorganisiert, für Club- und Kulturräume gesorgt und sogar bei Straßen mitgebaut.

Das ist alles sehr abrupt und ohne Nachfolge weggebrochen. Im Westen haben da ganz andere Prozesse stattgefunden. Diese besondere Verlusterfahrung in ländlichen Räumen im Osten halte ich für relevant und momentan noch für zu wenig betrachtet.

Meine Oma sagt immer: Man kennt seine Nachbarn jetzt gar nicht mehr. Geht es da auch grundsätzlich um eine Veränderung der Form des Zusammenlebens, gerade auf dem Dorf, wo sich jeder kennt?

Das ist auch ein Narrativ vom Dorf: Dass man sich kennt, dass sich nichts verändert. Aber Dörfer waren schon immer Orte, an denen sich viel verändert hat. Wenn wir in die Zeitgeschichte schauen, sehen wir, dass das nicht so ist. 1945 kamen viele Flüchtende und Vertriebene. Dann folgte die Enteignung von Großgrundbesitzern und die Bodenreform. Dann kam die LPG.

Das ist also alles nicht so statisch, wie man es sich vielleicht vorstellt. Durch die Veränderungen sind immer neue Leute ins Dorf gekommen. Spätestens durch die LPG kamen Arbeiter*innen aus anderen Bezirken. Sicher ist da weniger Bewegung drin als beispielsweise in Leipzig. Aber dieses statische Bild vom Landleben und einer heilen Welt ist es lange nicht.

Klar haben sich die Dörfer auch gerade in den 90ern verändert durch die Verspeckgürtelung, Neubausiedlungen und so weiter.

Sie haben mehrmals über Nachkriegsflucht gesprochen. Naika Fouroutan hat mal die Ostdeutsch-Sein an sich schon als Migrationserfahrung bezeichnet. Was halten Sie davon?

Ihre Äußerung ist sehr umstritten. In unserem neuen Ausstellungsabschnitt haben wir das Zitat tatsächlich auch drin, als „Zündstoff“.

Das Zeitgeschichtliche Forum thematisiert die deutsche Teilung und den Wiedervereinigungsprozess. Foto: Yaro Allisat
Das Zeitgeschichtliche Forum thematisiert die deutsche Teilung und den Wiedervereinigungsprozess. Foto: Yaro Allisat

Ich finde, dass das ein Deutungsansatz sein kann. Bei allen Unterschieden gibt es da sicher auch Gemeinsamkeiten. So einen historischen Vergleich muss man dann nur immer mit Kontext füttern.

Bei einer Migration wechselt man eigentlich seinen Ort. Die Ostdeutschen haben den Ort nichtmal wechseln müssen und es ist trotzdem alles anders geworden. Und sie waren, obwohl kulturell nah dran, in Gesamtdeutschland oft die Exot*innen.

Bis 2019 waren 17 Prozent der Westdeutschen noch nie im Osten. Ich weiß nicht ob sich die Zahl durch Corona noch ein bisschen verbessert hat. Aber dass da noch so viel Missverständnisse und Unwissen sind, finde ich erschreckend und auch spannend. Und deshalb ist vielleicht die Denkfigur von Ostdeutsch-Sein als Migrationserfahrung gar nicht so abwegig.

Millionen Menschen sind nach 89 ja auch in den Westen gegangen. Das sind auf jeden Fall (Binnen-)Migrationserfahrungen, bei denen das kulturelle Setting das gleiche bleibt.

Wenn wir schon über den Westen sprechen: Ich habe oft den Eindruck, dass sich Ostdeutsch-Sein auch viel über die Abgrenzung zum Westen definiert.

Auf jeden Fall. Jede Identitätszuschreibung, die eine Gruppe betrifft, braucht auch immer „Das Andere“. Da ist man fast bei Kapitalismuskritik und noch vielen anderen Themen. Und auch bei „Den Westdeutschen“, die es natürlich genauso wenig gibt. Denen schreibt man zum Beispiel zu, dass sie mehr Führungspositionen innehaben, viel mehr Geld verdienen, viel reicher sind, sich besser verkaufen. Dem entgegen steht ein wie auch immer geartetes Ostdeutsch-Sein.

Es gibt da natürlich auch ganz seltsame Auswüchse. Graffittis, Tshirts mit Autos, auf denen groß „Ostdeutschland“ steht. Ich habe so meine Probleme mit Nationalismen und das geht dann, finde ich, schon in diese Richtung. Man kann natürlich auf Transformationserfarhungen und die Erfolge stolz sein. Aber wenn es dann zu Ausgrenzung kommt und man so etwas wie Nationalstolz im Kleinen, etwas so Überhöhtes entwickelt, finde ich das eher abstoßend.

Da findet ja nicht nur eine Ausgrenzung den Wessis gegenüber statt.

Ja, auch Migrant*innen werden dann zum Beispiel ausgegrenzt.

Es gibt, glaube ich, so ein bewusstes und augenzwinkerndes Ostdeutsch-Sein und es gibt das dumpfe, hingeworfene Ostdeutsch-Sein und dazwischen natürlich viele Schattierungen. Das erste finde ich ganz sympathisch. Das andere finde ich nur spannend als Forschungsgegenstand.

Über die Ostdeutschen wurde nach der Wende und wird noch immer viel von außen moralisiert: Anhänger einer Diktatur, mittlerweile alle Nazis oder „Jammer-Ossis“. Das ist sicher für viele Menschen identitätsprägend. Welche Gegenerzählungengibt es?

Ich finde es zum Beispiel großartig, was Lukas Rietzschel macht. Er hat sowohl DDR-Zeit als auch die Transformationszeit mit seinem letzten Buch „Raumfahrer“ in den Blick genommen. Er ist auch eher so ein Leiser und nicht so ein Haudrauf-Ossi und er ist auch mal gequält von seinem Ostdeutsch-Sein.

Oder Johannes Nichelmann. Er hat sich auch mit den Nachwendekindern auseinandergesetzt. Valerie Schönian ist da auch zu nennen. Das sind alles junge Stimmen, die, glaube ich, einer neuen Generation angehören. Sie können einen neuen Blick auf Ostdeutschland haben, weil sie nicht die jahrelange DDR- und die Umruchserfahrung haben. Da finde ich ganz viel positive und produktive Auseinandersetzung. Es werden neue Fragen gestellt.

Cover Leipziger Zeitung Nr. 118, VÖ 27.10.2023. Foto: LZ

Trotzdem weisen die immer auf die Defizite hin. Gerade Rietzschel, der in Görlitz wohnt und immer wieder auf die Abwanderung hinweist. 15 Prozent der Bevölerung Ostdeutschland sind nach der Wende weggegangen.

Diese Stimmen gefallen aber, das merke ich bei Veranstaltungen, die wir hier machen, den Älteren manchmal nicht. Letztens stand eine Mann aus der Bundesrepublik bei einer Veranstaltung mit Schönian, Nichelmann und Rietzschel auf und meinte sinngemäß: „Kuckt doch mal raus. Es sind doch überall blühende Landschaften. Ich kann das Gejammer nicht mehr hören!“

Ja gut. Blühende Landschaften, die irgendwelchen bundesdeutschen Investoren gehören…

Solche Debatten sind ein Stück weit, glaube ich, normale Vorgänge zwischen Generationen.

Was ist die Kritik von Menschen, die in der DDR gelebt haben?

Mir hat letztens jemand geschrieben, dass ich dieses Museum nicht leiten könne, weil ich die DDR fast nicht miterlebt habe. Ich denke, das Argument wird dann schwierig, wenn man zum Römischen Reich oder zur Weimarer Republik arbeitet. Das ist aber immer wieder ein Kritikpunkt den Jüngeren gegenüber: Das man das nicht selbst erlebt hätte.

Ich glaube, dass junge Menschen tatsächlich oft nicht so einen Blick dafür haben, Lebensleistungen anzuerkennen. Sie gehen da unbedarfter dran und haben den Ballast, den man vielleicht aus Erfahrungen und Erinnerungen mitschleppt, nicht dabei.

Dirk Oschmann ist zum Beispiel nicht mehr ganz jung. Der hat viel mehr Wut als die jüngere Generation. Das finde ich nicht produktiv. Ich denke, dass eher etwas zukunftszugewandtes, das die Probleme aufzeigt, aber auch Gemeinsamkeiten findet und auf Unterschiede hinweist, nötig ist.

Die jüngere Generation hat vielleicht auch nicht das Gefühl, die komplette eigene Identität oder die DDR verteidigen zu müssen und dadurch in so einer Abwehrhaltung zu sein. Was würden Sie sagen, was die Nachwendekinder-Erfahrung ausmacht?

Auch da dreht es sich meiner Meinung nach noch um die Umbruchserfahrung. Aber die jüngere Generationen hat trotzdem einen anderen Blick auf die DDR. Da ist es zum Beispiel anders als bei älteren Generationen nicht mehr diskutabel, dass die DDR eine Diktatur war. (…)

Die jüngeren Generation wissen, dass die DDR eine Diktatur, aber eben auch Heimat der Eltern und Großeltern war. Sie sind in Freiheit aufgewachsen. Sie können Urlaub mahen oder studieren, wo sie wollen. Da kommt also das Wissen um diese Freiheit mit den Erfahrungen des Umbruchs und den Erfahrungen der Eltern zusammen.

Unter den Zeitzeug*innen in der Ausstellungen haben wir zum Beispiel auch Nhi Lee, die aus Thüringen kommt und 1995 geboren ist. Sie sagt von sich selbst, dass sie viet-ostdeutsch ist. Ihre Eltern sind als Vertragsarbeiter*innen ins Land gekommen. Sie sagt auch, dass diese Projekte bisher zu wenig gehört wurden. Es gibt mittlerweile immer mehr Stimmen, die die Jahre seit 89 aus einer migrantischen Perspektive in den Blick nehmen und das ist wichtig.

Der neugebaute Teil der Dauerausstellung thematisiert auch deshalb genau dieses Zusammenwachsen?

Ja, wir leisten da sozusagen Pionierinnenarbeit. Wir sind mit dem deutsch-deutschen-Zusammenwachsen noch gar nicht fertig. Es gibt noch keine Erzählungen und auch keine festgelegten Objekte. Es war gar nicht leicht, sich zu einigen, was wir in die Ausstellung nehmen. Wenn ich einen Trabbi hinstelle, ist allen sofort klar, dass es um die DDR geht. Aber welches Objekt spricht denn für 34 Jahre Deutsche Einheit?

Wir haben tatsächlich auch einen Baseballschläger mit Naziaufklebern in die Ausstellung genommen. Viele Fachkolleg*innen haben gesagt, dass der für sie diese Zeit repräsentiert.

Ich habe, da haben wir im Team hitzig diskutiert, tatsächlich ein Glas Nudossi wichtig gefunden. Für mich war in der Auseinandersetzung mit Heimat und Identität Essen total wichtig. Nudossi ist ein Ostprodukt, das es aber immer noch gibt. Es kennt im Westteil des Landes immer noch keiner. Viele Ostdeutsche aber schätzen es total. Es ist irgendwie nachhaltig, denn es gab ja kein Palmöl in der DDR. An solchen Alltagsgegenständen kann man so viel erzählen.

Welche Rolle nimmt das ZFL in der Darstellung und Repräsentation, aber eben auch der Bildung einer ostdeutschen Identität ein?

Ich denke, dass Museen immer Akteure oder Orte sind, die identitätsstiftend wirken. Denn immer, wenn wir uns unserer selbst und unserer Geschichte vergewissern, macht das etwas mit uns und mit den nachfolgenden Generationen. Da sind Museen auf jeden Fall ein Baustein, dem ich einen hohen Wert zurechne, aber den man natürlich auch nicht überschätzen darf.

Was ich aber noch viel wichtiger finde: Wir haben ganz viele Gäste, die gar nichts mit der DDR zu tun hatten bisher.

Auf X gab es letztens eine Diskussion um Lohngefälle und Erbe, bei der man wieder ganz klar gesehen hat, wo die innerdeutsche Grenze verlief. Genau für solche Debatten machen auch wir hier unsere Arbeit. Wir wollen unsere Ausstellung auch aktuell halten. Das deutsch-deutsche Zusammenwachsen ist gut vorangeschritten, aber es gibt auch noch Defizite und vieles wissen wir auch noch gar nicht. In dem neuen Ausstellungsabschnitt formulieren wir daher Fragen ganz offen. Auf einer Fläche werden sie groß projiziert und die Besucher*innen können sich auch selbst Fragen ausdrucken und mitnehmen.

Wir haben auch einen Raum, der Statistiken visualisiert, zum Beispiel zu Binnenmigration, Verdienste, Repräsenztanz oder Demokratiezustimmung. Diese Zahlen sind Echtzeitdaten. Das heißt, dass sie nicht in Beton gegossen sind, sondern mit der Zeit mitleben, aktualisierbar sind.

„Interview: Zwischen „Jammer-Ossi“ und Nachwendekindern: Gibt es eine ostdeutsche-Identität, Frau Dr. Bretschneider?“ erschien erstmals zum thematischen Schwerpunkt „Identität Ost“ im am 27.10.2023 fertiggestellten ePaper LZ 118 der LEIPZIGER ZEITUNG.

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