Spontaneität zielt auf Augenblicklichkeit ab. Spontanes Handeln heißt: den Mut und die Entschlossenheit zu haben, im entscheidenden Moment das Richtige zu tun. Umgangssprachlich wird der Begriff der Spontanität häufig auch pejorativ als Verantwortungslosigkeit im Handeln und mit dem „Leichtsinn der Jugend“ abgetan.

Nach dem Motto: wer nicht ausführlich plant, kann nur das Falsche tun. Das wird an dieser Stelle bestritten. Körperwissen und empraktische Könnerschaft basieren auf einem Denken, das leibhaftiges, lebensvollzughaftes Denken und Wissen ist und das selbst erst im Nachdenken rationalisiert und auf eine Formel, Theorie oder Bewertungsebene gezogen werden kann.

Spontan ist, wer unvorbereitet im Augenblick das Richtige zu tun fähig ist. In der Philosophie ist man sehr der Theorie und der Rationalität unterstellt. Wie entsteht eine Theorie? Wo ist der Augenblick, in dem jemandem ein Licht aufgeht und er spontan genug ist, diese festzuhalten?

Das ist zugleich die Grundfrage einer Theorie des Empraktischen, dass das spontane Wissen in irgendeiner Form festgehalten werden kann. Ein wie auch immer geartetes Formen eines Ausdrucks des inneren Erlebnisses, des im Moment Erfahrenen. Sie ist Gründungsmoment künstlerischen Schaffens wie philosophischen Begreifens.

Kunst kann nur durch Spontaneität entstehen, sie wird aus der Unmittelbarkeit heraus erzeugt, ja hervorgerufen. Es gibt eine Art Willen, etwas Vorrationales, etwas, was der Einzelne für sich noch nicht durchdacht hat oder geplant, errechnet hat. Etwas, das ihm einfach passiert, was ihm widerfährt und aus seinem eigenen Willen heraus eine Art Produktivkraft erzeugt, die er aufgreift und entwickelt.

Andererseits geht es auch darum, dass es etwas gibt, das nicht vom Äußeren abhängt, sondern das Individuum aus sich heraus erfährt. Die Spontaneität des Moments. Es wird hier nicht nach dem Setting gefragt. Das wird ausgeblendet. Das Individuum bildet den Mittelpunkt, wie es die Welt gestaltet, mit bestimmten spontanen Momenten, wo ein künstlerischer Ausdruck zur Form kommt.

Es gibt ein Spannungsfeld zwischen Fremdbestimmtem und dem Selbstbestimmtem wie auch zwischen Autonomie der eigenen Lebensführung und heteronomen Umständen oder Bedingungen im existenziellen Sinne. Man kann als Einzelner gern in Einsamkeit arbeiten oder denken oder sein. Aber dies ist nur dadurch möglich, dass wir zumindest von Zeit zu Zeit auch mit anderen leben.

Cover Leipziger Zeitung Nr. 115, VÖ 29.07.2023. Foto: LZ

Dann sind wir zwangsläufig nicht vollständig selbstbestimmt und bedingungslos spontan ohne Rücksicht auf den oder die anderen. Niemand kann ohne andere Menschen leben, jedenfalls aus einer rein entwicklungsgeschichtlichen Sicht heraus.

Bei Nietzsche gibt es die drei Verwandlungen des Geistes. Die erste ist das Kamel, die zweite der Löwe und die dritte das Kind. Das Kamel ist das, wenn Soziologen besagen, der Mensch ist ein soziales Wesen. Das hat sich als Meinung allgemein durchgesetzt.

Man lernt als Kind mit den Eltern oder anderen Erwachsenen die Techniken des Lebens. Dann kommt eine Art Pubertät, da geht die künstlerische Spontaneität los, wo der Löwe gegen all das brüllt und sich aufbäumt, was er gelernt hat, alle Werte zerschlägt und vor einem Trümmerhaufen steht.

Es gibt einen Moment des Nichts und zwar nicht durchdacht, sondern spontan, in dem Willen zur Persönlichkeit des Einzelnen. Entweder man geht zurück und macht weiter oder man lässt das hinter sich und versucht, sich neu zu erfinden. Das Kind ist das Naive, das Staunende, das sich ins Offene trauende und dort eigene Werte und Maßstäbe etablierende. Das Kind ist immer in der Gefahr zu scheitern.

Nach Nietzsche ist das das Spontane, das nicht aufhört. Er nennt es den Künstlertypus, dem immer wieder in seinem Leben das Ereignis, das Neue, das ihn wieder Aufrüttelnde widerfährt. Spontan muss er immer wieder erneut damit umgehen, sich neu erfinden oder im Schwebezustand zwischen Ekstase und Abgründigkeit balancieren.

Er erfährt immer wieder neue Geburten, er muss sich notwendig wiederkehrend selbst neu gebären. Das ist keine Entscheidung, die einem vorgefertigten Lebensplan entspringen, sondern das geschieht aus der Lebensnotwendigkeit seiner radikalen Existenz.

Man kann Spontanität als Freiheit von festgefahrenen Strukturen der anderen oder als Arbeit an sich selbst, als Freisein zu einem selbstbestimmten Leben begreifen. Spontansein ist eine Fähigkeit in diesem künstlerphilosophischen Sinne, die sich die meisten Menschen wohl eher nicht wünschen würden für ihr eigenes Leben.

Das Freisein als der immer wieder naiv schauende und auch nach seiner Freiheit schauende. Der Künstlertypus benötigt trotzdem Disziplin, eine Art von Askese, Einübung in die eigene noch nicht Geordnetheit, eine Ordnung für sich zu schaffen, um ein Grundgerüst für diese Ausbrüche zu haben, um nicht daran zugrundezugehen. Freiheit ist im Spontanen. Es ist eine Art innerer Urknall, nichts gilt für einen Moment und um die Orientierung zu finden, braucht es einen asketischen Selbstdisziplinierungs-Charakter.

www.empraxis.net

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