Er ist der eigentliche Feiertag in Leipzig: der 9. Oktober – der an den 9. Oktober 1989 erinnert, als über 100.000 Menschen auf dem Leipziger Ring demonstrierten für demokratische Freiheiten, ein „offenes Land“ und mündige Bürger. Um an diesen Tag der Entscheidung zu erinnern und die Auswirkungen der Ereignisse fassbar zu machen, begeht Leipzig den jährlichen Gedenktag mit ganz besonderen Veranstaltungen. In diesem Jahr unter der Ãœberschrift „Das Gestern erinnern, das Morgen gestalten“.
Das Programm soll den Blick lenken auf die Verantwortung, Freiheit und Demokratie zu behüten – Werte, die nicht selbstverständlich sind. Museen, Institutionen, Stiftungen und andere Einrichtungen, die einen direkten Bezug zum Herbst 1989 haben, laden rund um den Jahrestag zu Lesungen, Filmvorführungen, Diskussionen und Vorträgen ein.
Höhepunkte der Veranstaltungen sind am 9. Oktober wieder das traditionelle Friedensgebet und die Rede zur Demokratie in der Nikolaikirche sowie das Lichtfest auf den Plätzen der Leipziger Innenstadt. Die Gedenkstätte Museum in der „Runden Ecke“, das Stasi-Unterlagen-Archiv Leipzig und das Schulmuseum – Werkstatt für Schulgeschichte laden an diesem Tag von 19 bis 23 Uhr zur Nacht der offenen Tür in ihre Räume ein.
Friedensgebet und Rede zur Demokratie
Am 9. Oktober nimmt die Kirchgemeinde St. Nikolai Leipzig wieder mit einem besonderen Friedensgebet auf die Ereignisse von 1989 Bezug, als viele Menschen inmitten unsicherer Verhältnisse in der Nikolaikirche Mut und Hoffnung fanden. Den geistlichen Impuls für das diesjährige Friedensgebet wird Bischöfin Kirsten Fehrs, leitende Geistliche im Sprengel Hamburg und Lübeck der Nordkirche, geben.
Musikalisch begleitet der Posaunenchor St. Nikolai unter anderem mit einer Auftragskomposition von Traugott Fünfgeld. Erstmals werden am 9. Oktober alle vier Kirchen am Leipziger Innenstadtring (St. Nikolai, St. Thomas, Katholische Propstei St. Trinitatis und Evangelisch-reformierte Kirche zu Leipzig) mit ihrem Geläut zum Friedensgebet in die Nikolaikirche einladen. Das ökumenische Innenstadtläuten wird neun Minuten von 16:51 Uhr bis 17:00 Uhr zu hören sein.
Die Journalistin und Autorin Golineh Atai wird am 9. Oktober die Rede zur Demokratie in der Nikolaikirche halten. Geboren in Teheran, kam Atai im Grundschulalter nach Deutschland und besitzt seit 25 Jahren die deutsche Staatsbürgerschaft. Als Auslandskorrespondentin für die ARD arbeitete sie unter anderem in Kairo und in Moskau. Seit 2022 ist sie Leiterin des ZDF-Studios Kairo für die arabische Welt. 2021 erschien ihr Buch „Iran – die Freiheit ist weiblich“.
Atai porträtiert darin Frauenrechtlerinnen aus dem Iran, die seit langem für ihre Rechte und für die Freiheit der iranischen Gesellschaft kämpfen. Mit Golineh Atai spricht erstmals eine Frau mit iranischen Wurzeln am Jahrestag der Friedlichen Revolution in der Nikolaikirche.
Lichtfest Leipzig in der ganzen Innenstadt erleben
Das Lichtfest Leipzig findet auf dem Augustusplatz, dem Burgplatz und dem Richard-Wagner-Platz statt. An allen Orten sind von 19 bis 23 Uhr Lichtinstallationen zu erleben. Alle Projekte haben regionale Kooperationspartner. Auf dem Nikolaikirchhof erwartet die Besucher die Kerzen-89.
Nikolaikirchhof: Grußworte und Musik, Kerzen-89, Kerzenpatenschaft und Führungen
Der Abend beginnt auf dem Nikolaikirchhof mit kurzen Grußworten von Oberbürgermeister Burkhard Jung und weiteren Ehrengästen. Musikalisch begleitet wird die Eröffnung von einem Ensemble der Hochschule für Musik und Theater „Felix Mendelssohn Bartholdy“ Leipzig: Svetlana Riger, Violine/Javier Pardo Gil, Bratsche/Jordi Albelda, Cello.
Auf dem Nikolaikirchhof steht auch wieder die traditionelle Kerzen-89, die im Laufe des Abends von den Besucherinnen und Besuchern mit tausenden Teelichtern zum Leuchten gebracht wird. An allen Infoständen in der Innenstadt erhalten Besucher kostenlos Kerzen. Wer möchte, kann dort unter anderem via Barspende eine symbolische Kerzenpatenschaft übernehmen.
2023 geht der Erlös der Aktion an EuropaMaidan Leipzig e. V., gegründet 2014, als in der Ukraine hunderttausende Menschen gegen die Staatsführung demonstrierten. Der Verein sammelt Spenden für Projekte in der Ukraine sowie für Geflüchtete und für Ukrainerinnen und Ukrainer, die in ihrem Land geblieben sind. Mehr Infos unter https://europamaidan.de/
Geführter Rundgang zu den Orten der Friedlichen Revolution
Um 20:00, 20:30 Uhr und um 21:00 Uhr starten geführte Rundgänge zu den historischen Orten der Friedlichen Revolution. Dauer etwa 1 Stunde. Die Teilnahme ist kostenlos, es ist keine Anmeldung notwendig.
Treffpunkt/Start: Nikolaikirchhof an der Säule, Kooperationspartner: Leipzig Erleben GmbH
Das sind die Lichtprojekte der drei internationalen Künstlerteams beim Lichtfest Leipzig 2023:
Augustusplatz: „Trabi“ von Signal Creative, Prag/Tschechische Republik
Burgplatz: „WIR – Leipzig 2023“ von Philipp Geist, Berlin/Deutschland
Richard-Wagner-Platz: „Beacon of Hope“ von Craig Morrison, Schottland/UK
Augustusplatz: „Trabi“: 12 Trabis in Leipzig – 1.000 Trabis in Prag
Flucht. Panik. Hoffnung. Der Exodus der Ostdeutschen im September und Oktober 1989 war groß. Menschenmassen, die der Freiheit entgegenliefen, strömten durch das Zentrum von Prag. Insgesamt 15.000 Ostdeutsche gelangten über die Botschaft der Bundesrepublik Deutschland nach Westdeutschland.
„Sie rannten, liefen, drängelten, wir standen still, regungslos, wir sahen uns nicht einmal an, wir verspürten so vieles, vor allem aber Verstörung“, erinnert sich Petr Pithart, Mitbegründer des Bürgerforums während der Samtenen Revolution ’89 und späterer Premierminister, an die Septembertage ’89.
Die audiovisuelle Installation „Trabi“, bestehend aus zwölf Trabants vor der Oper, erinnert an dieses einschneidende Herbstereignis, als in und um Prag rund tausend verlassene Trabis zurückblieben. Das Projekt zeigt die Erinnerungen beider Seiten, das heißt sowohl die der überraschten Tschechen und die für immer unauslöschlichen Bilder der fliehenden Deutschen, die über den Botschaftszaun kletterten als auch die authentischen Geschichten der Deutschen, deren Weg in die Freiheit über Prag führte.
Das Spektrum der Zeitzeugen ist breit: Lichtfestbesucher hören und sehen auf Bildschirmen in den Trabis unter anderem die Erinnerungen der ersten deutschen Flüchtlinge, von Müllmännern, die das Geschehen beobachteten, sowie die Reaktion des damaligen Generalsekretärs des ZKs der Kommunistischen Partei, Miloš Jakeš, der unter dem Druck den Zug mit den Flüchtlingen nach Westdeutschland fahren ließ. Natürlich fehlt auch die berühmte Ansprache des damaligen Außenministers der BRD, Hans-Dietrich Genscher, vom Balkon der deutschen Botschaft nicht.
Einer der Bildschirme zeigt zudem leipzigspezifisches Bild- und Tonmaterial. Einer der Trabis erlaubt den Besuchern einen Blick in das Innenleben und unter die Motorhaube, die Fahrzeug-Experten von „Trabi erleben“ beantworten beim Trabi-Talk gerne Fragen.
Künstlerteam: Signal Creative und Post Bellum Prag (Tschechien)
Burgplatz: „WIR – Leipzig 2023“: Projection Mapping und Chormusik
Für den Standort Burgplatz (Neues Rathaus/Stadthaus) entwickelte Philipp Geist das Projekt „WIR – Leipzig 2023“. Partizipation und das Integrieren der Menschen sind dabei ein wichtiger Bestandteil, Besucher werden zu einem Teil der Installation.
Fotos von Leipzigerinnen und Leipzigern werden auf die Fassade projiziert. Das Konzept beinhaltet auch eine musikalische Komponente: Der Leipziger Kammerchor ist Teil von „WIR – Leipzig 2023“. Die Sängerinnen und Sänger unter Leitung von Andreas Reuter werden auf dem Übergang zwischen Neuem Rathaus und Stadthaus, der sogenannten Beamtenlaufbahn, inmitten der Projektion singen. Der Musiker Lukas Taido entwickelte hierfür eine Komposition. In der Zusammenarbeit von Philipp Geist und Lukas Taido werden Musik und Bild eng verknüpft.
Die Musik generiert und steuert die Bildkompositionen, und die Musik geht wiederum auf die Bilder ein – ein gegenseitiges, inspirierendes Wechselspiel aus Bild und Ton. Die Bilder werden als digitale Collagen vielfach überlagert, eingefärbt, kleinste Details herausgelöst und neu kombiniert. Die Einbindung des Chores und der Fotografien (diese entstanden unter anderem bei einer Aktion während des diesjährigen Stadtfestes) erzeugen eine ortsspezifische Verbindung mit Leipzig.
„WIR – Leipzig 2023“ möchte so den Genius Loci der Stadt aufzeigen. Es entsteht eine künstlerische, abstrahierte und malerische Bildkomposition, begleitet von Musik. Sie zeigt das WIR, das Miteinander, das Zusammen und auch die Diversität der Stadt.
Künstler: Philipp Geist (Projection Mapping & Artistic Concept), Lukas Taido (Musik & Komposition), Berlin
Richard-Wagner-Platz: „Beacon of Hope – Leuchtturm der Hoffnung“: Licht-Skulptur und Poetry Slam
Was haben Jyvaskyla (Finnland), Eindhoven (Niederlande), Lyon (Frankreich) und Leipzig gemeinsam? Natürlich das Licht, aber auch Kreativität, Kooperation und Nachhaltigkeit. Diese Städte, die alle ein Lichtfestival veranstalten und Mitglied im Netzwerk LUCI sind, sind an der Umsetzung des partizipativen, multidisziplinären und europäischen Projekts „Beacon of Hope – Leuchtturm der Hoffnung“ beteiligt.
Craig Morrison ist der leitende Künstler, der für jeden Teil der Installation eng mit den lokalen Teams zusammenarbeitet. Ziel: jedes Mal ein einzigartiges Element des Kunstwerks zu schaffen, das typisch für den Veranstaltungsort und seine Bewohner ist. So nun auch in Leipzig, der vierten Station von „Beacon“.
Die zentrale Struktur besteht aus Holz, einem leicht verfügbaren Rohstoff, der CO₂ absorbiert, im Gegensatz zu Aluminium oder Stahl, die bei ihrer Herstellung Treibhausgase erzeugen.
Hinzu kommen die Leipziger Komponenten: Regenschirme als Symbol verschiedener Revolutionsbewegungen unter anderem der in Hong Kong, aktuelle und historische Botschaften aus Leipzig, platziert auf Bannern, Bändern, Audiobotschaften und den Schirmen, entwickelt und gestaltet unter anderem mit Journalisten im Residenzprogramm des Europäischen Zentrums für Presse- und Medienfreiheit (ECPMF), dem Jugendparlament, dem Mütterzentrum Leipzig und Mitarbeitenden von DHL. Live-Performances des Poetry Slammers Nils Straatmann komplettieren die Co-Kreation.
Künstler: Craig Morrison, Ant Dickinson und Nils Stratmann
Empfohlen auf LZ
So können Sie die Berichterstattung der Leipziger Zeitung unterstützen:
Keine Kommentare bisher