Vielleicht sollten zu so einer Veranstaltung ganz besonders Lehrerinnen und Lehrer eingeladen werden. Damit sie sehen, wie viel Spaß Kinder haben, wenn sie die Gedichte von Lene Voigt (1891–1962) beim Gaggaudebbchen auf der Bühne des Kabaretts Sanftwut vortragen. Natürlich in sächsischer Mundart. Denn genau darum geht es ja bei diesem kleinen Wettbewerb der Lene-Voigt-Gesellschaft: Die immer neue Wiederentdeckung der Schönheit dieses vom Verschwinden bedrohten Zungenschlags.
Und am Verschwinden ist die obersächsische Mundart in all ihren Facetten. Dessen ist sich Klaus Petermann, Vorsitzender Lene-Voigt-Gesellschaft e. V., nur zu bewusst. Die Sachsen sprechen Hochdeutsch und bemühen sich aus guten Gründen, ihren unverwechselbaren Dialekt im öffentlichen Gespräch möglichst nicht zu zeigen. Denn während Bayern, Schwaben oder Hessen kein Problem damit haben, ihre Mundart auch öffentlich zu verwenden, haben Jahrzehnte der Verballhornung des Sächsischen im Fernsehen als scheinbar typische Sprache des Ostens verheerende Schäden angerichtet.
Von den 30 Jahren nach der Deutschen Einheit ganz zu schweigen, in denen man bei Stellenbewerbungen möglichst durch nichts erkennbar machte, dass man aus dem Osten kam.
„Aber wir sind trotzdem stolz auf unsere Mundart“, sagt Petermann. Und am Dienstag, dem 23. Mai, fand er damit natürlich ungeteilten Beifall beim Publikum, das den Weg ins Kabarett Sanftwut gefunden hatte zum jüngsten Gaggaudebbchen-Wettbwerb, bei dem es natürlich genau darum geht: den Nachwuchs. Die Kinder und Jugendlichen, die sich vielleicht doch für diese Mundart begeistern können, die bei genauerem Hinhören nicht viel zu tun hat mit dem, was Nachahmer im Fernsehen als Sächseln demonstrieren.
Ein ganz besonderer Dialekt
Allein in Sachsen gibt es mehrere dialektale Unterarten, die sich deutlich unterscheiden – vom Meißnischen um Dresden und Meißen herum bis zu Osterländischen. Wer fein zuhört, hört es heraus. Leipzig gehört zum Südwestosterländischen. Und genau in diesem Dialekt hat vor 100 Jahren Lene Voigt ihre unvergleichlichen Gedichte, Balladen und Dialoge geschrieben.
Aus denen die jungen Teilnehmer des Wettbewerbs um das Gaggaudebbchen dann jene Texte auswählen, mit denen sie sich tapfer auf die Bühne wagen. Natürlich angespornt von ihren Lehrerinnen. Das ist Klaus Petermann ebenso klar: Ohne die Schützenhilfe von Lehrerinnen, die ihre Schüler auch einmal mit dem Reichtum der eigenen, heimischen Mundart bekannt machen, funktioniert die Rettung nicht.
Dazu fehlen längst auch viel zu viele Omas und Opas, die den Enkeln noch die schönsten Wörter der eigenen Mundart nahebringen.
Was das Auswendiglernen der meist kurzen und vom Spaß und Hintersinn lebenden Texte nicht leichter macht. Das war auch am 23. Mai wieder zu erleben. Und jeder kennt es ja aus der Schule: Daheim vorm Spiegel sitzt der Text noch. Aber dann im Scheinwerferlicht, bei aufmerksam lauschendem Publikum, da hakt es dann vielleicht doch.
Oder man rasselt den Text auf einmal runter, achtet nicht auf Reim und Pointe. Und die Pointen bei Lene Voigt haben es in sich. Sie kommen vorwiegend ganz leise angeschlichen – und sitzen dann wie ein Kichern auf der letzten Zeile im Text.
Wie wichtig der Kontakt in die Schulen ist, war schon an der Teilnehmerrunde zu sehen. Ein Ausflug Klaus Petermanns nach Dresden in die Schillerschule, wo er einen Gastauftritt als Sächsisch-Lehrer hatte, hatte zur Folge, dass diesmal mehrere Schüler der Dresdner Schillerschule mit pünktlichen Zügen nach Leipzig gereist kamen und mit Spaß und Fantasie und teilweise sehr anspruchsvollen Texten am Gaggaudebbchen teilnahmen.
Dr Mänsch un sei Bädde
Im Kostüm sowieso, denn das hat sich herumgesprochen. Dass Lene Voigts Gedichte und Dialoge am besten rüberkommen, wenn man tatsächlich in die Rolle schlüpft. So wie Mathilde Lucke und Nils Brauer, die in die Rolle von Lene Voigts „Hänsel und Gretel“ geschlüpft waren. Und Nils hat sich hinterher garantiert mächtig geärgert, dass er sich einmal im Text verhaspelt hat – denn seine Dialog-Partnerin hatte ihren Part so souverän vorgetragen, dass sie am Ende eine der glücklichen Gewinnerinnen des Gaggaudebbchens war.
Wenn auch nur auf Platz 2. Da hatte es sich die Jury wirklich nicht leicht gemacht.
Denn der Sieg ging tatsächlich an den Kleinsten in der Runde der 17 Kinder und Jugendlichen, die sich an diesem Tag auf die Bühne getraut hatten: Justus Behr aus Marienbrunn, der sich in Schlafanzug und Schlafmütze nach oben getraut hatte, um Lene Voigts Gedicht „Dr Mänsch un sei Bädde“ vorzutragen. Eins dieser so menschlichen Gedichte, in denen das ganz gewöhnliche Leben einen sanften poetischen Glanz bekommt. Denn selbst wenn man hungrig, müde, malade ist – wen man dann in sein Bett fallen kann, ist wenigstens das ein Moment des kleinen, wohlverdienten Glücks.
Das dritte Gaggaudebbchen (zu dem es natürlich wie immer auch eine ordentliche Packung Kakao gab) bekam Theo Tews aus Dresden. Der 14-Jährige hatte sich an den „Stoßseufzer eines sächsischen Ehemanns“ gewagt.
Die innige Freude an den kleinen Dingen im Leben
Wobei eine Schule nicht vergessen werden darf, die dieses Mal erstmals fast mit kompletter Klasse gekommen war: die 60. Grundschule in Knauthain. Die zehn- und elfjährigen Grundschüler versuchten sich vor allem an den beliebtesten Gedichten von Lene Voigt, welche die Lebenswelt von Kindern berühren. Zumindest die Lebenswelt der Leipziger Kinder vor 100 Jahren, auch wenn „Schniersenkel“, „Bratäbbel“ und „Gogosbalmen“ den Jüngeren durchaus noch vertraut sind.
Nur spielen sie – die einst ja ein regelrechter Luxus in der Welt der nicht so reichen Leipziger waren – heute nicht mehr diese Rolle. Gerade das, was selten und teuer war, zog ja auch die Dichterin an und weckte ihre Lust am Schreiben und die Freude, das Schräge und Komische in den Dingen zu sehen. Eine Lust, die ja bekanntlich vielen Zeitgenossen heute abhandengekommen ist.
Wo sie nur noch fluchen und stöhnen, hatte – wie jeder weiß – Lene Voigt ihren dichterischen Spaß an der „Buddelei“, die Leipzigs Straßen vor 100 Jahren genauso aufwühlten wie heute.
Jahreszahlen treiben auch Klaus Petermann und seine Mitstreiter/-innen aus der Lene-Voigt-Gesellschaft um. Denn im Herbst jährt sich der einst für die Erwachsenen entwickelte Wettbewerb um die Gaffeganne zum 25. Mal. Das wird gefeiert, kündigt Petermann an. Wenn auch nicht mit einer neuen Gaffeeganne. Um die älteren Freunde des sächsischen Dialekts zu erreichen, arbeitet die Gesellschaft schon länger an neuen Formaten.
2024 wird auch das Gaggaudebbchen 25 Jahre alt – das sollten sich dann tatsächlich alle Lehrerinnen und Lehrer vormerken, die ihre Schüler mit dem Dialekt ihrer Heimat bekannt machen wollen. Denn, so Petermann: „Dialekt ist Heimat.“ Das darf man sich nicht nehmen lassen, auch wenn schlechte Nachahmer im TV die Sache immerfort ins Lächerliche und Peinliche ziehen.
Und dann? Dann kommt der 30. Geburtstag der Lene-Voigt-Gesellschaft 2025.
Vorher noch soll die Homepage der Gesellschaft mit Unterstützung eines großzügigen Sponsors komplett neu und unter neuer Adresse ins Internet gehen. „Das passiert schon in den nächsten Tagen“, kündigt Petermann an.
Die neue Adresse heißt kurz und knapp: lene-voigt-gesellschaft.de/
Keine Kommentare bisher
Alles sehr verdienstvoll, danke für den Bericht, lieber Autor!