„Nu hetze ma nich so, mei Gutster.“ So begann Otto Werner Förster 2012 sein Buch „… daß ich in Leipzig glücklich syin werde …“ Ein Buch, das noch immer auffällt, wenn man es zwischen Leipziger Stadtführern findet. Nicht nur, weil es einlädt zum langsameren Gehen in einer Innenstadt, in welcher der Geschwindschritt das Übliche ist. Nur wer mit Förster dort lief, merkte, wie wichtig es ist, den Schritt zu zähmen.

Alles Vergangenheit. Stimmt. Am 4. Februar ist Otto Werner Förster gestorben, 72-jährig, studierter Germanist, Schriftsteller, Verleger. „Ach, der mit den Freimaurern“, sagen etwas kundigere Leute, die mit seinem Namen sofort etwas anfangen können. Denn nach der großen deutschen Vereinigung widmete er sich als erster wieder diesem fast vergessenen Kapitel der Leipziger Geschichte. Das manche mit Mummenschanz und Geheimniskrämerei verwechseln, weil das über die Freimaurer lange Zeit so kolportiert wurde.

Netzwerker des 18. und 19. Jahrhunderts

Aber Förster erzählte die andere Seite der Geschichte, ohne die das so viel gerühmte Leipzig des 18. und 19. Jahrhunderts so nicht denkbar war. Denn in den Freimauerlogen trafen sich all die Leipziger, die in dieser Stadt etwas bewirken wollten. Ohne Rücksicht auf Stand und Rang und Titel. Das war das Neue. Die Logen waren Orte der Vernetzung. Mit Logenbrüdern konnte man von gleich zu gleich reden, auch wenn der eine Amtmann war und der andere nur Architekt, Krämer oder Verleger.

„Künstler, Krämer und Mäzene“ nannte Förster 2008 ein Kapitel in seinem Buch „Leipzig und die Freimaurer“, veröffentlicht im eigenen Verlag, den Förster Taurus Verlag genannt hat. Ein eigener Verlag gibt Freiheiten. Da kann einer veröffentlichen, was ihm wichtig erscheint und manchmal auch nicht in die üblichen Strickmuster passt. Gerade, wenn es um Geschichte geht.

Leipzigs Selbsterzählung ist voller Legenden und abgenutzter Geschichten, die gern alles in lauter neckische Anekdoten packen. Die schreibt dann einer vom anderen ab. Und es entsteht kein Bild. Man wundert sich dann eher, dass aus dieser ins Lustige verwandelten Stadt überhaupt etwas Gescheites geworden ist.

Otto Werner Förster aber wusste, dass Dinge nicht als Anekdoten passieren. Wozu hatte er Germanistik studiert und sein Diplom mit einer Arbeit über Ulrich von Hutten erlangt?

Hutten? Muss man den kennen?

Der Man gehörte zu den berühmtesten Studenten an der Universität Leipzig. 1507 bis 1509 war das, kann man in einer anderen Publikation Försters nachlesen, „Leipziger Kulturköpfe aus 800 Jahren“. Der Titel sagt schon alles darüber, wie Förster sein Leipzig sah: Als das Werk von Männern und Frauen, die hier wirkten. Die das geistige Leben formten und der Stadt ihren Charakter erschufen. Denn von nichts kommt nichts. Wenn keiner eine Idee hat, was aus der Stadt mal werden soll, wird das auch nichts. Und wenn er keinen findet, der mitmacht, auch nicht.

Ein Geisterseher

Man braucht Netzwerke. Beziehungen, wie das früher mal hieß, connections im Neudeutsch. Immer dann, wenn aus Leipzig mal wieder etwas Neues wurde, waren das miteinander vernetzte Leute, die gemeinsam was wollten. Exemplarisch erzählt im Freimaurer-Buch im Kapitel „Kulturleistungen Leipziger Freimaurer“. Hier begegnet man den Herren Müller, Dauthe, Bause, Oeser. Um nur die wichtigsten zu nennen.

Es gab auch die obskuren Logen. Und die zeitgenössischen Legenden darüber, was die Leute in den Logen eigentlich anstellten in ihrer Heimlichkeit. Die meistens einfach das ungestörte Gespräch war. Unter Ausschluss der Öffentlichkeit. Manchmal braucht man das, wenn man Dinge wirklich nicht zerreden will.

Dass Netzwerke auch missbrauchbar waren – Förster war das sehr wohl bewusst. Manche netzwerkten und netzwerken auch, um auf heimliche Weise möglichst schnell sehr reich zu werden. Oder an Macht zu kommen, das wertvolle Gut. Solche Leute treten in Försters Buch „Tod eines ‚Geistersehers‘“ auf, das er 2011 im Grunde für einen Leipziger Wirt schrieb, Lutz Geyer, den Betreiber von „Zill’s Tunnel“.

Ein Wirt, der sich für die Geschichte des eigenen Hauses sehr interessierte. Denn an gleicher Stelle betrieb einst Johann Georg Schrepfer sein Kaffeehaus. Berühmt wurde Schrepfer dann durch Schillers „Geisterseher“. Ein Kriminalfall, dem Förster mit akribischem Aktenstudium zu Leibe ging. Dass Schrepfer nach dem Gang mit seinen erlauchten Begleitern des Nachts ins Rosental einfach so Suizid beging, das glaubt man hinterher gar nicht mehr. Der Verdacht, dass da wohl die eine oder andere erlauchte Person nachgeholfen hat, ist eher bestärkt.

Spaziergänger unter sich

So schaute Förster auf seine Stadt und ihre Geschichte. In den großen Staatssachen sah er immer auch das sehr persönliche Interesse. Wer nichts will, wird auch nichts verändern in der Welt. Sein geruhsamer Spaziergang durch die Leipziger Innenstadt aber war nie interesselos. War man mit Förster unterwegs, begann er zu sprudeln. Hinter mancher Gedenktafel, die in Leipzigs alter Innenstadt an der Wand hängt, steckte sein Bemühen um Aufmerksamkeit. Denn wenn man als Vorübergehender nicht weiß, wer hier mal wohnte, lebte und schuf – man eilt achtlos vorbei. Wer schaut am Markt schon hinauf zum Seumetürmchen? Dass der berühmte Wanderer Seume hier mal recht armselig im Kämmerchen unterm Dach wohnte, erzählt inzwischen eine Gedenktafel auf Augenhöhe.

Dass Förster auch ein Buch über den Spazierverwandten schrieb, überrascht da nicht: „Sein Leben, erzählt von einem Freund“, erschienen 2018 im J.G. Seume Verlag, als der noch in Leipzig heimisch war.

Und dass Seume auch in seinem Spaziergangsführer „… daß ich in Leipzig glücklich seyn werde …“ mehrfach vorkommt, auch das überrascht nicht. Darin zeigt Förster eben nicht nur, wer wo logierte, sondern auch, wer mit wem bekannt war, vertraut, befreundet, geschäftlich verbandelt. Das gilt auch für Literaten, obgleich so mancher Unbelesene dabei am liebsten an den einsam in seinem Stübchen Grübelnden denkt. Aber Literatur ist Netzwerkerei. Auch heute noch.

Deshalb erzählte Förster in seinem Spaziergang am liebsten von all den nicht mehr existierenden Gasthäusern, wo sich die heute teils noch Berühmten einst trafen – berühmt ist bis heute noch der Coffebaum. Verschwunden das einst berühmte Bierlokal Kitzing & Helbig im Durchgang von der Petersstraße zur Schlossgasse. Treffpunkt der 1848er. Verschwunden das Café Merkur, wo sich Rowohlt, Kästner, Klinger, Wolff und Schwimmer einfanden zum Kaffee und zum Disputieren.

Mit Kafka in Wilhelms Weinstuben

Und wer Wilhelms Weinstuben sucht, findet sie auch nicht mehr. Von Förster aber erfährt er, wie sich hier die junge Dichtergarde von Kafka bis Meyrink, Brod und Pinthus einst erholte vom anstrengenden Tagwerk. Und weitere Pläne spann.

Nicht überall hängt eine Tafel an der Wand. Und oft würde auch gar nicht alles auf so eine Tafel passen. Die ganze Geschichte. Das, was man sich vorstellen darf. Den Wirt etwa, der sich über beide Wangen freut, wenn die Herren Literaten mit ihren Verlegern wieder hereinkommen. Heute mit Gast aus Prag, das schmächtige Bürschlein, der Herr Kafka. Auch wenn der Wirt keins der Büchlein aus dem Hause Rowohlt oder Wolff je lesen wird.

Oder doch?

Wahrscheinlich unterschätzen wir unsere Wirte. Manchmal brauchen sie ja Zuarbeit. Denn dass ihr Etablissement an historischem Ort steht, wissen sie selbst. Aber wer hier aus und ein ging, das bekam so eine wie Otto Werner Förster heraus. Mit seinen Büchern hat er gezeigt, dass es überhaupt nicht langweilig war in diesem Leipzig. Damals, als die Leute noch gewohnheitsmäßig zu Fuß gingen, auch die Herren Bürgermeister, Verleger und Autoren. Auch die weither angereisten.

Mit Spaziergänger-Perspektive

Mit Förster bekommt man so ein Gefühl dafür, wie und wo man sich hier einst traf und kluge oder auch andere Gedanken hegte und tauschte. Auch revolutionäre. Leipzig als ein Brodeltopf der Ideen und Pläne. Man merkte Förster schon an, wie sehr er diese Vergangenheit vermisste, denn sie ging mit dem Ende der Buchstadt verloren. Meist mitsamt den Gebäuden, in denen das alles einst geschah. „Das verlangt ein wenig Vorstellungskraft, denn Krieg, Brände, Neubauten – und Abrisse von Baudenkmälern bis in die Gegenwart – haben einen guten Teil der Originalgebäude vernichtet.“

Auch diese Gedankenstriche sind Förster – sein nie verhohlener Groll gegen die Leute, die das Geschichtsträchtige in alten Häusern nicht sehen wollen. Oder nicht verstehen. Die letztlich sehr geschichtslos durch die Stadt gehen. Als wäre es eine leere Tafel. Lediglich verwertbares Gelände, das sich in Rendite ummünzen lässt.

Nur manchmal, wenn man durch dieses beschleunigte Stück Stadt eilt, hat man das vage Gefühl, gleich könnte der kleine Mann in seiner Weste um die Ecke kommen. Mit neuen Entdeckungen, die er gemacht hat. „Wissen Sie schon …“

Und auch wenn das nicht passiert, geht man mit Försters Aufforderung, nicht so zu hetzen, anders durch dieses Stück Stadt. Schaut sich um und steht mit sehr viel Genuss all den Eiligen im Weg, die von all den Verstrickungen und Vernetzungen nichts ahnen. Ist denn Geschichte nicht ordentlich und objektiv niedergeschrieben in dicken Büchern? Wo sie hingehöret?

Ganz gewiss nicht, hätte Förster gesagt, der sehr wohl wusste, dass sich die gerade Wortführenden ihre Geschichte immer so zurechtlegen, wie sie ihnen gerade in den Kram passt. Was einer der Gründe dafür war, warum er 1985 seine wissenschaftliche Assistenzstelle an der Uni Leipzig lieber kündigte und freischaffender Autor wurde. Da darf man nämlich schreiben, was einem wirklich auffällt. Und zwar mit eigensinnigem Blick: „Die Wertungen in den Texten sind natürlich subjektiv und werden manchen verstören“, schrieb er gleich ins Vorwort zu seinem literarischen Spaziergangsführer. „Das liegt in der Natur der Sache, an der Perspektive.“

Die eigene Geschichte kennen

Das darf man sich sehr wohl zu Herzen nehmen. Und auch merken. Denn das trifft immer zu: Man sieht die Welt immer nur aus der eigenen Perspektive, die ganz selten die eines Vogels ist, meistens die eines Spaziergängers, der sich den Hals verrenken muss, wenn er auch das wahrnehmen will, was über seinem Kopf zu sehen ist. Die Perspektive wechseln kann man nur, wenn man weiß, dass man eine hat.

Dann beginnt die eigentliche Freude am Spazierengehen. Und mit Förster war es immer eine Freude. Auch, weil er in seinen Leipzigern mehr sah als sie selbst. Er wünschte sich, man habe beim Lesen ein Gefühl dafür bekommen, „warum die Menschen hier selbstbewusst auftreten, offen, bestimmt, auch gelassen. Aus dem Wissen um ihre Geschichte und ihre Möglichkeiten.“

Womit er dann auch gleich gesagt hat, dass man schon ein bisschen was wissen sollte über die eigene Geschichte und die Leute, die vor einem hier entlang liefen. Mit Ideen, Flausen und Plänen im Kopf. Oder einfach neugierig auf den Abend in guter Gesellschaft.

Was bleibt noch zu erwähnen? Dass Förster das natürlich auch selbst beherzigte und ganz selbstverständlich Mitglied im Leipziger Geschichtsverein und in der Johann-Gottfried-Seume-Gesellschaft zu Leipzig e.V. war.

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