Transzendentale Obdachlosigkeit sei ein Gefühl, so meine heutige Parrhesiastin, das sie seit einiger, kaum in objektiv messbare und irgendwie allgemein berechenbare Zeit in der näheren Vergangenheit, immer stärker empfinde. Auf meine Nachfrage, den Ausdruck „transzendentale Obdachlosigkeit“ betreffend, meinte sie nur, dass sie sich in einem Schwebezustand zwischen graublau-verdreckt und mausgrau-verschämt befinde, und zwar grundlos!

Eva ist freie Autorin und arbeitet in einem recht renommierten Literatur-Verlag. Sie ist Redakteur und Herausgeberin. Außerdem ist sie Anfang fünfzig, wirkt wie eine lebendig gebliebene Mittfünfzigerin und erklärte mir zum Abschied unseres ersten Treffens, das unserem Interview vorausging, forsch und doch etwas scheu:

Also, wenn wir dann wirklich ein Interview dieses offenen Charakters führen wollen, muss ich Sie duzen. Ich schaute darauf antwortend forsch-bejahend und damit Zustimmung signalisierend auf sie. Verstanden! – interpretierte sie sich wohl dazu. Verstanden hatte ich Eva. Denn: warum nicht?

Drei Tage später führten wir das folgende Gespräch: Aus Versehen frage ich gleich als erstes:

Wie geht es Ihnen?

Joa. Auf diese Frage antworte ich erst einmal mit: Wir wollen uns duzen. Okay?

Wie geht es Dir, Eva?

Ach, dank Dir! Okay, so lala … Ich messe meine Befindlichkeit, tageszeitlich betrachtet, an meiner Konzentrationsfähigkeit. Bin ich in Denklaune? Wo steckt mein Wille zu Originalität? Im Keller oder ist er in Form? Also: Will ich doch lieber Korrekturen eines neuen Buches, das ich im Verlag betreue, machen …

Und?

Ich freue mich gerade, dass Du da bist und dass ich eine Pause von der Korrekturarbeit habe. Letztlich ist es etwas ziemlich Mechanisches. Ich freue mich immer über interessante Unterbrechungen und ich glaube, dass ich heute vielleicht Glück hab und mit Dir am Ende noch in Bestform gerate. Das ermöglicht manchmal den Sprung: aus der recht klar definierten Arbeit am fremden Buch hinein ins Offene eines neuen eigenen, vielleicht gar originellen Gedanken …

Das heißt? Wie ist das?

Mal sehen … Da merke ich beim Antworten, dass ich im Moment oft innerlich so verkrampfe, dass ich einfach keine Ideen mehr habe. Ich stehe beispielsweise minutenlang einfach da und merke es gar nicht bewusst. Dann ist es wie ein innerlicher KLICK und ich mache weiter oder versuche zu erinnern, was ich gerade tun wollte. Ich reagiere ziemlich krass auf die Umstellung seit Corona.

Ich bin so ein Kuschelvieh – ich brauche Freunde um mich und Spieleabende und Lachen und auch manchmal streiten oder so …. Und das ist jetzt alles online und die Streitereien sind öfter, aber eben nicht sehr produktiv, nicht einmal mehr lustig. Irgendwie zwischen Langeweile und innerlich aufsteigender Wut.

Dann schlage ich um mich und will – egal wer da in meinem Umkreis ist – um mich, verbal, ich will den anderen abbügeln. So eine merkwürdige Selbstbefriedigung auf Kosten des ahnungslosen anderen. Aber umgekehrt ist auch so. Manchmal.

Das meine ich auch mit den fehlenden Ideen und das ist vielleicht der Grund, dass ich manchmal einfach so auf der Stelle stehenbleibe und irgendwie über das Ganze später ohne Sinn nachdenke. Ja, es schleicht sich so eine latente Sinnlosigkeit in meinen Alltag. Die ist nicht mit den üblichen Techniken, wie nen Freund besuchen und reden oder einfach mal einen zu trinken, zu lösen.

Die Krise ist gefühlt wie ein passives, von außen krass Einfluss auf meine Gefühlswelt nehmende Macht. Eine Kraft, die ich so vorher nicht kannte. Man vergisst das eine oder andere Leid ja zum Glück, was den Schmerz angeht, später. Wenn es wieder gutgeht, dann war alles halb so wild.

Wenn aber jemand mitten in Deiner Schmerzzeit Dich aufmuntern oder beruhigen will mit dem Satz: „Alles, halb so schlimm!“ oder: „Wird schon wieder!“ oder ganz furchtbar: „Bis Du heiratest, ist es wieder alles gut!“ Also, also: das kann mich dann echt krass aggressiv machen. Bis zum Wutanfall. Na ja, ein bisschen hab ich Angst, zur Cholerikerin zu mutieren.

Also ich glaube nicht, dass neutrales Schreiben das Ideal eines philosophischen Schreibens ist. Aber die Neutralität im eigenen Hirn und im eigenen Herzen ist sozusagen die Voraussetzung, dass man aus der leeren Mitte heraus diese Stürme dann produzieren kann. Das eine bedingt das andere.

Hast Du Dich noch auf anderen Ebenen im letzten Jahr auffällig, Deiner Selbstwahrnehmung folgend, verändert?

Wie Du das sagst, irgendwie so krass treffend. Wie kommst Du auf dieses eine Jahr, Du hättest auch unpräziser fragen können oder nach zwei Jahren oder nem halben. Aber so: echt krass!  Ein Jahr, würde ich sagen. Was ich beschrieben hab, spielt sich natürlich aufgrund dieses ominösen, viel bestaunten Virus meist zu Hause ab.

Aber Online-Seminare, die ich für den Verlag mache oder bei Autorengesprächen, die wirklich Konzentration und Analysegeist fordern, gerade wenn es um eine verändernde Stilrichtung des Buches geht, die es retten könnten bei uns im Verlag, setzen so ungenaue Kopfschmerzen ein. Sie schlagen zu. So, als wollten sie eher und kräftiger zuschlagen, als es dieser Virus je könnte. Verstehst Du?

Das LZ Titelblatt vom Monat Oktober 2022. VÖ. 28.10.2022. Foto: LZ

Lieber gleich richtig eine auf den Nischel und dann abgehärtet. Vorbereitet auf Schmerzen und komische Schwächezustände, die alles virusverursachte als Kinderspiel bemaßstaben würden. Man weiß nichts, das einen körperlich konkret trifft. Ich hab das Gefühl in so eine wabernde Zeit- und Gefühls- und Schlechtes-Gewissen-wegen-Ich-weiß-nicht-was falsch gemacht und erwischt zu sein Brei gesogen zu werden.

Das ist irgendwie ätzender als intensiver Schmerz, den man sich mit einer Wunde zuzieht, weil er gefühlt nie mehr aufhört. Ich kann Anfang und Ende nicht erinnern noch absehen …

Das hat seit ungefähr 11 Monaten zur Folge, dass ich bewusst alles erleben und Grenzpunkte für dies und das zu setzen versuche. Um nicht irgendwann aufzuwachen und festzustellen, dass ich nichts mehr von meinem Alltag unter Kontrolle habe. Es geht nicht darum, dass ich irgendwelche Maßnahmen nicht befolgen will und im eigenen Trotz zur Unvernunft neige und das zulasse, warum auch immer. Nein …

… Ein konkretes Beispiel wäre toll!

Okay. Letzte Woche hab ich mir eine innere Eieruhr gestellt … Da brauchst Du gar nicht so verdutzt dreinzuschaun … Ich frage Dich als Philosophin, die hier, wenn ich das richtig verstehe, an die Möglichkeiten eines offenen Dialogs, der tatsächlich Inhalte hat, zu erinnern, experimentell mit verschiedensten Antwortgebern auf immer dieselben Fragen …

… Ja …

Also, Frage: Woran denkst Du bei dem Wort oder für mich ist es mehr ein ganzer Praxisablauf täglich, wenn ich an meine Einstellung der inneren Eieruhr denke. Eieruhren geben auf die Sekunde, na Minute genau den veränderten oder besser: sich transformierenden Aggregatzustand eines anderen organischen Dings an. Sie fühlen nichts dabei und rattern eben 3–5 Minuten, also im Ergebnis: Ei weichgekocht oder lieber ein hartes Ei. (…)

An dieser Stelle breitet Eva die Eieruhr-Geschichte sehr lang und breit aus. Ich allerdings konnte nicht schlau daraus werden. Deshalb endet sie an dieser Stelle … für den Leser. Zwei Fragen hatte ich dann noch: Eva, bitte fasse Deine Zeit zusammen! Wie würdest Du Deine Zeit adjektivisch benennen? So dicht wie möglich.

MEINE Zeit. Darüber rede ich eigentlich die ganze Zeit schon. Ich versuchs kompakt: Meiner Wahrnehmung von mir in meiner Zeit in der kürzeren Vergangenheit ist vielleicht auf den Punkt gebracht mit: hilflos, aber ich versuche, darin mutig zu bleiben. Ich fühle von morgens bis abends eine transzendentale Obdachlosigkeit und frage mich, worin die im Grunde besteht …

Damit hast Du alles beantwortet, was ich von Dir wissen wollte. Auch die letzte Frage. 

Danke für das offene Gespräch!

„Im Gespräch mit Konstanze (7)“ erschien erstmals am 28. Oktober 2022 in der aktuellen Printausgabe der Leipziger Zeitung (LZ). Unsere Nummer 107 der LZ finden Sie neben Großmärkten und Presseshops unter anderem bei diesen Szenehändlern.

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