Seit Weihnachten 2021 führt Dr. Konstanze Caysa nun bereits gezielt Gespräche. Nicht mit bekannten Persönlichkeiten, wenn man darunter Prominente versteht, sondern mit Menschen, die ihr im Alltag begegnen, die sie faszinierend findet; lohnend nachzufragen, das Gesprochene aufzuzeichnen. Und letztlich in eine Interviewform zu bringen, die möglichst original die ausgesprochenen Gedanken wiedergibt. Oft anonym, weil es manchem hilft, sich wirklich zu öffnen.
Anlass und Ausgangspunkt war sicher die Corona-Pandemie, die damit einhergehende Entfernung der Menschen auf Plätze hinter Monitoren, weg von direkten Begegnungen in Theaterhäusern und Restaurants ebenso, wie die eingeschränkte Kommunikation hinter Masken. Eine Zeit, die nicht nur Caysa als „kritischen Lebensabschnitt eine einzelne Person betreffend oder gar global die gesamte Menschheit“ bezeichnet. Eine Zeit, in welcher so manches Gespräch entfiel. Und Sicherheit.
Wenig überraschend, dass Caysa vor allem „die individuelle Selbstbestimmungsfähigkeit der Menschen im Hinblick auf Möglichkeiten des Einzelnen, sich selbst zu regieren bzw. zu lernen, sich selbst zu führen“, interessiert. Eine Haltung, „die sich der Einzelne in seinem Leben erarbeiten muss, will er ein selbstbestimmtes Leben nach seinen freien Entscheidungen privat, beruflich, politisch führen.“
Konstanze Caysa im Gespräch mit Detlef Y.
Detlef Y. (55 Jahre) ist Musiker und Komponist und lebt am Rande Erfurts. Er arbeitet in einem selbst gebauten und als Wahl-Heimat verstandenen Anwesen, scheinbar ganz abgeschieden von der Restwelt. Ganz allein ist er hier nicht, denn er trifft an diesem Ort zahlreiche Freunde, die manchmal eine Zeit lang bei ihm leben, um mit ihm gemeinsame Projekte zu verwirklichen.
Wie geht es Ihnen?
Mir geht es immer so „mittel“. Mir geht es immer so „mittel“. Ich habe, glaube ich, meinen Eltern zu verdanken, dass ich mich eigentlich immer als stabil empfinde und gar nicht so berührt von dem Außen. Obwohl ich das Außen im Moment relativ herausfordernd erlebe und der Satz: „Es gibt kein richtiges Leben im falschen!“ – wird präsent. Kurz: Es gab schon leichtere Zeiten.
Gibt es denn ein „richtiges Leben im falschen?“
Na ja, ich denke, ein ganz richtiges Leben gibt es nicht und ein ganz falsches Leben gibt es auch nicht. Dieses „richtig“ ist wie ein Kompass, ob das eigene Leben eben echt ist, ob es stimmt oder ob es droht, in eine Falschheit zu rutschen, meint: von Außen fremdbestimmt. Wie bei Odysseus, den die Sirenen immer wieder vom Wege wegleiten. Es gibt keine Reinheit, aber es ist wie eine Orientierung.
Haben Sie sich, in Ihrer Selbstwahrnehmung im letzten Jahr verändert?
Ich kann es gar nicht direkt sagen, aber ich denke, es ist generell schwierig etwas zur eigenen Situation zu sagen, wenn man noch eben drinsteckt. Ich vermute: Ja! Ich kann aber jetzt nicht sagen, wie. Ich bin gespannt, wie sich das alles in ein paar Jahren so darstellt.
Warum sagt man: „Die Zeit rennt …“?
Je älter man wird, desto schneller soll sie angeblich allen erscheinen. Aus einer inneren Erwartung, was noch alles passieren müsste im Leben, heraus, oder …. Ich nenne es mal so: ich ent-zeite!
Wenn ich auf mein Leben schaue, dann ist es sehr überraschend: Was alles passiert ist – dies getan und das getan und auch, wenn ich heute einen normalen Tag anschaue und die vorherigen, dann sehe ich, was da beispielsweise an Kompositionen ist und ich weiß gar nicht recht: wann ist das eigentlich entstanden? Dann denke ich manchmal: Oh Gott, was sich da alles angesammelt hat.
Wie würden Sie Ihre Zeit charakterisieren?
Die Zeit, in der ich lebe?
Ja.
Endzeitstimmung, würde ich sagen, zumindest in gewissen Kulturkreisen, in denen ich hier lebe.
„Endzeitstimmung“? Man kann ja das Wort „Apokalypse“ übersetzen mit „Offenbarung“, aber auch mit „Untergang“. Also ziemlich entgegengesetzt der Bedeutung nach. Was meinen Sie mit „Endzeitstimmung?“
Ich sehe die Endzeit nicht für alles, sondern für eine gewisse Kulturidee oder einen gewissen Entwicklungsstrang, in dem ich stecke und ich sehe ja die ganze Welt in der Entwicklung und Aufklärung in einem und sehe gerade starke Naturprozesse walten. Das sehen die Menschen nicht, obwohl sie es steuern und das sichtbare ist eigentlich ein großer Zuckerguss obendrüber. Das ist meine Beobachtung für die jetzige Zeit. Ich erlebe unsere Kultur stark mit einem Todestrieb.
Von der Tatsache ausgehend, dass man keine Kinder mehr kriegen will, bis hin zum Umgang auch mit der Pandemie jetzt. Die Würde des Menschen ist immer mehr aus meiner Sicht so eine Ego-Kiste. Es gibt ganz viele Tendenzen, die mir die Ratio mir als Errungenschaft anzeigt (es darf keiner sterben …), die mir aber eigentlich als lebensfeindlich oder unnatürlich vorkommen.
Das ist aber vielleicht gar nicht so schlimm, weil dann andere Entwicklungsstränge ihre Zeit haben. Es geht gerade aus meiner Sicht etwas zugrunde und feiert sich selber dabei. Das machts vielleicht dann doch deshalb manchmal so schwer auszuhalten.
Ein heroisches Scheitern?
Nein, eben gerade nicht heroisch, eher infantil. Heroisch wäre: wenn man das Geschehen reflektiert, analysiert und zu den Katastrophen steht und damit umgeht. Was ich erlebe, ist aber total viel Verdrängung – damit die Party nicht endet, damit man sich selbst nicht infrage stellen muss.
Es hat sehr viele Facetten, darin aber ist jeder Einzelne verwoben. Es sind ja immer gesellschaftliche Entwicklungen. Es gibt Anfänge, es gibt Euphorie, dann geht es unter, dann kommt der nächste Strang. Das ist gar nicht so schlimm: Es gibt Entwicklungen, man ist irgendwo geboren und das eigentlich Zauberhafte darin für mich sind die einzelnen Lebensläufe darin.
Jeder Einzelne hat ja ein Angebot für sein Leben und was er daraus machen kann. Das ist immer schön, ob nun in der Endzeit oder in der Anfangszeit – das Leben bleibt ja der Möglichkeit nach für den Einzelnen sinnvoll. Das ist aus meiner Sicht auch das eigentlich Relevante und nicht an welchem Kreislaufpunkt insgesamt man gerade steht. Deswegen macht mich das jetzt auch nicht so depressiv – weil ich es gar nicht so überbewerte.
Interessant finde ich, dass sich dieser Untergang so über die Fortpflanzung löst: entweder im Keine-Kinder-kriegen-Können oder auch im Nicht-Wollen. Interessant finde ich, inwieweit das die Natur klärt und nicht allein der Mensch oder Menschen unter sich. Es gibt ja unübersehbare Tendenzen, dass man immer weniger der Natur überlassen will und vielleicht wird es ja letztlich wie ein Wettlauf.
Ist das wünschenswert?
Das würde ich mir nicht wünschen, aber vielleicht schafft es der Mensch ja, sich auf eine für uns jetzt unvorstellbare Art der Natur zu entziehen. Das halte ich auch nicht für ausgeschlossen. Es geht darum, dass der Geist nicht mehr an den Körper gebunden ist und dass man immer mehr alles in der Hand hat – von der Geburt bis zum einzelnen Tod. Das ist noch eine offene Frage, glaube ich.
Welche Rolle spielen Sie in der von Ihnen geschilderten Zeit?
Keine Allzuverantwortliche. Um in Schopenhauers Metaphorik zu antworten: als reines Weltauge. Ich wäre gern eine reine Anschauung – wer immer dann durch mich hindurchschaut. Durch das Künstlerische habe ich die Erfahrung, dass ich mich auch zum Gefäß machen kann und ich würde eigentlich total gern ein gutes Auge sein, ein total gutes Wahrnehmungsorgan. Das ist das eine und das andere wäre, dass ich innerhalb des Kunstwerkes Leben und meine künstlerischen Spuren hinterlasse.
Dass meine Begegnung mit jedem Menschen und mit jedem, dem ich begegne, eine Wirkung hat und dass diese aus meiner Lust am Leben selbst entsteht. Ich möchte gern gutes Karma erzeugen, aber ohne einen Machtgedanken im Sinne: Ich muss irgendetwas erreichen. Ich will da wirken, wo ich bin, denn man wirkt ja innerhalb des Geschehens Leben sowieso und ich möchte im Rahmen meiner Möglichkeiten so integer wie möglich sein. Das macht irgendwie Spaß. Das ist ein reizvoller Gedanke. So sehe ich meine Position.
Doch Spuren werden bleiben?
Ich habe ja Musikschüler und in der Position des Lehrers kommt immer wieder die Situation, dass ich für sie entscheiden muss, was jetzt gerade das richtige ist: Lasse ich den Schüler, wenn er unkonzentriert wird, ausbüxen oder hole ich ihn zurück und zwinge ihn, sich zu disziplinieren?
Das ist jedes Mal aufs Neue eine Entscheidung, die ich treffen muss, obwohl ich nicht weiß, was wirklich gerade das Beste für ihn ist. Das ist immer eine spontane Entscheidung und das macht mir auch Spaß. Das meine ich ein Stück weit auch mit „Weltauge“: zu versuchen, sich so weit wie möglich auf den anderen einzulassen und nicht so eigennützig motiviert zu handeln.
Wenn ich mich immer frage: Ist er oder sie ein guter Schüler und mir ist es wichtig, weil ich seinen Erfolg im Auge habe, um selbst ein guter Lehrer nach außen zu sein – umso weniger kann ich natürlich wirklich bei dem anderen sein, denn es geht letztlich um meine Erfolge und nicht sein Wohl. Das ist eine endlose Aufgabe, aber es gibt dem Leben eine gewisse Lust.
Gibt es einen Satz, eine Idee, der Sie folgen?
Ich habe jetzt auch mein Lebensmotto geändert. Lange hatte ich eines, das steht auf dem Grabstein von Alexis Sorbas: „Ich habe keine Angst, ich habe keine Hoffnung, ich bin frei!“ Das hatte ich lange, aber letztens hatte ich dabei so ein Unbehagen wegen des wiederholten „ICH, ICH…“. Jetzt ist es ein Luther-Zitat, sinngemäß: „Indem ich mich gehalten fühle durch Gott, kann ich gelassen bruchstückhaft leben.“
Ich danke Ihnen für das intensive Gespräch.
„Im Gespräch mit Konstanze (1)*“ erschien erstmals am 29. April 2022 in der aktuellen Printausgabe der Leipziger Zeitung (LZ). Unsere Nummer 101 der LZ finden Sie neben Großmärkten und Presseshops unter anderem bei diesen Szenehändlern.
*Vom 3. bis 10. Mai 2022 wird es sie wieder geben, die „Woche der Meinungsfreiheit“. Mit dieser Ausgabe 101 beginnend wird sich die Leipziger Zeitung mit ersten Beispielen, wie diesem Interview, mit den verschiedenen Aspekten, persönlichen Sichtweisen unserer Journalistinnen und Einblicken in die eigene Arbeit befassen. Und ab 3. Mai online auf L-IZ.de.
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