Genau ein Jahr ist es her, dass der Stadtrat am 14. Oktober 2020 dem Umzug des Naturkundemuseums Leipzig in das Gebäude des ehemaligen Bowlingtreffs auf dem Wilhelm-Leuschner-Platz zugestimmt hat. Seitdem gab es dort ausschließlich nichtöffentliche Führungen für politische Entscheidungsträger, Vergabestellen für Fördergelder, Stiftungen oder Ämter. Am 15. Oktober wird nun die erste eigene öffentliche Veranstaltungsreihe des Naturkundemuseums Leipzig am zukünftigen Standort stattfinden – Startschuss für eine interimistische Nutzung im konservierten Ist-Zustand.
In dieser Auftakt-Veranstaltungsreihe erwecken im Oktober eine Reihe von Künstlerinnen und Künstlern den alten Bowlingtreff mit seinem morbiden Charme zum Leben. Sie erforschen mit den unterschiedlichsten künstlerischen Mitteln das Gebäude und den Boden darunter in einer partizipativen Geländeerkundung in die Tiefe der Zeit unter dem Titel „Boden. Treff. Leipzig. Die letzten 500 Millionen Jahre“.
Das interdisziplinäre Projekt des Naturkundemuseums Leipzig verbindet Text, Video und Sound zu einer Performance aus Installation und Ausstellung. Es nimmt sowohl den konkreten Boden unter dem Bowlingtreff ins Visier, als auch die Frage, wie in der Vergangenheit mit diesem Boden als Grundlage unseres Lebens umgegangen wurde.
Gegenwärtig wandelt sich der Blick auf die Welt und wie mit ihr umgegangen wird stark. Entsprechend nervös werden viele Diskussionen geführt. Unter der Erde herrscht eine andere Zeitrechnung. Das Projekt öffnet den Weg unter die Oberfläche und verhandelt die letzten 500 Millionen Jahre des Bodens, auf dem unsere Stadt errichtet wurde.
Ab 2022 wird das Gebäude für das künftige Naturkundemuseum umgebaut. Zuvor nutzt das temporäre Kunstprojekt „Boden.Treff.Leipzig“ den spielerischen und diskursiven Reflexionsraum.
Die Erdgeschichte auf einem Platz verdichtet
Mit über 500 Millionen Jahren ist die präkambrische Grauwacke der alte Teil, neben vulkanischem Gestein (um 285 Millionen Jahre) und den relativ „jungen“ Böden. Der Bereich in dem der „Bowlingtreff“ eingegraben liegt ist eine pleistozäne Hochfläche die an eine holozäne Auenlandschaft angrenzt. Am Wilhelm-Leuschner-Platz hebt sich außerdem der Bitterfelder Flözkomplex, ein bekanntes Braunkohlevorkommen, bis unmittelbar an die Oberfläche.
Wie die verschiedenen Erdzeitalter unterschiedliche Böden durch dauernde Bewegungen verbinden, so unterschiedlich ist die Herkunft. Die Migrationsgeschichte des Bodens ist enorm. Die letzte Kaltzeit brachte durch Vergletscherung viel Geschiebe und Findlinge aus Skandinavien nach Leipzig. Riesige Granitblöcke, teilweise über 1,5 Milliarden Jahre alt, finden sich überall unmittelbar unter der Erdoberfläche.
Noch im letzten Jahrhundert sammelten viele Leipziger die erdgeschichtlichen Spuren mit Leidenschaft und schufen damit die Grundlage für die geologische Sammlung des Naturkundemuseums. 1912 bekamen die Sammler einen eigenen, 93 qm großen Raum im Gewerbemuseum.
Was hat diese 500 Millionen Jahre umfassende Geschichte mit uns heute zu tun? Wie lassen sich diese zeitlichen Dimensionen überhaupt sinnvoll begreifen? Wie lässt sich der Boden in seiner – geologischen, ökologischen, ideologischen – Vielschichtigkeit erfassen? Was davon ist für das 2 Verstehen unserer Gegenwart relevant? Und welche Bedeutung hat dieses Wissen um den Boden für unsere Zukunft?
Stadtgeschichte: 70 Jahre Diskussion am Wilhelm‐Leuschner‐Platz
Der Platz im südlichen Leipzig befindet sich städtebaulich gesehen seit 1943 im Lockdown. Die Bombardierung zerstörte ein bis dahin lebendiges, urbanes Großstadtviertel. Gerade einmal knapp zwanzig Jahre vor der Zerstörung war dort das moderne Leipzig entstanden. Die damals neue Straßenbahn auf dem Ring wurde durch das unterirdisch angelegte Umspannwerk mit elektrischer Energie versorgt.
Lediglich ein markanter Pavillon war auf dem Platz erkennbar. Prächtige Warenhäuser, ein Restaurant im gewagten Rundbau oder die Messehallen wurden als Schutt von den Bürger/-innen auf Pferdewagen weggeschleppt.
Seit über 70 Jahren reißen die Diskussionen um die Gestaltung der mehreren Hektar großen Brache nicht ab. Die Zerstörung des Platzes im Zweiten Weltkrieg gab noch 2011 einen tiefen Blick in die Böden frei für viele Funde, die von der Besiedelungsgeschichte seit der ersten sesshaften Siedler im Neolithikum erzählen.
Bis 2016 konnten Archäologen die Lebensverhältnisse der letzten 7.500 Jahre an diesem Ort rekonstruieren. Die Mitarbeiter/-innen des sächsischen Landesamts können sehr gut aus diesen Zeiten berichten, in der weit mehr Menschen durch Viren und Seuchen umgekommen sind als durch Kriege. Öffentlich zugänglich sind die Funde bislang allerdings kaum.
Auch das soll sich in der künftigen Ausstellung ändern.
Und was den Bowlingtreff selbst betrifft: Als zweiten spannenden Exkurs unter Tage wird der Dokumentarfilm „Bowlingtreff“ an drei Sonntagen am Originalschauplatz gezeigt. Geschichte wird lebendig gemacht. Anschließend kommen Zeitzeugen zu Wort.
Das geplante Programm im Bowlingtreff
Performance & Ausstellung „Boden. Treff. Leipzig. Die letzten 500 Millionen Jahre.“
Premiere am 15. Oktober um 19 Uhr. Weitere Termine am 16., 22., 23., 29. und 30. Oktober jeweils 19 Uhr. Tickets: 10 Euro / 5 Euro an der Abendkasse
Dokumentarfilm „Bowlingtreff“ (D 2015) von Thomas Beyer und Adrian Dorschner am 17., 24., und 31. Oktober jeweils 18 Uhr
Diskussion am 23. Oktober um 18 Uhr.
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