Es gibt eigentlich nur einen Leipziger Ortsteil, wo man sich Jahr für Jahr auch schöne Ortsteil-Ansichten als Kalender in die Wohnung hängen kann – das ist Großzschocher, wo Werner Franke, Betreiber des kleinen Ortsteil-Museums „Heimatblick“, sich jedes Jahr die Mühe macht, einen neuen Kalender mit zu gestalten. Der 18. zeigt Großzschocher in Gemälden, Aquarellen, Zeichnungen.

Emsige Sammler wissen ja, dass dieses Thema auch mehrmals in der vielbändig gewordenen Reihe „Chronik Großzschocher-Windorf“ aufgegriffen wurde und einige der in Großzschocher lebenden Künstler/-innen dort auch persönlich vorgestellt wurden. Oft sind diese künstlerischen Arbeiten die einzigen Bildzeugnisse für die historischen Veränderungen im Ortsbild.

Früher war nicht alles besser, aber auch nicht ganz so bunt

Und manchmal sind auch nur noch die Bilder da, und die Künstler/-innen sind nicht mehr auffindbar. So wie Lotte Kirchner, die Malerin des Bildes „Schloss Großzschocher“, das den Januar verschönt und auch in der „Chronik“ schon abgedruckt wurde, weil es schlicht kein Foto gibt, das das im Krieg zerstörte Schloss auch so eindrucksvoll in Farbe zeigt.

Wobei das Thema Farbe ja selbst in der DDR-Zeit noch gilt. In Schwarz/Weiß oder ORWO-Color aufgenommene Fotos geben das Großzschocher bis 1990 eher nur farblos oder verwaschen wieder. Im Kopf setzt sich daraus dann eine regelrecht verblichene Vergangenheit zusammen, obwohl die Welt damals genauso farbig war wie heute. Nicht so bunt, das stimmt. Der bunte Glanz der Farben im öffentlichen Raum kam tatsächlich erst mit der schönen neuen Farben- und Werbewelt nach 1990 in die Stadt.

Künstler mit dem richtigen Blick

Aber oft halten die – auch von „Freizeit“-Malern geschaffenen Bilder – ein Stück Erinnerung fest, das sich sonst nirgendwo mehr in Bildern auffinden lässt. Das betrifft zum Beispiel auch die Zschochersche Industriegeschichte, die das Leben tausender Menschen bis zur „Wende“ prägte, mit Schichtwechsel und Sirenentönen. Der Ortsteil lebt im Rhythmus der GISAG, der Mühle und der Konservenfabrik.

Und Maler wie Klaus Zechendorf hatten einen Blick dafür, wie die Industriearchitektur auch den Ortsteil prägte. Und das in einer Zeit, in der laut Erinnerung eigentlich alles nur Schwarz und Grau war. Unvorstellbar etwa im Jahr 1977, dass das Heizhaus und die Kohleentladebahn der GISAG mal Geschichte sein könnten.

Geschichte wie der Gasthof zum Trompeter, der den Februar ziert, die Große Elsterbrücke, die um 1880 ein unbekannter Maler im Aquarell festgehalten hat, oder das benachbarte Rittergut Lauer, das zusammen mit Cospuden Opfer der Braunkohle wurde. Hätten sich aufmerksame Maler nicht hingesetzt, um einfach mit Pinsel und Farbe die Besonderheiten ihrer Heimat festzuhalten, hätten wir kein Bild.

Was wir sonst nur allzu leicht übersehen

Und wer sich kein Bild machen kann, kann sich Geschichte auch nicht vorstellen, sieht auch im heutigen Zustand nicht, was den Ort einmal geprägt hat. Denn natürlich verändern sich ganze Straßen und Plätze, wenn markante Gebäude verschwinden, so wie das Eckgebäude an der Brückenstraße, das Rolf Sturm noch aus dem Gedächtnis gemalt hat, weil es ein Ort seiner Kindheit war, oder die heutige Straße Zur Alten Bäckerei im scheinbar skizzenhaften Bild von Siegfried Höfer aus dem Jahr 1974. Erst der Vergleich mit dem heutigen Zustand offenbart tatsächlich die Veränderungen.

Und so wird dem Kalenderbetrachter auch die emsige Arbeit der Zeit sichtbar beim Umblättern. Da lebt man mittendrin in dieser Welt, nimmt die ganzen Häuser und Zäune und Gärten und Straßen und Läden für gegeben, weil in unserer Tageseile nichts an Veränderungen wahrnehmbar ist. Und dann konfrontiert man das gemalte Bild mit der Gegenwart und ist verblüfft, wie viel sich trotzdem verändert hat.

Wie selbst so ein alter Ortsteil sich fortwährend verändert, weil der Zahn der Zeit nagt, sich die Zeiten ändern und selbst jeder Hausbesitzer immerfort etwas zu verbessern hat an seinem Haus und Hof. Ganz zu schweigen von Besitzerwechseln und dem Wechsel der Generationen.

Aus einer Idee wurde ein Forschungsprojekt

Und von diesem Gefühl hatte ja auch die Interessengemeinschaft Ortschronik Großzschocher-Windorf jede Menge, als sie sich vor 20 Jahren zusammen tat, um einfach mal so eine neue Ortschronik zu schreiben, darin festzuhalten all das, was sich im Ort geändert hatte seit den alten Ortschroniken der Pfarrer. Und dann wurde ein mehrbändiges Forschungsprojekt daraus, weil man erst beim Losgehen und Nachfragen merkt, was eigentlich alles an Wissen und Erinnerungstücken da ist – selbst in einem so scheinbar abgelegenen Ortsteil wie Großzschocher.

Die gefundenen Künstler und ihre Bilder waren dann fast schon so etwas wie das Sahnehäubchen, ein eben künstlerischer Blick auf den eigenen Ort. Und damit auch die Wahrnehmung, dass selbst ein „langweiliges“ altes Dorf mit dem Blick der Künstler auf einmal lebendig und schön wird.

Den neuen Kalender „Großzschocher 2022“ bekommt man wieder an den bekannten Verkaufsstellen in Großzschocher bzw. direkt in der „Herberge zur alten Bäckerei“, in deren Hof sich ja auch der „Heimatblick“ befindet.

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