Natürlich müssen wir das noch nachreichen, weil es einfach wichtig ist, auch im Bundestagswahlkampf. Denn das war ja bekanntlich das späte und unerwartete Erschrecken, das mitten im ersten Corona-Jahr den Blick auf die Freie Szene und die Soloselbstständigen lenkte, die von den Allgemeinverfügungen regelrecht zum Nichtstun verdonnert wurden und auf einmal ohne Einnahmen dastanden. Aber ein Auffangnetz für sie gab es nicht. Auch das thematisierte das Livekommbinat am 9. September bei seinem Wahlpodium im Grassi.
Schon der Veranstaltungsort erzählte ja davon, wie sich Leipzigs freie Kulturszene zusammengerauft hat und mit dem Outside-Festival auch in diesem Jahr ein großes Freiluft-Kulturprogramm auf die Beine gestellt hat, nachdem es 2020 schon die Generalprobe auf der Festwiese am Zentralstadion gegeben hatte.Von der natürlich niemand glaubte, dass es mal die Generalprobe sein würde und die Corona-Pandemie auch Leipzig noch Monate und möglicherweise Jahre in Atem halten und ein normales Kulturgeschehen wie vor Corona praktisch unmöglich machen würde.
Da warteten ja auch Leipzigs Clubbetreiber nicht erst, bis die Politik Lösungen finden würde, sondern begannen selbst, Formen zu entwickeln, wie unter Corona-Bedingungen doch wieder Veranstaltungen möglich sein könnten.
Gerade erst haben sie ja im Felsenkeller ihren „Leipzig Live Codex“ vorgestellt, eine Steilvorlage auch für die Politik, weil die Clubbetreiber so zeigen, wie man möglichst sichere Veranstaltungen auch unter Corona-Bedingungen organisieren kann, auch dann, wenn es draußen wieder kalt wird und man in Innenräumen wieder mit Publikum arbeiten möchte.
Denn eines ist fast allen – selbst gesetzteren Menschen – nach diesen anderthalb Jahren klar: Eigentlich hält man das als Mensch nicht aus, wenn man nicht mehr mit anderen zusammen Kultur aller Art erleben kann – nicht nur Tanz in der Distillery, auch Poetry Slams, Kabarett, Theater, Konzerte … Das ist ja alles nicht entstanden, weil das irgendwie „Luxus“ wäre. Eigentlich ist es die Seele unserer Gesellschaft.
Am Donnerstag, 9. September, gab es nun ab 19 Uhr ein Doppel-Podium im Rahmen des Leipziger Kultursommers: Interessenvertreter/-innen der Clubkultur und freien Szene sprachen über ihre Erwartungen an die Politik, die nun natürlich gefordert ist, den Künstler/-innen wieder Frei- und Auftrittsräume zu gewähren. Ein Thema, das ja nicht erst mit Corona aktuell wurde, aber endlich genug Brisanz gewann, auch auf politischer Ebene wahrgenommen zu werden.
Denn dass auch in Leipzig die Orte für Kunst und Kultur immer enger und rarer werden, war vorher schon Thema, ging aber fast immer unter. Zuletzt wurde es sichtbar, als der TV Club vom Eutritzscher Freiladebahnhof weichen musste und die Distillery ihr Ende auf dem Gelände des Bayerischen Bahnhofs vor sich sah. Beide engagieren sich jetzt für das Projekt Gleisdreieck, aber auch da ist noch nicht alles in trockenen Tüchern, auch wenn die Stadt das Projekt mit Wohlwollen begleitet.
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Logisch, dass beide Themen dann in der zweiten Runde auch angesprochen wurden. In der Podiumsdiskussion mit den eingeladenen fünf Leipziger Bundestagswahlkandidat/-innen wurde dann noch deutlicher, dass die Bundespolitik einen Großteil ihrer Corona-Politik einfach gedankenlos auf dem Rücken der Soloselbstständigen ausgetragen hat. Man dachte überhaupt nicht an sie.
Und im Verlauf der Diskussion wurde durchaus sichtbar, dass sie auch deshalb durchs Raster fielen, weil sie in der Bundespolitik keine Lobby haben. Denn Politik in Deutschland richtet sich nach Lobbyinteressen. So deutlich wurde das auf Wahlpodien zuletzt nirgends angesprochen. Wer das meiste Geld, den größten Einfluss und das größte Druckpotenzial hat, der bekommt seine Gesetze und meist auch das Fördergeld.
Nur sind das in der Regel nicht die Branchen, die in Pandemiefällen am stärksten betroffen sind und dann auch noch vom Gesetzgeber gezwungen werden, ihre Arbeit einzustellen. Was ja nicht nur Gastronomen und Hotelbetreiber betraf, sondern gerade die komplette Kultur.
Mit einem Unterschied, der an diesem Abend auch sehr kritisch bedacht wurde: der nun auch öffentlich sichtbar werdenden fehlenden Solidarität der Hochkultur zur Freien Szene. Die eine vom Steuerzahler hochsubventioniert, sodass deren Angestellte maximal in Kurzarbeit geschickt wurden, die staatlichen oder kommunalen Gelder aber weiter flossen. Die anderen auf einmal völlig ohne Einnahmen. Und plötzlich sahen sich auch in Leipzig hunderte freischaffende Künstler aller Sparten dazu gezwungen, entweder schleunigst einen anderen Job zu finden oder sich in Hartz IV anzumelden.
Denn in die Arbeitslosenversicherung fallen sie ja nicht. Ein ganzes Land geht einfach davon aus, dass die vielen freien Künstler als Selbstunternehmer in der Lage sind, sich ihre Aufträge zu besorgen und dann einfach jede Menge unterschiedlichster Kultur zu schaffen, die man dann nach Feierabend genießen kann.
Doch wenn die Häuser – staatlich verordnet – geschlossen sind, gibt es auch keine Aufträge und keine Einnahmen. Damit war die Existenzgrundlage weg, was nun?
Man merkte schon – so kurz die Veranstaltung an diesem Abend war – wie komplex das Thema war und ist. Und dass es an tragfähigen dauerhaften Lösungen fehlt. Auch in Leipzig. Wobei Leipzig allein das nicht lösen kann, etwa wenn es um die Vereinbarkeit von etablierten Clubs und der zunehmenden Verdichtung der Stadt geht.
Werden jetzt alle Clubs an den Stadtrand verdrängt, weil sie mit einem ruhigen Wohnen in der Stadt nicht vereinbar sind? Oder bekommt die nächste Regierung endlich eine neue Bauschutzverordnung hin, die diese Verdrängung verhindert, aber auch die Gelder für nötige Schallschutzdämmung bereitstellt?
Wobei das Podium ja schon deshalb interessant war, weil alle fünf Kandidat/-innen völlig unterschiedliche Erfahrungen mit Leipzigs Kulturszene gemacht haben. Von Sören Pellmann (Die Linke), der im Leipziger Westen in den 1990er Jahren erlebte, wie die dortigen Rechtsextremen unbehelligt die ganze Jugendkultur okkupierten, bis Jessica Heller (CDU), die am Stadtrand erlebte, dass eine Dorfdisco in Dölzig leichter erreichbar ist als das Kulturangebot in der Innenstadt.
Und immerhin saßen ja auch gestandene Väter im Podium, die kaum noch zum Tanz in einen Club kommen, aber trotzdem nicht vergessen haben, wie wichtig und bereichernd das Kulturangebot in Leipzig auch und gerade für junge Menschen ist.
Was nicht mal gesagt wurde, aber mitschwang, spätestens als Paula Piechotta (Bündnis 90/ Die Grünen) von der Strahlkraft der Großstadt sprach, dass diese so oft wegdiskutierte Kulturlandschaft für tausende junger Menschen einer der wichtigsten Gründe ist, aus der ländlichen Region in die Großstadt zu ziehen. Oder eben speziell nach Leipzig, weil die hiesige Clubszene nicht so provinziell oder steif ist wie anderswo.
So gesehen kam auch der Dank an die Veranstalter des Abends von Herzen, darf man annehmen, dass sich die Leipziger Clubbetreiber frühzeitig zusammengetan haben und zusammen nach Lösungen suchen, die Szene zu retten. Denn das erwähnte Moderator Nils Straatmann von Livelyrix ja nicht nur nebenbei: Nach wie vor stehen viele Clubs am Rande der Existenz. Und selbst wenn sie demnächst wieder richtig loslegen dürfen, dürfte das für die meisten mindestens ein, zwei Jahre dauern, bis sie finanziell wenigstens das Schlimmste überstanden haben.
Natürlich stand die Frage: Was können Leipziger Bundestagsabgeordnete da in Berlin bewirken? Sind das nicht alles Themen, die in der Stadt angepackt werden müssen? Aber man erfuhr eben doch, dass einige der Themen, die in der Corona-Zeit endlich mal wahrgenommen wurden, tatsächlich mit Vorschlägen und Forderungen in den Parteiprogrammen untersetzt sind – von einer besseren Absicherung der Soloselbstständigen in der Künstlersozialkasse über die Einführung einer Grundsicherung von 1.200 Euro für Künstler bis hin zur dringend zu verändernden Baugesetzgebung.
Denn das benannte René Hobusch (FDP) ja schon zu Recht: Es gibt massive Zielkonflikte. Auch am Gleisdreieck. Denn wie will man bezahlbares und ruhiges Wohnen in der Stadt gewährleisten und gleichzeitig die wichtige Clubkultur bewahren, die zum Lebenskern der Stadt gehört?
Mit dieser massiv verdichteten Stadt haben ja alle deutschen Großstädte zu kämpfen. Aber die Gesetzgeber haben diese Zielkonflikte bislang eher negiert. Oder zwar mit dicken Lärmschutzgesetzen abgehakt, die aber richtig viel Geld kosten und auf kommunaler Ebene fast nicht umsetzbar sind, weil man dort das Geld nicht hat.
Eine am Ende sehr offene Diskussion. Aber gerade deshalb anregend. Und auch erhellend, weil sie deutlich machte, dass das Gefühl der Freien Szene in Leipzig, oft nur das fünfte Rad am Wagen zu sein, in der Vergangenheit oft genug berechtigt war. Und gerade bei Neuplanungen bis heute gilt, denn wenn Investoren keine Kultur in ihrem Plangebiet haben wollen, finden sie locker Wege, die Kultur hinauszukomplimentieren.
Was ja nicht erst mit dem Eutritzscher Freiladebahnhof begann. Im Leipziger Westen ist das Dutzenden freier Projekte so passiert. Da war es oft sogar noch tragischer, weil es ohne die Pionierrolle der freien Kunstschaffenden dort nie so schnell zu einer Wiederbelebung fast leergezogener Quartiere gekommen wäre.
Aber um das Thema gründlich durchzudiskutieren, war die Runde natürlich zu kurz. Wer sich die Diskussion anschaut, sieht, welchen Kandidat/-innen die vielfältige Leipziger Kultur auch in der politischen Arbeit besonders am Herzen liegt.
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