Mit Gregor Gysi fing alles an. Als Anfang Juli bekannt wurde, dass Gregor Gysi, das rhetorische Schwergewicht der Linken, am 9. Oktober zu einer Festveranstaltung in der Leipziger Peterskirche reden sollte, gab es geharnischten Protest gerade aus den Netzwerken der einstigen Bürgerrechtler. Über 800 Menschen unterschrieben den Offenen Brief, der die Absetzung von Gysis Festrede bewirken sollte. Gleichzeitig entbrannte aber auch noch ein veritabler Historikerstreit.

Ausgelöst hat ihn der Religions- und Kultursoziologe Detlef Pollack am 12. Juli mit einem Beitrag in der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“: „Historischer Irrglaube zur DDR. Es war ein Aufstand der Normalbürger“. Er ist kein Unbeteiligter. 1955 in Weimar geboren, hat er nach einem Theologiestudium 1984 in Leipzig promoviert und hat miterlebt, wie sich die Friedliche Revolution mit langem Anlauf entwickelte.

Seinen Artikel in der F.A.Z. sah er als Versuch, „mit einer Legende aufzuräumen“. Für ihn war es das Volk, das den Umsturz im Herbst 1989 bewirkte. Einige Ereignisse stehen dafür ja exemplarisch – die Vorfälle in Dresden Anfang Oktober genauso wie die Leipziger Montagsdemonstrationen oder der Mauerfall, der eher ein Mauersturz war, ausgelöst von Massen von Berlinern, die zu den Grenzübergangsstellen strömten. Und auch die massenhaften Botschaftbesetzungen in Prag oder die Massenflucht über die ungarisch-österreichische Grenze stehen dafür.

Logisch, dass es bald das Kontra in der F.A.Z. gab: Am 15. Juli veröffentlichte der ostdeutsche Historiker Ilko-Sascha Kowalczuk die Gegenposition: „Eine Minderheit bahnte den Weg“.

„Der Umbruch von 1989 in der DDR war das Werk von wenigen, die Normalbürger warteten ab“, hieß es darin. „Erst als die großen Fragen entschieden waren, setzte sich das Volk in Bewegung.“

Zu spüren war, dass ihm Pollacks Umdeutung zu weit ging und die Rolle der Bürgerrechtler, die wirklich etwas riskierten, aus seiner Sicht abgewertet wurde. Ilko-Kowalczuk: „Anfang Juli veröffentlichten Bürgerrechtler und Historiker einen Offenen Brief, mit dem sie sich gegen eine geplante Festrede von Gregor Gysi in der Leipziger Peterskirche am 9. Oktober 2019 wandten – dem 30. Jahrestag der Freiheitsrevolution. Binnen weniger Tage schlossen sich diesem Protest rund achthundert Menschen an. Seither wird darüber heftig diskutiert. Verwundert reiben sich Beobachter die Augen: Sind die Gräben immer noch so tief wie in den 1990er Jahren? Schon damals wurden die kontroversesten Debatten nicht zwischen Ost und West, sondern zwischen Ostdeutschen ausgetragen.“

Die Versöhnung konnte damals nicht stattfinden denn die SED-Verantwortlichen, so Ilko-Kowalczuk, verweigerten sich der Diskussion über die Rolle ihrer Partei in den 40 Jahren Diktatur.

Am 16. Juli erwiderte wieder Detlef Pollack: „Regime und Widerstand. Die verachtete Bevölkerung der DDR“. Er bekräftigte seine These: „Zu allem Unglück verhielt sich das ,Volk‘ ganz anders als erwünscht.“ Der Leipziger Herbst 1989 passe also nicht in dualistische Weltbilder. Man merkte schon: Damit meinte Pollack auch die Gegenwart, in der sich „das Volk“ schon wieder nicht so verhält, wie es erwartet wird, gar bereit scheint, in großen Teilen die Demokratie wieder preiszugeben und lieber in einer neuen Diktatur leben zu wollen. Jedenfalls sprechen die großen Wahlerfolge der AfD dafür.

Da wirkt die Debatte um Gysi tatsächlich wie aus der Zeit gefallen, als wenn im Jahr 2019 noch immer die Kämpfe des Jahres 1989 ausgetragen würden, die aber damals auch deshalb nie zu einer Debatte mit den Erben der SED wurde, weil das Volk, dieser große Lümmel (Heine), einen schnelleren Weg sah, den ganzen SED-Staat schnellstmöglich loszuwerden – durch die Deutsche Einheit mit Übernahme von Westmark, Grundgesetz und Marktwirtschaft. Radikaler war die DDR auf die Schnelle gar nicht zu entsorgen.

Nur zeigt die Debatte eben auch, dass ein Land nicht einfach so verschwindet. Es lebt in den Menschen fort. Auf unterschiedlichste Weise. Und sei es in einer ausgeprägten Verweigerungshaltung, die dem Agieren des „Volkes“ 1990 genauso innewohnt wie dessen Agieren in den Wahlen des Jahres 2019.

Am 20. Juli versuchte der Historiker Rainer Eckert noch einmal die historische Reihenfolge ins Spiel zu bringen: „Proteste vor Wiedervereinigung. Es war keine Wende, es war eine Revolution“. Und auch er hat recht. Und so sieht es ja auch Bernd-Lutz Lange in seinem mit Sascha Lange gemeinsam geschriebenen Buch „David gegen Goliath“: Für ihn umfasst die Friedliche Revolution den Abschnitt vom 9. Oktober bis zum 9. November.

Und dann? Dann übernahm tatsächlich „das Volk“ die Sache, setzte seine Wünsche durch. Die „Macht der Straße“ änderte die Parolen und politischen Zielstellungen. Und 1990 fanden sich die Bürgerrechtler mit „Bündnis 90“ in einer absoluten Minderheitenposition wieder.

Aber das Thema ist zu wichtig, um es zu den Akten zu legen, finden die Veranstalter des „FREI_RAUMs“ auf dem Wilhelm-Leuschner-Platz.

Deshalb wird der Historikerstreit am Montag, 23. September, um 19 Uhr mit der Podiumsdiskussion: „Wem gehört die Revolution?“ noch einmal aufgegriffen.

Auf der Bühnen diskutieren dann Gesine Oltmanns, die 1989 mit dabei war, Detlef Pollack und Rainer Eckert. Die Moderation übernimmt Christian Dietrich.

Als „Streit des Sommers“ bezeichnete das Feuilleton die Kontroverse um die Deutung der Ereignisse am 9. Oktober 1989, die im Juli mit der Antwort des Historikers Ilko-Sascha Kowalczuk auf die Sicht des Soziologen Detlef Pollack in der FAZ begann und sich zu einer hitzig geführten Historiker-Debatte ausgeweitet hat. Prof. Rainer Eckert, ehemals Direktor des Zeitgeschichtlichen Forums in Leipzig, meldete sich dazu, ebenfalls in der FAZ, mit eigenem Beitrag zu Wort.

Die Diskussion greift den Historikerstreit auf: Wer hat die Friedliche Revolution bewirkt? Waren es die DDR-Oppositionellen oder die Unzufriedenheit der Massen? Und: wie kann man sich gemeinsam gegen den Missbrauch der Friedlichen Revolution, wie sie die AfD im Wahlkampf begann, positionieren?

Termintipp: Montag, 23. September, 19 Uhr auf dem Wilhelm-Leuschner-Platz: Podiumsdiskussion: „Wem gehört die Revolution?“

9. Oktober 2019 in der Peterskirche: Ein einzigartiger Kampf mit Gregor Gysi

9. Oktober 2019 in der Peterskirche: Ein einzigartiger Kampf mit Gregor Gysi

Hinweis der Redaktion in eigener Sache: Eine steigende Zahl von Artikeln auf unserer L-IZ.de ist leider nicht mehr für alle Leser frei verfügbar. Trotz der hohen Relevanz vieler unter dem Label „Freikäufer“ erscheinender Artikel, Interviews und Betrachtungen in unserem „Leserclub“ (also durch eine Paywall geschützt) können wir diese leider nicht allen online zugänglich machen.

Trotz aller Bemühungen seit nun 15 Jahren und seit 2015 verstärkt haben sich im Rahmen der „Freikäufer“-Kampagne der L-IZ.de nicht genügend Abonnenten gefunden, welche lokalen/regionalen Journalismus und somit auch diese aufwendig vor Ort und meist bei Privatpersonen, Angehörigen, Vereinen, Behörden und in Rechtstexten sowie Statistiken recherchierten Geschichten finanziell unterstützen.

Wir bitten demnach darum, uns weiterhin bei der Erreichung einer nicht-prekären Situation unserer Arbeit zu unterstützen. Und weitere Bekannte und Freunde anzusprechen, es ebenfalls zu tun. Denn eigentlich wollen wir keine „Paywall“, bemühen uns also im Interesse aller, diese zu vermeiden (wieder abzustellen). Auch für diejenigen, die sich einen Beitrag zu unserer Arbeit nicht leisten können und dennoch mehr als Fakenews und Nachrichten-Fastfood über Leipzig und Sachsen im Netz erhalten sollten.

Vielen Dank dafür und in der Hoffnung, dass unser Modell, bei Erreichen von 1.500 Abonnenten oder Abonnentenvereinigungen (ein Zugang/Login ist von mehreren Menschen nutzbar) zu 99 Euro jährlich (8,25 Euro im Monat) allen Lesern frei verfügbare Texte zu präsentieren, aufgehen wird. Von diesem Ziel trennen uns aktuell 500 Abonnenten.

Alle Artikel & Erklärungen zur Aktion Freikäufer“

So können Sie die Berichterstattung der Leipziger Zeitung unterstützen:

Ralf Julke über einen freien Förderbetrag senden.
oder

Keine Kommentare bisher

Schreiben Sie einen Kommentar