Bibliotheken waren schon immer soziale Räume. Sozial ohne Anführungsstriche. Man trifft sich dort, geht zu Lesungen, hält sich dort sogar auf, wenn andere Leute sich im Garten verstecken. Und bestätigt im Kurs der Leipziger Stadtbibliothek fühlte sich Kulturbürgermeisterin Skadi Jennicke, als sie jüngst mit einer Leipzig-Delegation in Boston weilte und die dortige Boston Public Library besuchte. Die ist längst schon im nächsten Bibo-Zeitalter.
Schon die Öffnungszeiten lassen Leipziger Leseratten mit den Augen rollen: von 9 bis 9 in der Woche, am Freitag und Samstag bis 17 Uhr, aber sogar am Sonntag von 13 bis 17 Uhr. Da treffen sich die Bilderbuchhelden im Haus am Leuschnerplatz, um sich mit Maumau die Zeit zu vertreiben, bis am Montag wieder Leute kommen.
Kein Wunder, dass Skadi Jennicke an Susanne Metz, die Leipziger Leiterin der Stadtbibliothek, lauter Schnappschüsse schickte mit spielenden Kindern, Kletterwänden und einem großen, gut besuchten Café gleich im Foyer der Bibliothek. Davon kann Susanne Metz nur träumen.
Aber sie träumt schon längst davon. Denn die „Bürgerumfrage 2016“ hat sie bestätigt in der Erkenntnis, dass sich Bibliotheken in der Zeit zunehmender sozialer Vereinsamung zu neuen Orten von sozialer Gemeinschaft entwickeln. 31 Prozent der Leipziger, die 2016 die Stadtbiliothek besuchten, gingen hin, um an einer der vielen hundert Veranstaltungen teilzunehmen, 28 Prozent gingen hin, um Zeitungen und Zeitschriften zu lesen, was man dort ganz gemütlich tun kann, 24 Prozent haben eine der Ausstellungen besucht, 11 Prozent haben die dortigen Computer zum Internet-Besuch genutzt. Kaffeehausbesuch war noch nicht. Bislang gibt es nur die dicken Kaffeeautomaten, wo man sich den geistigen Anreger abfüllen kann.
Aber unter den vielen Veranstaltungen stach eine hervor, die die Stiftung „Bürger für Leipzig“ ins Leben gerufen hat, wissend darum, dass vielen (älteren) Leipzigern ein Raum fehlt, wo sie über die Erfahrungen ihres Lebens sprechen können. „Erzählcafé“ nennt sich die Veranstaltung, zu der Leipziger eingeladen sind, die über ihren Start ins Erwachsenenleben in den 1960er Jahren erzählen wollen. Und zwar mit Video-Mitschnitt, denn die Erinnerungen sollen in ein Buchprojekt einfließen. Das nennt man für gewöhnlich oral history: Zeitzeugen erzählen, wie es für sie wirklich war. Bevor diese Erinnerungen vergessen werden und die Historiker niemanden mehr fragen können – und zwar zu den ganz normalen Lebensereignissen: erste Wohnung, Studium, erste Arbeit …
Anfangs folgten um die 40 bis 50 Leipzigerinnen und Leipziger der Einladung. Da reichte der Tagungsraum im Erdgeschoss. Zuletzt aber waren es 120, 150, die unbedingt dabei sein und erzählen wollten. Da hatte man längst in den Saal im Obergeschoss umziehen müssen.
Die Angst, die Susanne Metz umtreibt: Im Mai findet die letzte Veranstaltung in der Reihe statt. Alle, die daran beteiligt waren, die Tassen mitgebracht, Kaffee gekocht und Kuchen gebacken haben, fallen dann in ein Loch. Schon heute kommen die bangen Anfragen: Geht es dann nicht doch weiter?
Die Veranstaltung hat sich zu einem wichtigen Punkt der Selbstvergewisserung der Leipziger entwickelt. „Wir machen uns schon jetzt einen Kopf, wie wir das Format weiterführen können“, sagt Metz. „Das können wir nicht einfach enden lassen.“
Gäbe es schon so ein Foyer-Café wie in Boston …
Aber daran ist noch lange nicht zu denken. Auch nicht an die Bostoner Öffnungszeiten. „Dazu fehlt uns wirklich das Personal und der finanzielle Spielraum“, sagt Metz.
Aber: „Es wäre ein Traum.“
Denn Boston zeigt, dass die Stadtbewohner so einen Ort dankend annehmen. Und dabei die Bibliothek als Ort ihrer sozialen Verwurzelung erleben. Als „third place“, wie es die amerikanischen Soziologen bezeichnen: den dritten Ort, an dem Menschen ihre Heimat finden – nach Familie und Arbeitsplatz.
Was 2018 auf jeden Fall tatsächlich einen neuen Raum in der Stadtbibliothek am Wilhelm-Leuschner-Platz finden soll: Der Arbeitstitel lautet „Leipziger Wohnzimmer“. Ein ganzer Raum soll so umgestaltet werden, dass er für Besucher den direkten Zugang zu regionalgeschichtlichen Angeboten bietet – von der Regionalliteratur bis hin zu virtuellen Angeboten. Hier – in einem Raum in der ersten Etage – könnte auch ein kleines Café entstehen. Der Ort soll heimelig sein und gleichzeitig den Leipzigern den (virtuellen) Zugang zu ihrer eigenen Stadt und der eigenen Stadtgeschichte ermöglichen. Also ein Ort der Erdung und Verwurzelung. Und auch noch wissenschaftlich begleitet, die Kontakte zu den Leipziger Wissenschaftseinrichtungen habe man schon.
Nur eins fehlt noch: Das Geld, um den Raum zu gestalten. Was nur über Förderung geht. Aber eine Förderrichtlinie der Kulturstiftung des Bundes könnte genau die richtige sein, um das Projekt 2018 umsetzbar zu machen, sagt Metz.
Womit sich die Bibliothek noch weiter hin zu einem „Ort der Gemeinschaft“ entwickelt. Das ist ja so neu nicht. Als 2012 die neu gestaltete Stadtbibliothek am Wilhelm-Leuschner-Platz eröffnet wurde, gab es im Kinder- und Jugendbereich die ersten Hingucker, wie Aufenthaltsqualität in einer Stadtbibliothek aussehen kann – mit Leseecken, Kuschelecken, verschiebbaren Regalen, Orten zum Abschotten, so dass einerseits die Kinder mit ihren Eltern einen Ort hatten, an dem die Welt der Bücher erlebbar war – andererseits sich aber auch die Jugendlichen ungestört ihrer Beschäftigung mit Medien widmen konnten.
Beides hat funktioniert. Die Anmeldezahlen in der jungen Nutzergruppe sind deutlich gestiegen. Gerade junge Eltern gehen mit ihren Kleinen immer wieder gern in die Kinderbuch-Abteilung. „Da haben wir auch die höchste Nachfrage“, sagt Metz. Sie könnte jedes Jahr bergeweise neue Kinderbücher ankaufen, wenn es der Etat hergäbe. Als die Stadtteilbibliothek „Georg Maurer“ in Plagwitz umgebaut wurde, wurde genauso daran gedacht, Räume für unterschiedliche Nutzergruppen zu schaffen und die Aufenthaltsqualität deutlich zu steigern. Möglich, dass gerade Jugendliche hier eine Art zweites Zuhause finden, das es so in vielen Familien nicht gibt.
Das Angebot wird seit der Neueröffnung im April 2017 mit steigender Nachfrage belohnt. Was natürlich heißt: Die Bibliotheken sind auch in Leipzig längst auf demselben Weg wie die Boston Public Library: hin zu neuen Orten sozialer Begegnung. Hier ist man wieder Bürger und findet einen Ort im Stadtteil, an dem man zu Hause ist. Trotz oder gerade wegen der grassierenden „social media“, die die Menschen immer mehr vereinsamen lassen.
Ganz ähnlich fand auch der Umbau der Stadtteilbibliothek in Paunsdorf statt. Susanne Metz: „Die Nutzerzahlen steigen dort wieder, nachdem sie die ganze Zeit im Sinkflug waren.“
Und in den nächsten Jahren ist die nächste Stadtteilbibliothek zur Generalkur dran: die in der Südvorstadt. Und da man aus dem Projekt Plagwitz gelernt hat, hat man auch gleich die Jugendlichen aus dem Ortsteil herangezogen und ihre Ideen entwickeln lassen, wie sie sich die Innenräume so einer Bibliothek vorstellen. Ergebnis: Eigentlich wünschen sie sich ruhige Räume, in denen sie sich mal richtig hängenlassen können – unter künstlichen Bäumen und in richtigen Hängematten.
„Mal sehen“, sagt Susanne Metz.
Das Projekt steckt noch in der Keimphase. Aber man ahnt, dass mit Leipzigs Stadtbibliothek etwas Neues heranreift, was die Stadt schon immer gebraucht hat – und jetzt regelrecht ersehnt: einen sozialen Fixpunkt, an dem man sich in seiner Stadt jederzeit verorten kann, wo man Leute trifft, mitreden kann und aufhört, ein anonymer Stadtmensch zu sein.
Eben weil immer mehr Menschen nicht mehr anonym und einsam sein wollen. Die Idee mit dem Café ist jetzt in der Welt. Mal schauen, wann es eröffnen kann.
Und was noch fehlt – der Veranstaltungstipp:
Am Dienstag, 27. Februar, um 19 Uhr, findet in der Stadtbibliothek eine Lesung mit Bernd Schirmer aus seinem Roman „Silberblick“ statt.
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