Natürlich sind Jahre viel zu kurz. Kaum hat man sich daran gewöhnt, 2017 ins Datumsfeld zu schreiben, ist es auch schon wieder Sommer und die Kalender für ein völlig unbekanntes Jahr prasseln ins Sonnenlicht. So wie am Dienstag, 29. August, der neue Kalender von LTM und Stadtgeschichtlichem Museum. Mittlerweile der 17te seiner Art und ein Sammlerstück für Liebhaber Leipziger (Fotografie-)Geschichte. Diesmal geht’s ums Wohnen.
Das Thema läge ja nun wohl auf dem Tisch, betont Volker Bremer, Geschäftsführer der Leipzig Tourismus und Marketing GmbH. Der Stadtrat diskutiert über sozialen Wohnungsbau, die Baubürgermeisterin zerbricht sich den Kopf, wie man die zunehmende Wohnungsknappheit in den Griff bekommt. Es ist ein bisschen so wie vor 100 und 120 Jahren, als Leipzig in einem ganz ähnlichen Tempo wuchs.
Der kleine Unterschied, so Bremer: Leipzig konnte damals noch über seine alten Stadtgrenzen hinauswachsen. Da war noch viel Platz. Ganze Dörfer konnten eingemeindet werden und Äcker wurden zu neuen Stadtquartieren. Die Substanz, die damals gebaut wurde, steht heute noch zum größten Teil. Ein doppelter Glücksfall, sagt Dr. Volker Rodekamp, Direktor des Stadtgeschichtlichen Museums. Denn der Kalenderbetrachter kann vergleichen. Leipziger Baugeschichte ist real in echter Villen- und Wohnhaussubstanz erhalten – und die Bilder aus dem Fotoarchiv des Stadtgeschichtlichen Museums zeigen, wie die Gebäude aussahen, als sie noch neu waren. Als auch die Erbauer und Besitzer drin wohnten und sich stolz – mit Familie und Angestellten – dem Fotografen präsentierten.
Wer macht das heute noch? Steckt die ganze Bewohnerschaft in Festtagskleider, um für den gut bezahlten Fotografen ein paar Minuten tapfer still zu stehen? Denn die Fotos im Kalender waren zu ihrer Entstehungszeit genauso wenig billig wie die dargestellten Gebäude. Der Fotograf musste bestellt werden – meistens im renommiertesten Atelier der Stadt, dem Atelier von Hermann Walter. Und dann wurde das „Shooting“ zu allem anderen als einem Shooting: Es wurde inszeniert. Denn darauf kam es an.
Das ist das, was beim näheren Betrachten der Bilder auffällt: Sie zeigen nicht das Lebensumfeld der Arbeiter und kleinen Angestellten. Das wäre ein ganz eigenes Thema, betont Rodekamp, für einen späteren Kalender. Denn mittlerweile weiß man auch im Stadtgeschichtlichen Museum, dass der Fotoschatz aus dem frühen 20. Jahrhundert für weitere historische Kalender ganz sicher weit bis ins 21. Jahrhundert reicht und dass dabei immer neue Facetten der Stadt um 1900 gezeigt werden können. Man muss eigentlich nur die Themen des aktuellen Stadtgesprächs aufgreifen, wird fündig und kann vergleichen.
Und so nebenbei wird ein wichtiges Stück Stadtgeschichte sichtbar, wie Rodekamp betont. Nicht nur, dass „neun von zwölf abgebildeten Gebäuden noch heute existieren“, mit Titelblatt sogar 10 von 13, die überwiegende Zahl der abgebildeten Gebäude sind repräsentative Unternehmervillen, die zumeist in der Zeit zwischen 1871 und 1914 entstanden und den Stolz und das Repräsentationsbedürfnis ihrer Bewohner zeigen. Sie zeigen auch ein Leipzig, das sich damals mit seinem Reichtum nur mit einer Stadt in Deutschland messen musste – das war Hamburg.
Und diesen Reichtum wollten Leipzigs Unternehmer natürlich zeigen und ließen sich an neu entstehenden Villenalleen von namhaften Architekten ihren Traum vom Wohnen inszenieren – gern als italienische Villa, als römischer Palast, als Neorenaissance-Schlösschen. Vieles davon steht heute noch – nicht immer so detailreich erhalten, auch nicht immer mit den ebenso eindrucksvoll gestalteten Gartenanlagen drumherum. Aber das Tragische daran, so Rodekamp: Nirgendwo haben die alten Familien ihren Besitz halten können. Und das hat viel mit der Vertreibung und Enteignung des Leipziger Bürgertums schon in der Nazi-Zeit und später den Enteignungen in SBZ und DDR zu tun. Leipzig verlor damit nicht nur sein Unternehmertum, das seit 1990 erst wieder in ganz zarten Pflänzchen nachwächst – es verlor auch seine Unternehmen von Weltruf und seine wirtschaftliche Kraft.
Auch das spielt ja jetzt eine Rolle, wo es um die Schaffung von neuem Wohnraum geht, aber die Gelder knapp sind und die Meyers, die gleich große Wohnsiedlungen für die Angestellten hinsetzten, fehlen sowieso.
Aber kommt da Sentimentalität auf? Geschichte ist meistens eine sehr rücksichtslose Angelegenheit. Städte verändern sich, prägende Persönlichkeiten verschwinden. Die Gebäude bleiben zurück und zeugen – wenn man sie heute aufsucht – auch von der Sorgfalt, mit denen sie aufwendig saniert wurden, um dann meist als Kanzlei oder anderem profanen Zweck dienend neu genutzt zu werden. Was wichtig ist, sieht man noch. Angefangen vom opulenten Stilmix des Historismus, der ja die Grund-Weltanschauung der sogenannten Gründerzeit war. Wo ein neu zusammengeschweißtes Land und ein erfolgreiches Bürgertum ihre Stellung in der Welt schon mal gern als historisch betrachteten, versuchte man ja, Welt- und Bildungsbezug auch noch im Bauen sichtbar zu machen und lieh sich alles, was Renaissance, Gotik und Antike an Baustilen hervorgebracht hatten. Jede Villa war ein Bilderbuch und ein Stück bürgerlicher Weltverortung. Hier wohnten die Leute, die sich als Bewohner eines Landes der „Dichter und Denker“ beschrieben, ihre Kinder auf die humanistischen Gymnasien schickten und sich Goethe und Schiller in Prachtbänden ins Prachtregal im prächtigen Salon stellten.
Innenansichten freilich findet man im Kalender nicht.
Davon gäbe es auch nicht so viel, sagt Rodekamp. Man sieht es auch in den Bildern ein wenig: Die Schauseite des großbürgerlichen Lebens war draußen. Mit Erkern, Veranden und Terrassen zeigte man Lebensart. Die prächtigen Gebäude sind geblieben, die einstigen Bewohner verschwunden – oft auch mitsamt ihren Unternehmen und ihren Familiengeschichten. Auch wenn so mancher Leipziger Gästeführer die prächtigen Villenviertel heute wieder im Angebot hat. Denn wenn man die Namen derer kennt, die damals bei Herrmann Walter diese Fotos in Auftrag gaben, kann man so manche alte Unternehmergeschichte wieder dem Vergessen entreißen.
Und da auch drei Prachtgebäude im Kalender sind, die der Krieg aus dem Stadtbild gemerzt hat, macht auch der jüngere Leipziger noch ein paar Entdeckungen. Und dann, wenn man die Kalenderblätter umschlägt, ist natürlich jedes Motiv eine Einladung, mal hinzuspazieren und zu gucken, wie es heute dort aussieht – etwa an der Villa Ackermann in der Lortzingstraße 19 oder da, wo mal die Villa Philipp an der Richard-Lehmann-Straße stand. Für Manchen wird es eine Einladung sein, Leipzig auch mal von einer sonst eher selten beleuchteten Seite kennenzulernen.
Der neue Kalender „Wohnen im alten Leipzig“ ist jetzt an den einschlägigen Verkaufsstellen wieder für 19 Euro erhältlich.
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