Vor ein paar Wochen noch leitete Kurt Masur in Leipzig ein Dirigenten-Seminar. Abends sah man ihn und Ehefrau Tomoko in Auerbachs Keller, von Tisch zu Tisch sprach es sich herum: „Kurt Masur ist da!“ Er war kein gebürtiger Leipziger, aber ein Stück Leipzig. Am 19. Dezember 2015 starb Kurt Masur. Am 14. Januar 2016 nimmt Leipzig in der Thomaskirche Abschied von ihm.
Wo sonst in dieser Stadt sind musikalische Tradition und Ausbildung so nah beieinander – seit über 800 Jahren.
Elektriker!
„Was haben wir denn gelernt?“ wurde Kurt Masur mal auf der Leipziger Baustelle des Neuen Gewandhauses von einem Handwerker gefragt: „Elektriker!“, lautete die Antwort. Das soll den Arbeiter schwer beeindruckt haben.
Wenn Kurt Masur auf der Baustelle war, so stand das dann in der Zeitung. Und das war oft. Aus dem Ausland schrieb er Ansichtskarten an die Bauleute und signierte mit „Euer Alter“.
Leipziger Straßenpassanten schauten Ende der 1970er, Anfang der 1980er Jahre immer nach der Baustelle, die ja ihre Zeit brauchte. Es wurde gewitzelt: „Oh, heute arbeitet der Bauarbeiter!“ Lange stand der große Stahlbau-Körper offen, weil ja so vieles hinein musste. Lieferungen für die Orgel trafen ein, als die Wand zum damaligen Karl-Marx-Platz noch gar nicht da war. Einen Konzerthallen-Neubau solchen Formats hatte es in der DDR noch nicht gegeben. Und es gab auch keinen anderen mehr.
So war das Bauwerk schon angekommen und aufgenommen worden, lange bevor es eröffnet wurde. Und nachdem die Bauzäune gefallen waren und abends die Beleuchtung eingeschaltet war, spazierte man über den Platz und bestaunte das Haus und Sieghard Gilles Deckengemälde. Dann war es soweit, man stand auf dem Platz. Einer stand in der Schlange der Abendkasse, einer sprach die Passanten auf dem Platz nach freien Karten an. Es gelang!
Musik mit dem Herzen
Blick zurück: Zuerst hatte Kurt Masur seine Musiker eingeschworen: „Das Gewandhausorchester müsse so spielen, dass Entscheidungsträger ein schlechtes Gewissen bekämen, dass das Orchester kein eigenes Konzerthaus hat.“ Und nun wurde gebaut!
Vor dem Umzug von der Kongresshalle ins Gewandhaus kündigte Kurt Masur bei einer Besucheraussprache sogenannte „Jeanskonzerte“ an. Eine ältere Dame fragte damals: „Wollen Sie denn zulassen, dass man in Jeans-Hosen ins Konzert geht?“ – Darauf Kurt Masur kurz und knapp: „Es kommt auf das Herz an, nicht auf die Hose, in der es schlägt.“
Gewandhaus-Besucher via Stadtfunk
Schon während der Bauzeit kam der Spitzname „Masurium“ auf, aber das verdrängte den Namen Gewandhaus nicht. Später mutmaßte man, dass die historische Bezeichnung „Gewandhaus-Konzerte“ und „Gewandhaus-Orchester“ als Spitznamen aus dem Leipziger Volksmund stammen könnten, nachdem die Großen Konzerte nicht mehr im Gasthaus am Brühl sondern im Handelshaus zwischen Universitätsstraße und Neumarkt stattfanden.
Im Oktober 1981 wurden Straßenpassanten an den Haltestellen der Leipziger Verkehrsbetriebe (LVB) zu Gewandhaus-Besuchern. Denn die Eröffnung wurde vom Augustusplatz per Stadtfunk live übertragen. Jener Stadtfunk, der am 9. Oktober 1989 den Aufruf zur Besonnenheit ausstrahlte. Später wurde diese Stadt- und Bürgerinformation abgeschafft.
Arbeiterklasse dringt in die Musik ein
Mit diesem Neuen Gewandhaus wurden in der Zeit- und in der Ahnentafel der Leipziger Musikgeschichte neue Fakten geschaffen und Linien fortgesetzt: Bürger eroberten die Kunst, Bürger nahmen Platz auf ihren Anrechts-Sitzen. Wenn Handwerker in der Nähe des Gewandhauses auftauchten, erklärten Stadtführer: „Hier dringt die Arbeiterklasse in das musikalische Erbe ein!“
Kurt Masur wirkte außer als Dirigent, Moderator und sowieso als Sachverständiger bei Gesprächen mit dem Publikum auch bei einem Konzert-Programm als Tasten-Instrumental-Solist in einem kleinen Ensemble auf dem Podium des Großen Saales mit. Einst hatte er Pianist werden wollen, was ein Handleiden verhinderte.
Einst brachte Felix Mendelssohn Bartholdy Bachs Werke wieder nach Leipzig. Und im Großen Saal des Gewandhauses dirigierte Kurt Masur Johann Sebastian Bachs „Matthäus-Passion“. Und was die „Jeans-Konzerte“ anbelangt, so wurde daraus „big-Begegnung im Gewandhaus“. Zur allerersten Veranstaltung kamen, wie man damals schätzte, mehr als 800 Leute. Kurt Masur informierte die Volkspolizei, die dann ihren Streifendienst an der Gewandhauspforte versah. Auf welcher Treppe man damals saß, das ist unvergesslich.
Da trennten in der Gewandhauskasse noch Glasscheiben Verkäuferin und Kunden, da war das Jahresheft noch ein Glückstreffer und man bekam es für fünf Mark der DDR, aber eben nur so lange, wie der Vorrat reichte. Zu den ersten Orgel-Konzerten wurden im ausverkauften Saal noch Stuhlreihen auf dem Podium aufgestellt. Man wollte in diesem neuen Gewandhaus Musik gehört haben!
Ungewöhnliche Konzertorte scheute Kurt Masur auch nach der Fertigstellung des Gewandhauses nicht. Mit den Studenten und einem Orchester ging er zur Dirigierprüfung an die NVA-Unteroffiziersschule in Bad Düben und ermahnte zwischendurch das Publikum im Kulturhaus zu Ruhe, Aufmerksamkeit und Konzentration.
So lief die Leipziger Musiktradition weiter, nach Gewandhauskapellmeister Felix Mendelssohn Bartholdy, dem Gründer des Konservatoriums. Der einen weiteren Ehrenplatz im Haus bekam, nachdem Max Klingers Beethoven-Plastik in den Neubau des Museums der bildenden Künste gezogen war.
Unvorstellbar, was geworden wäre wenn Kurt Masur in der Goldschmidtstraße nicht die Felix-Mendelssohn-Stiftung e. V. ins Leben gerufen hätte. Er rettete Grundstück, Gebäude und die Idee eines lebendigen Museums. Von dem der spätere Gewandhauskapellmeister Herbert Blomstedt so angetan war, dass er in diesem Haus wohnen wollte und dann von dem Gefühl schwärmte, wenn er abends nach dem Konzert auf knarrender Treppe an der Tür von Familie Mendelssohn vorbeiging, ob denn der Meister an diesem Abend zufrieden gewesen wäre.
Als Verein, Stiftung, Museum und Konzertsalon nur kühne Träume waren, sprach ja das Bild an der Goldschmidtstraße für sich: in Mendelssohns Wohnung war ein Fotolabor, im Hof eine Auto-Werkstatt, das Haus war vom Zahn der Zeit angenagt, grau geworden, aber immerhin erhalten geblieben!
Masur und Leipzig, eine alte Liebe
In der Konzeption des neuen Opernhauses Ende der 1950er Jahre, seines künftigen Ensembles und des Spielplans wurde diskutiert, ob es ein eigenes Opernorchester geben sollte, so erzählte es der Musikdramaturg Dr. Dietrich Wolf. Man entschied sich für die Leipziger Musiktradition – das Gewandhausorchester spielte nun auch im Opernhaus.
Kurt Masur war in den 1950er Jahren Kapellmeister der Leipziger Oper, die damals und bis zur Eröffnung des Opernhauses 1960 am Karl-Marx-Platz, dem heutigen Augustusplatz, im Haus der heutigen Musikalischen Komödie spielte.
Er dirigierte 1959 erstmals das Gewandhausorchester, 1970 übernahm er das Amt des Gewandhauskapellmeisters. Später stand Kurt Masur in den 1980er Jahren wieder als Dirigent im Orchestergraben bei Richard Wagners „Tristan und Isolde“. In der kleinen DDR gab es großartige Leipziger Wagner-Sänger: Sigrid Kehl als Isolde und Klaus König als Tristan, Ekkehard Wlaschiha als Kurwenal.
Über die Jahre gab es auch eine Distanz über den Augustusplatz hinweg. Als die Karl-Marx-Universität Kurt Masur den Doktortitel ehrenhalber verleihen wollte, der nicht Mitglied der SED war, soll aus dem Opernhaus über das Zentralkomitee der SED der Rat an die Universität gegangen sein, doch auch den Generalintendanten der Leipziger Theater, ZK-Mitglied, Karl Kayser zum Ehrendoktor zu machen. Und so kam es dann auch.
Tempel der Musik
Kurt Masur zitierte öfters Worte, die Yehudi Menuhin über das Gewandhaus gesagt hatte, als er den Großen Saal kennengelernt hatte: „Ein Tempel der Musik!“
Nach Kurt Masurs Abschied als Gewandhauskapellmeister, und Ernennung zum Ehrendirigenten, gab es mannigfaltige Veranstaltungen auf dem Podium, die es in Kurt Masurs Amtszeit vielleicht nicht gegeben hätte. Aber hätte er, der ja auch in jungen Jahren in der Tanzmusik tätig gewesen sein soll, und durchaus Jazz-Stars ins Haus holen ließ, nicht auch zum Beispiel eine Milva auftreten lassen? Oder Gilbert Becaud? Später geschah es, und es passte.
In diesem Tempel der Musik gab es mannigfaltige Verbindungen zwischen „u“ und „e“. Zur Messewellen-Amessements-Hitparade kreierten die academixer-Kabarettisten einen Titel über das Gewandhaus, Katrin und Jürgen Hart sangen: „Ich rubbe derheeme gerade änne Wand raus. / Da kommt meine Gleene, / holt sich ä Gewand raus. – ‚Komm wasch Dir die Loden und mache den Sand raus, wir gehen heute ins schöne Neue Gewandhaus!’ / … Jetzt dürf mer nicht reden!’ / Masur streckt die Hand aus!“
Gewandhaus und Kabarett waren nämlich sogar planwirtschaftlich miteinander verbunden. In der DDR, in der alles geplant war, auch die Plan-Übererfüllungen, wurde manchmal „gegaubelt“. Und so hatten zwei städtisch angestellte Kabarettisten bzw. Schauspieler Planstellen im Gewandhausorchester!
Hier geht’s weiter mit Teil 2 auf L-IZ.de.
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