Wenn du die Kraft in dir dazu spürst, dann tu es. So ungefähr könnte das Lebensmotto von Michael Oertel lauten. Als es darum ging, ein Domizil für den Mehrweg e.V. zu suchen, kniete er sich mit Freunden und Mitstreitern mit aller Kraft hinein. Heute ist der „WolkenSchachLenkWal“ im W.-Külz-Park am Völkerschlachtdenkmal vielen Leipzigern ein Begriff. Aber was macht der Bursche nun im Krankenhaus? Auch noch freiwillig?
Dass er nicht stillsitzen kann, wissen alle, die mit ihm zu tun haben. Deswegen war auch klar, dass ihm die geglückte Landung des „WolkenSchachLenkWals” nicht genügen würde. Immerhin war das Ganze immer als Mach- und Mitmachprojekt gedacht. Vor allem für Kinder aller Art.
Deswegen bot und bietet der rührige Verein nicht nur Aktionen im bunt gestalteten Areal in der Nähe des Völkerschlachtdenkmals, sondern machte auch bei Kinderfesten in der Uni-Kinderklinik mit. Immer gern gesehen, denn wenn Oertel und seine Mitstreiter dort die Spiele, die Bühne, die Puppen auspackten, war Stimmung angesagt. Die kleinen Patienten hatten Spaß, die Schwestern freuten sich.
Aber Michael Oertel kommt nicht einfach nur, macht Spaß und packt wieder ein. Wenn er schon mal da ist, redet er auch mit allen: mit den kleinen Patienten, mit den Schwestern und – wenn sie mal einen Moment Zeit haben – auch mit den Ärzten. Das Sprechen ist ihm Lebenselexier. Deswegen sind auch die sieben Bücher, die er mittlerweile veröffentlicht hat, eigentlich Teil eines großen Angebots an seine Leser: Sprechen wir drüber!
Und zwar nicht über die einfachen und schönen Dinge im Leben. Das kann ja jeder. Sondern auch über das Schwere: das Traurigsein, das Ratlossein, das Armsein. Er kennt das alles, weil es auch jahrelang sein Arbeitsfeld als Sozialbetreuer war.
Und weil er sich dort immer auch für den Kummer der jungen Menschen interessiert hat, mit denen er es zu tun bekam. Ein stures Verwalten der sozialen Probleme findet er schrecklich. Sozialarbeit ergibt nur Sinn, wenn man wirklich Tag für Tag den Mut hat, hinzugehen zu den Anvertrauten und ihre Probleme und Kümmernisse ernst zu nehmen.
Er kann nicht anders. Und er schließt damit Herzen auf.
Er hat ja nicht nur so „schwere“ Bücher geschrieben wie das „Tagebuch eines Depressiven“, sondern auch die ein wenig märchenhafte und liebevoll illustrierte Geschichte von „Helfe-Elfe Magda in Ostfriesland“. Ein bisschen steckt er ja selbst in dieser Helfe-Elfe.
Irgendwann wurde aus den freundlichen Gesprächen in der Kinderklinik eine Einladung für ihn selbst. Warum sollte er aus seinem Buch nicht auch einmal ganz allein für die Kinder in der Klinik lesen?
„Das war dann die blanke Katastrophe“, erinnert er sich an diesen Tag in der Cafeteria, bei dem sich alle unwohl fühlten – der Autor genauso wie die Kinder, die in ihren Bademänteln in diesem lauten, eigentlich gar nicht so gemütlichen Raum saßen. Stimmung kam da gar nicht auf.
„Das ging so gar nicht. Die Kinder fühlten sich unwohl. Mir ging es nicht gut dabei.“ Die Situation musste sich ändern. Deutlich geborgener werden. „Mir war klar, dass ich – wenn das Vorlesen überhaupt einen Sinn ergeben sollte – zu den Kindern auf Station musste“, erzählt Oertel. Und es klappte.
Auch wenn das erste o.k. der Klinikleitung wohl eher so ein „Probieren wir’s mal“ war. Aber die Schwestern, gerade die jüngeren, waren Feuer und Flamme. Sie haben ja jeden Tag mit den kleinen Patienten zu tun und wissen, welche vielleicht ein bisschen Trost und Hilfe brauchen. Oder Aufmunterung. Denn Krankenhaus ist ja nicht nur für Erwachsene ein Trauma, sondern auch für die Kinder.
Und nur ums Vorlesen ging es dabei nicht, auch wenn Michael Oertel seine „Helfe-Elfe“ immer dabei hat. Sie spielt ja die Hauptrolle dabei. Die Geschichte schafft die Grundlage für das Gespräch. Und damit es nicht nur eine langweilige „Ich lese dir was vor“-Stunde wird, hat Michael Oertel zwei Handpuppen dabei – zwei Helden aus seiner Geschichte, den Wicht und den Maulwurf. „Die werden für die Kinder dann quasi zum Vertrauten. Mit denen können sie reden, da bin ich dann nicht der Ansprechpartner. Ich höre nur zu“, erzählt Oertel.
Wie wichtig diese Rollenteilung ist, hat er schon mehrfach erfahren. Das Rollenspiel hilft auch, die erste Distanz zu überwinden. „Ich bin ja erst mal ein vollkommen unbekannter Mensch. Gehöre eindeutig nicht zu den Eltern und Geschwistern, die sonst mal auf Besuch kommen. Gehöre aber auch irgendwie nicht zum Klinikpersonal.“
Aber das verschafft dem Vorleser auch einen Vorteil: Er bringt eine völlig neue Facette in den Krankenhausalltag. „Auch eine positive“, sagt er. „Denn ein bisschen ist ja meine Absicht auch, dass die Kinder das Krankenhaus nicht nur als schrecklich in Erinnerung behalten.“
Gerade jene Kinder nicht, für die es nicht die letzte Begegnung mit der Kinderklinik ist. Nicht immer weiß Oertel, ob der kleine Patient auch wirklich zuhören möchte. Er kommt ja nicht nach Dienstplan, sondern schwingt sich aufs Fahrrad, wenn die diensthabenden Schwestern ihm Bescheid geben, dass wieder ein kleiner Patient für ihn da sei. Manchmal auch zwei oder drei.
Den Kontakt muss er selbst aufbauen. Und weil er das aber nicht muss, sondern nur möchte, kann er den Kindern die volle Entscheidung überlassen. Nur ein bisschen lesen? Nur mal reinhören in die Geschichte? Einfach Stopp sagen?
Meistens öffnet das die Tür. Gerade bei Kindern, die schon von zu Hause zu viel „Du musst“ mitgebracht haben und vielleicht mit Büchern auch noch keine Erfahrung haben. Nicht in jeder Familie stehen sie im Regal, und nicht alle Eltern lesen vor oder unterhalten sich ganz unverkrampft mit ihren Kindern.
Dass es in einigen Familien auch sehr problematisch zugeht, auch das bekommen die beiden Handpuppen zu hören. Manchmal auch nur der Wicht, den die Kleinen besonders mögen. Ihm können sie auch erzählen, was sie von zu Hause her manchmal beschäftigt und bedrückt.
Und der Erzähler, wie geht er damit um? Denn manchmal begegnet er ja auch den Kindern, die Opfer häuslicher Gewalt wurden. Schicksale, die oft genug auch in der Zeitung zu lesen sind. Aber auch Kindern, die so krank sind, dass sie immer wieder in die Klinik müssen oder noch nie draußen waren in der Welt. Eigentlich hat Michael Oertel damit Erfahrung. „Aber zuletzt habe ich mir doch jemanden suchen müssen, der mir zugehört hat. Wenn wir das Projekt jetzt erweitern, wird es ohne einen Seelsorger nicht gehen“, sagt er.
Denn aufhören will er nicht. Dazu hat er jetzt zu oft erlebt, wie sehr seine Besuche mit „Helfe-Elfe“ den Kindern geholfen haben. Meist lässt er das Buch dann hinterher da, wahlweise auch die CD dazu, auf der auch das Leuchtturmwärterlied zu hören ist. Das können die Kinder sich selbst aussuchen. Eine halbe bis eine ganze Stunde sitzt der Vorleser zumeist am Bett. Und viele Kinder sind hinterher aufgetaut.
Auch wenn sie über Krankheit und Operation meistens nicht sprechen. Aber wer kann das schon? „Helfe-Elfe“ ist dann wie eine kleine Rückkehr in die Welt. Ein Sonnenstrahl von draußen. So sehen es wohl auch die meisten Schwestern und Ärzte. Das Projekt geht weiter. Mit neuer Unterstützung, berichtet Oertel.
Schon 15 freiwillige Vorleser hat er in seinem Umfeld gefunden. Die ersten dürfen jetzt „Assistent“ spielen und lernen. Ziel sei es, so Oertel, künftig in allen drei Leipziger Kliniken mit Kinderstation dieses Angebot machen zu können. Drei Einsatzkoffer mit Handpuppen, Büchern und CDs braucht das. Die Bücher und CDs werden von einem Sponsor aus Dresden finanziert.
„Was mich richtig erleichtert. Denn das ist ja ein wichtiger Teil des Projekts, dass ich das Buch einfach da lassen kann, damit die Kinder auch selbst drin lesen können und es mit nach Hause nehmen als eine schöne Erinnerung ans Krankenhaus“, sagt Oertel.
Der auch gern schon ein zweites „Helfe-Elfe“-Buch mit im Koffer hätte. Aber auch das Leben der Erwachsenen steckt ja voller Unberechenbarkeiten: die Zeichnerin Juliane Kuhnt, die das erste Buch so liebevoll illustriert hat, ist nach einem Fahrradunfall in Neuseeland selbst im Krankenhaus gelandet und vorübergehend arbeitsunfähig. Die Zeichnungen werden also viel später fertig als geplant. Das Buch steckt in der Warteschleife.
Aber das Wichtige ist wohl, dass überhaupt jemand kommt und den Kopf ins Krankenzimmer steckt: Darf ich dir was vorlesen?
Für die L-IZ hat Michael Oertel mal ein Selfie mit seiner Handpuppe, dem Wicht, gemacht. Fotografieren kann er also auch noch. Macht er auch gern und oft. Und manchmal zeigt er die Bilder dann in Ausstellungen.
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