Helene alias Lene Voigt hätte wohl ein paar tröstliche Worte gefunden für ihre Getreuen an diesem 29. Oktober, wenn sie dabei gewesen wäre. Und vielleicht war sie auch dabei, saß still und vergnügt in der Ecke und schaute dem Generationenwechsel zu, der sich beim Wettbewerb um die "Gaffeeganne" der Lene-Voigt-Gesellschaft ankündigte. Zum 16. Mal hatte die Gesellschaft zu diesem Vortragswettbewerb eingeladen, bei dem es auch ein bisschen um Mundart geht.
Denn vorgetragen werden müssen jeweils zwei Texte von Lene Voigt – einer in hochdeutschem Sächsisch und einer in Mundart-Sächsisch. Der Vortrag muss nicht frei sein. Aber mit Ablesen hat bei den 15 Wettbewerben vorher auch noch keiner gewonnen. Kostüm ist auch nicht Pflicht – aber dann und wann haben auch schon Vortragskünstler im phantasievollen Kostüm die extra für den Wettbewerb gefertigte Gaffeeganne gewonnen. Diesmal lockte sie mit Vogelstimmen: Kanarienvögel zierten den dicken Kannenbauch, kleine Anspielung an das Gedicht “Dr Ganarichenvoochel”. Ein Wort, das in München wohl keiner versteht ohne Übersetzung. Aber aus München war auch kein Wettbewerbsteilnehmer angereist. Dafür kamen welche aus Berlin, der Gartenstadt Leuna und aus Eberbach bei Bad Lausick.
Womit man beim Thema wäre, denn von dort kam Roland Kirsten, der schon sieben Mal am Wettbewerb teilgenommen hatte, ein Urgestein von Wettbewerb und Lobbyarbeit für Lene Voigt. Doch sichtlich schon angeschlagen. Die Lebensstürme lassen keinen aus. Auch jene nicht, die in den letzten zehn, zwanzig Jahren tapfer mit Lene-Voigt-Texten auf der Bühne standen und durchs Land reisten. Als sie vor fast 20 Jahren begannen, war Lene Voigt noch eine beinah Vergessene, auch wenn Leipziger Kabarettisten und die emsige Herausgeberarbeit von Wolfgang U. Schütte ihr wieder ein Plätzchen verschafft hatten im öffentlichen Bewusstsein. Sie war wieder da. Und es waren grau gewordene Kinder, die da auf die Bühne kamen. Viele hatten ihre Gedichte noch von Eltern und Großeltern gehört. Und wenn sie nachfragten, wer der Autor sei, bekamen sie zur Antwort: Das ist Volksdichtung.
So ging es auch Gunter Böhnke, Kabarettist und mit der Nr. 2 eines der Gründungsmitglieder der Lene-Voigt-Gesellschaft. Ihn hatte die Gesellschaft an diesem 29. Oktober eingeladen als besonderen Gast. Lene Voigt hat er selbst seit Jahrzehnten im Programm. Auch und gerade ihre kämpferischen Texte. Die hat sie auch. Denn am eigenen Werk hat sie erlebt, mit welcher Verbissenheit Diktaturen nicht nur kritische Dichter verfolgen, sondern auch sächsische Mundart. Warum gerade der NS-Statthalter von Sachsen, Mutschmann, die sächsische Mundart mit Verboten verfolgte, weiß wohl keiner so richtig. Aber ein Grund, so vermutet Böhnke, könnte gewesen sein: Das Sächsische war zu weesche, nicht stramm genug für den deutschen Stiefeltritt. Und nach 1945 blieb’s eigentlich dabei, denn nun hatte der wichtigste Parteifunktionär des Ostens ausgerechnet den Leipziger Dialekt drauf. Die Mundart blieb auf Bühne und in Büchern unerwünscht, auch wenn westdeutsche Transitreisende schnell die Erfahrung machten, wie sich das anhört, wenn sächselnde Vopos zum Öffnen der Kofferklappe aufforderten.
Das sitzt fest bis heute. Und feiert in immer neuen Umfragen zur unbeliebtesten deutschen Mundart fröhliche Urstände. Auch wenn Böhnke von seinen vielen Reisen über die Bühnen der “gebrauchten” Bundesländer zu berichten weiß, dass der Dialekt selbst in Bayern nicht so unbeliebt ist, wie politisch gern behauptet.
Dass er was Besonderes ist, keine Frage. Und das hängt auch wieder mit diesem alten Mutschmann-Verbot zusammen. Lene Voigt schrieb ja ein besonderes Sächsisch – den Leipziger Dialekt. Und sie schrieb nicht einfach das, was andere Leute in Hochdeutsch reimten, in ihrer Mundart. Im Grunde topfte sie die Sprache von Frau Ziedschn und Frau Biedschn um, düngte sie mit Lebensklugheit, Lebenswitz und einer blitzgescheiten Genauigkeit, machte sie dreidimensional und lebendig. Wenn Leute wie Böhnke ihre Texte vortragen, fällt das zuerst nicht auf. Da denkt man: Das ist ein Mann, der steht seit fünf Jahrzehnten auf der Bühne, der holt das einfach aus seinem Bauch, der kann das.
Aber in Wirklichkeit holt er es aus Lene Voigts Texten. Weil’s schon drin steckt. So tief, dass man eigentlich gar nicht vom Blatt ablesen darf, sondern freihändig und freiherzig vortragen muss. Auch manche tapferen Streiter des “Gaffeganne”-Wettbewerbs haben sich über Jahre heillos abgemüht an diesen Texten. Und kamen doch über die erste Dimension, den unübersehbaren Humor, nie hinaus. Aber man lernt ja, die ganze Gesellschaft lernt. Denn die Lene-Voigt-Gesellschaft ist auch ein Forschungsprojekt. So nebenbei entsteht ja – zur Verzweiflung von Verlegern und Herausgebern – die große Lene-Voigt-Gesamtausgabe. Und immer neue Funde tauchen auf, zeigen immer neue Facetten der Dichterin. Weswegen auch die geplante Biografie Jahr um Jahr verschoben wird.
Die neueren Textfundstücke aber wurden ja in Band 5 und 6 (“Mal hier, mal dort” und “Fernes Erinnern”) der Voigt-Ausgabe schon veröffentlicht. Und sie zeigten, dass die Lene Voigt, die über fünf Jahrzehnte nur noch in den schmalen Rowohlt-Bändchen zu haben war, fast nur die Lene Voigt der ersten und der zweiten Dimension war – des offensichtlichen Humors und der zuweilen listigen Leipziger Ironie. Da vergaß man die einfühlsame und zur ganzen Palette der Gefühle fähigen Dichterin beinah, die sehr identisch ist mit jener Frau, die in der kommenden Biografie immer plastischer wird.
Und das war dann wohl auch für die Jury an diesem Abend die Überraschung: Dass sich gleich mehrere Mutige fanden, die sich auch an diese komplexen und wirklich nur auf den ersten Blick einfachen Texte wagten. Zwei Mal zu hören an diesem Abend: “Erkenntnis im Schlafsaal”. Ein Gedicht über unsere Unaufmerksamkeit im Leid, in dem wir das wirkliche Leid der Noch-Schwächeren nicht mehr wahrnehmen. Dass es ausgerechnet zwei Männer waren, die sich an dieses Gedicht wagten, gehört zu den ganz besonderen Perlen dieses Abends.
Was das Pech war für Judith Bürkle, die sich schon 2012 mit fröhlicher Spielfreude den Publikumspreis beim Wettbewerb um die Gaffeeganne erkämpfte. Ein großer Teller, der zu Hause den Ehrenplatz an der Wand hat. Diesmal wagte sie sich an einen der launigen Dialoge der Voigt-Gestalten Ziedschn und Biedschn (“Die neie Sibille”). Und ein gut Teil des Publikums dachte sich da schon: Das fängt ja gut an! – Und es ging gut weiter. Denn mit Holger Wache traute sich dann ein Neuling auf die Bühne, der “De Graniche des Ibigus” in einer schauspielerischen Finesse vorbrachte, wie sie sich auch auf dieser Bühne noch keiner getraut hat. Er war es auch, der sich als Erster an “Erkenntnis im Schlafsaal” versuchte. Und es gut machte. Man merkte, wie da auf einmal ein Stück Betroffenheit im Kabarett Sanftwut war, in dem es ja meist eher frech und frivol zuging.
War das zu toppen? – Jürgen Butze, Gewinner der Vorjahrs, versuchte es mit “Dr Fäng” und “Du”. Er konnte die Sache gelöst angehen, er hat ja daheim seine “Ganne” schon im Buffett. Noch keine Kanne hatte Rainer Krötzsch, Exil-Leipziger, den es nach Berlin-Kreuzberg verschlagen hat, wo er seit sieben Jahren in einem Kindergarten arbeitet. Im letzten Jahr hatte er schon einmal gezeigt, dass er sein Sächsisch auch in der Fremde nicht vergessen möchte. Lene Voigt ist für ihn ein Stück Heimat. Auch weil seine erste Liebe sich mit einem der schönsten Leipzig-Gedichte von Lene Voigt überkreuzt: “Ahmdschdimmunk in Leipzig-Reudnitz”.
Geschrieben hat Lene das Gedicht, als sie in der Nostitzstraße in Reudnitz wohnte. Und da fühlte sich auch Moderator Uwe Rohland um 100 Jahre in das alte, noch nicht so rasende Reudnitz zurückversetzt, als Krötzsch mit faszinierender schauspielerischer Ruhe die von Lene Voigt beschriebene Szenerie aufleben ließ. Naja, und wie er die “Erkenntnis im Schlafsaal” vortrug, war das eigentlich keine Frage mehr: Er würde bei der Juryentscheidung eine Rolle spielen. Auch weil er mit beiden Texten so konsequent die andere, die nachdenkliche Dichterin lebendig werden ließ.
Gaggaudebbchen 2013: Drei Debbchen, 24 Mutige und ‘ne arme Gogosbalme
Natürlich ist der Wurm drin …
Mit Abbelmus und Pudelmütze: Die Gaffeeganne 2012 holte sich Jürgen Butze
Ein bisschen ist es an diesem Abend …
Wenn’s Lehrerinnen wissen wollen: Die Gaffeeganne 2011 geht an Katja Rauchhaupt
Ein lauer Herbstabend war’s …
Am Ende hat er die Gaffeeganne 2013 dann auch gewonnen. Auch wenn die Jury diesmal wirklich zu knobeln hatte. Nicht so sehr über die gestandenen Wettbewerbsteilnehmer, die sich auch trotz gesundheitlicher Malaisen auf die Bühne wagten. Nicht nur Roland Kirsten, für den die Gedichte “Spätsommerglück” und “Stoßseufzer eines Ehemannes” auch eine Liebeserklärung an seine Lebensgefährtin waren, auch Martin Langer und Nortrud Hannes bewiesen Tapferkeit im Alter. Ein Höhepunkt des Abends war auch Fred D. Turrak, gebürtiger Niedersachse, der aber gleich mit Gitarre auf die Bühne kam. Er hat zwei Voigt-Gedichte – “Nu grade” und “Straße der Kindheit” – in zwei echte Liedermacher-Songs verwandelt. Und gerade mit “Nu grade” hat er gezeigt, wie viel Trotz, Selbstbestärkung und Eigensinn in diesem Voigt-Text steckt, gültig nicht nur für Sachsen. Und heute so modern wie in der sauren Zeit, in der Lene Voigt lebte.
Dass Rainer Krötzsch die Gaffeeganne bekommt, darin war sich dann die Jury am Ende einig. Dafür wurde es – bei der dargebotenen Qualität eigentlich zu erwarten – richtig knapp beim Publikumspreis. Da wurden die Stimmzettel lieber zehn Mal ausgezählt. Am Ende gab’s 17 Stimmen für den Drittplatzierten, 19 für den Zweiten und 20 für die Erste. Und das war natürlich Judith Bürkle, die damit die erste Besitzerin zweier schöner Teller ist, die ihr das Publikum des Lene-Voigt-Wettbewerbs zuerkannt hat. Eine Ehrengaffeeganne gab’s auch noch. Die bekam Prof. Karl-Heinz Röhr, der sich auch im Ruhestand eifrig um Popularisierung der sächsischen Mundart bemüht.
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